2 - Isabella
Unruhig schlage ich mit dem Kugelschreiber gegen den Block auf meinem Tisch und beiße auf meiner Unterlippe herum, während ich nachdenklich nach draußen starre. Das leise Tuscheln meiner Mitschüler und die lautere Stimme des Lehrers lassen mich kalt, meine Gedanken sind einzig und allein bei demJungen aus der Mittagspause. Sportlich begabt, gutaussehend, mysteriös und eingebildet. Warum fällt er niemandem hier auf? Warum ist er auch mir noch nie aufgefallen? Ich weigere mich zu glauben, dass ich ihn mir nur eingebildet habe, auch wenn er sich direkt vor mir wortwörtlich in Luft aufgelöst hat. Oder ich hatte einen Sekundenschlaf und habe nicht registriert, wie er gegangen ist, was wahrscheinlicher ist. Das würde aber zwangsläufig auch bedeuten, dass er irgendwo sein muss. Die Frage ist nur wo.
Nachdem es zum Ende des Unterrichts geklingelt hat, stopfe ich meine kargen Mitschriften in meine Tasche und verlasse hinter den anderen die Schule. Als ich bei meinem Auto ankomme, sitzt darin der Junge und dreht an den Lautstärkereglern und drückt Knöpfe ohne zu mir aufzuschauen, auch wenn ich mir sicher bin, dass er mich bemerkt hat. Verunsichert will ich die Tür öffnen, doch es scheint abgesperrt zu sein. Wie ist er dann dort hinein gekommen, wenn er es nicht aufgesperrt oder aufgebrochen hat? Nachdem ich aufgeschlossen habe, lasse ich mich auf den Fahrersitz sinken und starre aus der Frontscheibe, beobachte ihn dabei jedoch unauffällig aus dem Augenwinkel.
„Wie bist du hier hinein gekommen?",frage ich ihn unruhig, meine Finger sind so fest um das Lenkrad verkrampft, dass meine Knöchel weiß hervor stechen.
„Es gehört nicht dir. Du hast es nur gemietet, bis dein neues endlich ankommt."
„Was?"
„Unwichtig."
„Du bist in mein Auto eingebrochen, das ist nicht unwichtig! Was willst du überhaupt von mir?"
„In Erfahrung bringen, weshalb du mich sehen kannst."
„Weil ich bin wie..."
„Nein, bist du nicht. Ich bin tatsächlich unsichtbar, du hast nur keine Sozialkontakte", unterbricht er mich mit kühlem Ton und lehnt sich zurück, während er das Innere des Autos neugierig mustert,als hätte er derartiges noch nie gesehen.
„Na vielen Dank auch."
Ungerührt schaut er mich an und verschränkt die Arme hinter dem Kopf, bevor er gähnt und die Lider schließt. Ich seufze schwer, starte den Motor und schaue ihn danach abwartend an.
„Würdest du aussteigen oder muss ich dich hinaus werfen?"
„Versuche es!", knurrt der Junge, ich glaube zu erkennen, dass sein Gesicht schwach funkelt. Der drohende Ausdruck in seinen dunklen Augen verwirrt und fesselt michzugleich. Sie könnten gleichermaßen zu einem Reh und einem Wolf gehören, friedvoll und doch gefährlich.
„Kann ich gerne tun."
Das Glitzern auf seiner Haut weitet sich zu kleinen Eisdornen aus, weshalb ich erschrocken zurückweicheund ihn ängstlich betrachte.
„Ich glaube ich habe Halluzinationen!", wispere ich und strecke meine Hand nach einem Eisdorn, der ihm aus dem Handrücken gewachsen ist, aus.
„Wenn ich du wäre, würde ich das sein lassen."
Ich lasse mich von ihm nicht beirrenund berühre vorsichtig eine der Spitzen, wenn man es denn eineBerührung nennen kann. Nur ein kleiner Teil meiner Haut hat da Eisberührt, doch sofort fange ich dort an zu bluten und die Kälte, dievon dem gefrorenen Wasser ausgeht, breitet sich für einen kurzenMoment in meinem gesamten Körper aus. Ein Tropfen meines Blutesfällt auf das Eis, doch statt dort einen unförmigen roten Fleck zuhinterlassen, rinnt es in das Innere des Eises hinein wie durch einenKanal. Schockiert betrachte ich erst meine Hand und danach ihn, bevormein Blick auf das Eis fällt.
„Du kannst nicht behaupten, ich hättedich nicht gewarnt."
Sein Aussehen normalisiert sich wieder,als er sich zu mir hinüber lehnt und den Blick über all dieZahlenfelder schweifen lässt.
„Du solltest den Motor abstellen."
Da es nicht so wirkt, als würde er innächster Zeit aussteigen, befolge ich seinen Ratschlag und wendemich ihm zu.
„Was und wer bist du?"
„Ich kann dir auf keine deiner beidenFragen eine Antwort geben. Nicht, weil es mir verboten ist, sondernweil ich es selbst nicht weiß. Ich trug nie einen Namen wie du,Isabella, und für mich gab es nie eine Bezeichnung."
„Hiermit ist es offiziell! Ich werdewahnsinnig."
„Nun... ich würde dem grundsätzlichnicht widersprechen, doch in diesem Kontext liegst du wohl falsch.Ich existiere und du bildest dir mich nicht ein, ich wünschte, eswäre so. Dann wäre ich nicht mit der Frage gequält, weshalb dumich sehen kannst."
„Also hast du es wörtlich gemeint,als du gesagt hast, du wärst unsichtbar?"
„Natürlich! In der Menschenweltwürde ich nicht so schnell übersehen werden."
„Wahrscheinlich...", murmle ich undmustere ihn nochmals von oben bis unten. Sein fein gemeißeltes Kinnlässt ihn gewissermaßen kindlich wirken, doch der ernste Ausdruckin seinem Gesicht verstärkt die Kanten seiner Wangenknochen und lässt seine Augen noch dunkler wirken, als sie tatsächlich sind. Erscheint mit der Mode zu gehen, da seine aschfahlen Haare seitlichkurz rasiert und oben aufgestellt sind, seine Klamotten hingegen sindzeitlos. Seine Schultern sind nicht gerade breit – sein gesamterKörper ist schmal gebaut – und doch wirkt er nicht schwach odergebrechlich. Er scheint keine trainierten Muskeln zu haben, unddennoch wirkt er stark, als würde er ohne Einwände zustimmen, sichmit dem Teufel selbst zu messen. Er vereint dutzende Gegensätze insich, würde ich genauer ins Detail gehen, wären es vermutlich nochunzählige mehr. Vielleicht ist es das, was mich an ihm sofasziniert, was dafür sorgt, dass ich ignoriere, dass ich ihnfürchten sollte. Als mein Blick auf seine Augen fällt, zucke ichungewollt zusammen. Sein forschender Blick jagt mir eine Gänsehautden Rücken hinunter, weshalb ich mich nervös räuspere und wiederauf meinen Platz zurück sinke.
„Was war das?", fragt er und schautnach draußen.
„Ich habe keine Ahnung...",flüstere ich und suche dabei nach einer Erklärung, die mich selbstbefriedigt. Warum habe ich ihn so gemustert? Warum habe ich nichtbemerkt, wie er mich anschaut? Als Shindy, eine hübsche Inderin, dieeinen Jahrgang über mir ist, an meinem Auto vorbei hastet, stiehltsich ein Grinsen auf seine schmalen Lippen, das bei mir für eineerneute Gänsehaut sorgt. Nachdem ich einmal geblinzelt habe, sitzter nicht mehr neben mir, sondern steht neben ihr an ihrem Auto, einemalten Pick-Up. Erst jetzt fällt mir auf, wie groß er tatsächlichist. Sie scheint ihn nicht zu registrieren, doch als er den Kopf schieflegt, leuchtet an ihrem linken Oberarm ein Tattoo blau auf, das ichbisher nie bemerkt habe. Aus der Entfernung kann ich das Motiv nichterkennen, doch das selbstzufriedene Grinsen des Wesens ohne Namenlässt mich erahnen, dass es etwas damit zu tun hat. Der Jungeschleicht um Shindy herum, während sie in ihrer Tasche nach ihremAutoschlüssel sucht. Als er auf einmal wieder neben mir sitzt undeinen Schlüssel auf dem Armaturenbrett ablegt, starre ich ihn wütendan.
„Gib ihn ihr zurück! Wenn dichniemand sieht, werde ich als die Diebin angeprangert!"
„Du wolltest doch nicht mehrunsichtbar sein", spottet er und steckt die Hände in die Taschenseiner dunkelbraunen Lederjacke, von der ich mir sicher bin, dass ersie vor wenigen Stunden noch nicht getragen hat.
„Aber doch nicht auf diesem Weg! Duhast echt keine Ahnung", brumme ich gereizt und spüre seinen Blicksofort auf mir liegen, den ich jedoch gekonnt ignoriere. Nach einigenSekunden des Schweigens seufze ich auf und fahre mir mit er flachenHand über das Gesicht, bevor ich mit Daumen und Zeigefinger meinenNasenrücken zusammendrücke und zu ihm schaue. Er ist also nichtsonderlich begabt im Umgang mit Menschen.
„Gib ihr bitte den Schlüsselzurück", frage ich mit säuselndem Unterton und klimpere mit denWimpern. Hoffentlich reagiert er auf sowas wie die Jungen aus meinemJahrgang, doch bei ihm scheint das Gehirn nicht derart tief angesetztzu sein, da er lediglich die Augen verdreht und den Blick auf Shindyrichtet.
„Hast du mit diesem Tattoo zu tun?"
„Es ist keines. Eher eineMarkierung."
„Etwa so, wie Hunde ihr Revier markieren?"
„Nein, eher so, wie man sich beimLesen die Seite, bei der man stehen geblieben ist, einmerkt."
„Ich muss verrückt geworden sein,das alles kann doch gar nicht wirklich passieren. Es ist zu unrealistisch, um eine andere plausible Erklärung zu haben!"
„Glaube, was du willst. Ob ich fürdich existiere oder nicht, wird keinen Unterschied machen."
„Warumbist du dann hier?"
„Weil diese Gleichung nicht in beideRichtungen funktioniert. Ob du existierst oder nicht macht für michdurchaus einen Unterschied, wobei das eher an deiner Gabe als an dirals Person liegt."
„Könntest du jetzt bitteaussteigen?"
Da er plötzlich nicht mehr neben mirist, atme ich erleichtert auf und lege den Kopf in den Nacken. Dasunsichtbare Mädchen redet mit jemandem, der tatsächlich unsichtbarist. Welch Ironie. Kopfschüttelnd starte ich den Motor erneut undfahre auf die Straße. Noch eineinhalb Jahre, die ich hin und herfahren muss. Noch eineinhalb Jahre, in denen ich für meineMitschüler unsichtbar sind. Noch eineinhalb Jahre, bis ich meinAbitur in der Tasche habe und mein Leben tatsächlich beginnt. Wäreich nicht später eingeschult worden, wäre es nurmehr ein halbes,aber ich bin erst mit sieben von England nach Deutschland gezogen,genauer gesagt nach Bayern, in ein kleines Dorf, nicht all zu weitvon München entfernt.
„Menschen sind merkwürdige Wesen",seufzt der Junge, weshalb ich zusammenzucke und in den Rückspiegelschaue. Ist er die gesamte Zeit dort hinten gesessen?
„Ich dachte du wärst weg!"
„Für dich war ich nicht mehr da,sobald du mich nicht direkt gesehen hast, wenn du zur Seite geschauthast. Ich würde sagen, dass das zählt."
„Jetzt weiß ich aber, dass du dabist, also ist das verflogen. Geh!"
Er gähnt demonstrativ, öffnet jedochdie Tür und steigt tatsächlich aus. Sobald die Tür zu ist, fahreich direkt los. Es wird Zeit, dass ich heim komme!
Ich fahre mein Auto in die Garage undkrame in meiner Handtasche nach meinem Haustürschlüssel, erstarrejedoch in der Bewegung. Dieser Junge ist ein übernatürliches Wesenund ich hätte die Chance dazu gehabt, mich näher mit ihm zubefassen! Warum habe ich mir das entgehen lassen? Ich kann nurhoffen, dass er nicht so schnell aufgeben wird, sonst würde ich mirselbst in den Hintern beißen. Etwas frustriert schüttle ich denKopf und ziehe die Haustür hinter mir ins Schloss, bevor ich meineSachen im Windfang hinwerfe und in die Küche durchgehe. Ich stelleeine Glasschüssel mit Resten von gestern in die Mikrowelle und setzemich danach im Schneidersitz auf den Tisch, meine Hausaufgaben habeich auf dem Schoß. Was sollte ich auch sonst machen? Ich habe keineFreunde mehr und will auch nicht alleine irgendwohin gehen oderfahren. Das alles war einfacher, als ich noch einen Freund hatte. Erwar beliebt und hat mich somit auch zu den Königlichen befördert,zu denen, die sich fast alles erlauben können und das aus demeinfachen Grund, dass sie von allen gedeckt und unterstützt werden.Aber mit der Trennung waren auf einmal auch die Freunde weg. Immerhinhabe ich gelernt, dass die Freunde, die man zu haben glaubt, wenn manbeliebt ist, meist nur falsch sind. Sie wollen sich an das anhaftenwas man hat, ist das jedoch vorbei, sprechen sie nicht mehr miteinem. Als die Mikrowelle mit einem Piepen signalisiert, dass der Timer abgelaufen ist, lege ich meinen Block und das Buch beiseite.
Nachdem ich gegessen habe, mache ichnoch meine restlichen Hausaufgaben und gehe danach nach oben in meinZimmer. Irgendwas muss es doch über dieses Wesen zu finden geben...und ich sollte mir langsam mal überlegen, wie ich ihn nenne, dadiese Umschreibungen mir bereits auf die Nerven gehen. Vielleichtsollte ich erst einen Namen suchen und danach kann ich weiterschauen, wie ich irgendwas über ihn finde, da er bereits angedeutethat, dass die Menschen nichts von ihm wissen, sonst gäbe essicherlich mindestens eine Bezeichnung.
Nach über einer Stunde der Recherchebin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es keinerlei Informationenüber Acar gibt, wie ich beschlossen habe ihn zu nennen. Da „Acar"albanisch für Frost ist, erschien mir das irgendwie passend.Jedenfalls gibt es im gesamten Internet nichts über ihn, nurLegenden über Jack Frost, aber der ist er ziemlich sicher nicht.Also muss ich wohl alles über ihn direkt von ihm erfahren. Ein altesWesen – ich gehe einfach davon aus, dass er eines ist – dürfteviel Wissen angesammelt haben, das mir irgendwann vielleicht vonNutzen sein könnte, die Frage ist nur, wie ich ihn finden soll. Ichwage zu bezweifeln, dass er noch bei der Schule ist, andererseitshabe ich jedoch keinerlei andere Anhaltspunkte und er hat selbstgesagt, dass er wissen will, warum ich ihn sehen kann, also wäre esdenkbar, dass er will, dass ich ihn finde, wenn ich ihn suche. Oderist diese Denkweise zu menschlich? Acar bringt mich aus dem Konzeptund muss dafür nicht einmal anwesend sein, das muss man erst einmalschaffen. Seufzend stelle ich meinen Laptop beiseite und trete an dasFenster. Es hat wieder begonnen zu schneien, dicke Flocken fallenlangsam zu Boden und legen sich dort auf Äste, Blätter und Gräserwie ein weißer Mantel, weshalb ich den Blick hebe und in den Himmelschaue. Es ist schon den gesamten Tag über trüb gewesen, aber diedicke Wolkenschicht dort oben lässt kaum Sonnenstrahlen durch,weshalb ich ungewollt beginne zu frösteln. Eigentlich mag ich denWinter, doch wenn man alleine ist, hat man eindeutig weniger Spaßzwischen Schnee und Eis. Die Kälte erscheint einem auf einmallästig, die vereisten Straßen, über die man noch vor wenigenJahren lachend geschlittert ist, sind ein Hindernis. Gähnend zieheich meine Strickjacke enger um mich und schreibe mit dem Zeigefingerein „Hey" an die beschlagene Scheibe, auch wenn ich mir nichtsicher bin, weshalb. Vielleicht sollte ich nochmal zur Schule fahrenund dort nach Acar Ausschau halten. Ob ihn die Kälte wohl stört?Ich wende mich von dem Fenster ab, als ich ein leises Quietschenhöre, drehe ich meinen Kopf jedoch doch nochmal in die RIchtung. Untermeiner Begrüßung steht ein kleines „Hallo" geschrieben, von demaus sich Eisblumen an den Fensterrahmen ranken. Ein vereinzelterLichtstrahl bricht durch die Wolkendecke und fällt auf das Eis, dasdaraufhin wunderschöne Regenbögen an die weiße Wand meines Zimmerswirft, weshalb ich schwach lächle und beiseite gehe, um nichts vondem schönen Spektakel zu verdecken. Leider schieben sich schon nachKurzem wieder Wolken vor die Sonne, weshalb ich den Kopf schüttleund mit der Hand über die Eisblumen streiche, die erstaunlicherweiseinnen sind. Das kann nur Acar gewesen sein! Hektisch drücke ich miteiniger Anstrengung den Griff nach oben – das Schloss istvermutlich auch eingefroren gewesen – und reiße das Fenster auf.Der Schneefall wird stärker und ein Windstoß trägt einige derFlocken in mein Zimmer. Ich kneife die Augen ein wenig zusammen undhalte im Garten nach ihm Ausschau. Er ist zwar nicht im Garten aberauf der anderen Seite des Zaunes, hinter dem große Felder liegen. Erhat sich an die Holzlatten angelehnt und lässt einige der Sterne ausgefrorenem Wasser in Formen um seine Hand herum wandern. DieSchneeflocken, die in seinem Haar hängen, reflektieren das schwache Licht und bringen es zum glitzern, was ihn irgendwie nochunrealistischer wirken lässt, als seine marmorne Haut ohne jeglichePoren es tut . Eine solche Haut wäre wohl ein Traum für jedesMädchen in meinem Alter. Erst bin ich am Überlegen, ob ich nach ihmrufen soll, ich entscheide mich jedoch letztlich dagegen, schließedas Fenster und gehe nach unten, wo ich in meine Winterstiefelschlüpfe, zu ihm hin stapfe und ihm gegen die Schulter tippe,woraufhin er lediglich sein Gesicht in meine Richtung dreht.
„Willst du nicht lieber rein?",frage ich schlotternd. Mir ist kalt und ich bin bereits jetzt nass, keinesonderlich gute Kombination.
„Mir macht die Kälte nichts, eher imGegenteil", winkt er ab, woraufhin ich die Augen verdrehe und meineHand direkt auf seine Schulter lege. Er zuckt bei der Berührungschwach zusammen und dreht sich diesmal vollständig zu mir um.
„Komm mit rein", sage ich diesmalmit festerem Ton, woraufhin er grummelnd den Kopf schüttelt, aberdennoch über den Zaun klettert und mir durch die Hintertür in dasWohnzimmer folgt, das bis vorhin noch warm war. Ich hätte die Türschließen sollen. Er scheint sich nicht sonderlich wohl zu fühlen,äußert sich jedoch auch nicht dazu, weswegen ich so tue, als würdeich es nicht bemerken.
„Was willst du von mir?", fragt er,während sein Blick so schnell über die Einrichtung huscht, dass mirschwindelig dabei wird, als ich versuche, seinem Blick zu folgen.
„Das könnte ich dich genauso gutfragen. Warum warst du dort draußen?"
Da er darauf nichtreagiert, knirsche ich leise mit den Zähnen und verschränke dieArme vor der Brust, erkenne aber daran, dass er eine abweisendeHaltung einnimmt, dass ich mich ruhig verhalten sollte, wenn ichbrauchbare Antworten erhalten will.
„Wenn ich dir antworte, wirst du mirauch eine Antwort geben?", frage ich vorsichtig, woraufhin er mirdirekt in die Augen schaut, seine Gesichtszüge sind noch immer sokühl, dass mich diese Geste eher zum frieren bringt, als es dieKälte vermögen würde.
„Lassen wir es darauf ankommen",flüstert er und verengt die Augen ein wenig, bevor er sich wiedervon mir abwendet und mit einer Hand vorsichtig über einen Heizkörperstreicht.
„Ich habe wohl keine Wahl. Also...ich hätte gerne Antworten von dir. Darüber, was du bist und was duhier machst. Grundlegende Dinge eben, fürs erste."
„Du verlangst also Antworten aufFragen, die du noch nicht einmal zu stellen vermagst?"
„Ich...was?"
„Du willst Antworten, weißt jedochnicht, wonach du fragen sollst und wie weit mein Wissen geht. Waserwartest du dir davon?"
„Wissen, würde ich sagen. Ein Mittelgegen Langweile könnte es jedoch auch sein."
„Somit verschwendest du alsovorsätzlich meine Zeit. Meiner Meinung nach schon immer eine Lückein den Gesetzen der Menschen, dass es für derartige Delikte keineStrafe gibt."
„Also bedeutet das, deine Zeit istbegrenzt?"
„Ich bin schon lange auf dieser Welt,was jedoch nicht bedeutet, dass meine Zeit niemals enden kann",antwortet er vage und kreist mit den Schultern. Er weiß selbstnicht, ob ihm der Tod erspart wird oder er – wie ein Mensch –sterblich ist.
„Und was ist „lange" in deinenAugen?"
„Ich habe die ersten Säugetiere aufder Erde miterlebt, habe die Entwicklung dieser zu Menschenmitverfolgt und habe in dem Zeitfenster, das ihr als Mittelalterbezeichnet, dafür gesorgt, dass es als dunkles Zeitalter gilt."
„Wow, das ist tatsächlich lange...",murmle ich und versuche mich daran zu erinnern, wie lange es her ist,seit die ersten Säugetiere die Erde bevölkert haben, doch mir fälltes beim besten Willen nicht ein. Das was mich jedoch mehrbeschäftigt, ist seine Faszination, die während der Mittagspause sooffensichtlich war. Ich scheine der erste Mensch zu sein, der ihnsehen kann, wie hat er es dann also all die Jahre alleineausgehalten? Dieses Wissen würde mir vermutlich mehr helfen alsalles andere, was er mir erzählen kann.
„Menschen sind anders veranlagt, dukannst kein Leben führen, wie ich es tue. Egal wie sehr du dichanstrengst."
„Habe ich etwa meine Gedanken lautausgesprochen?"
„Nein, das war nicht nötig."
Ich seufze schwer, bin mir jedoch nichtsicher, ob ich es tue, weil ich so leicht zu durchschauen bin oderweil diese Option für mich wegfällt. Mit einer Handbewegung zeigeich ihm, dass er mir folgen soll, bevor ich wieder nach oben in meinZimmer gehe. In Kürze sollten meine Eltern aus ihrer gemeinsamenPraxis heimkehren und wenn sie mich dort unten sehen würden, wie ichscheinbar mit mir selbst spreche, wäre ich wohl schneller als ichschauen kann selbst einer ihrer Patienten. Sie haben vor einigenJahren eine gemeinsame psychiatrische Praxis eröffnet und ich geheihnen seitdem großteils aus dem Weg, da ich ansonsten dauerndpsychoanalysiert werde. Auch wenn sie das nicht absichtlich machen,ist es mir irgendwie unheimlich und wenn ich einen Psychiater wollenwürde, würde ich mir einen suchen.
„Kannst du noch mehr als das, was duim Auto gemacht hast?", frage ich beiläufig und öffne die Tür zumeinem Zimmer. Ich bin mir nicht sicher, wie viel er meinen Blickenansehen konnte, weshalb ich möglichst schnell davon ablenken will.
„Ja."
„Und zwar?"
„Ich kann Menschenkontrollieren, genau genommen deren Schicksale."
„Anhand deines Aussehens würde ichdavon ausgehen, dass das nicht immer in eine positive Richtunggeht..."
„In den seltensten Fällen, zumindestaus meiner Perspektive betrachtet."
Fast schon gelangweilt setzt er sich imSchneidersitz auf mein Bett und beobachtet mich aufmerksam, als wäreich eine neue Spezies, die es zu entdecken gilt. Ich fühle michunwohl unter seinem stechenden Blick und halte mich möglichst weitvon ihm entfernt, indem ich mich auf den Stuhl an meinem Schreibtischsetze. Um ihn herum haben sich einige wenige Eisblumen auf der Deckeausgebreitet, doch sein Blick lässt mich davon ausgehen, dass dieswohl eher kein Versehen war. Seufzend verdrehe ich die Augen undfalte die Hände in meinem Schoß.
„Das, was du tust, ist also..."
„Weder gut noch böse", unterbrichter mich und schließt die Augen.
„Du zerstörst die Leben vonMenschen!", knurre ich aufgebracht und verschränke mit vor Wutlodernden Augen die Arme vor der Brust. Das ist doch wohl einschlechter Scherz!
„Halt dein Temperament im Zaum oderich werde es tun."
„Ist das dein Ernst? Löst du sodeine Probleme? Man sollte meinen, als Jahrtausende alter Menschsollte man dazulernen."
„Ich bin kein Mensch."
„Wenndas das einzige Problem ist."
„Nicht alles, was böse scheint, istes auch. Meist bedeutet es nur, dass du es lediglich aus einemanderen Blickwinkel betrachten musst, um das Gute darin sehen zukönnen. Ändere ich das Schicksal einer Person zum negativen,eröffnet das vielen anderen neue Möglichkeiten."
„Und das rechtfertigt dein Handeln?"
„Erinnerst du dich an die Beförderungdeines Vaters und einiger anderer Mitarbeiter, nachdem sich jemandaus dem Vorstand umgebracht hat?"
„Schon, das hat uns aus unserenSchulden gerettet... warum?"
„Hältst du das für einen Zufall?Die wenigstens Menschen bringen sich tatsächlich aus freiem Willenum."
„Das warst also du, was?"
„Ja."
„Dasrechtfertigt dein Handeln trotzdem nicht."
„Einer starb, um dutzende andere zuretten. In der Steinzeit haben die Menschen Tiere getötet, in derheutigen Zeit, müssen andere sterben. Das bedeutet nicht, dass ichMord unter Menschen fördere – im Gegenteil – doch einer opfertsich für viele andere – wenn auch unbewusst. Meine Manipulationfunktioniert nicht bei jedem und erst die Eisblumen, die du bei derInderin gesehen hast, zeigen ob es wirkt oder nicht. Werden sieabgestoßen, entscheidet der Mensch selbst über sein Schicksal,verschmelzen sie mit der Haut... nun ja, was dann passiert, dürfteklar sein."
„Also kann man deinem Zauber entgehen?"
„Natürlich. Keine Macht istunbegrenzt, auch die meine nicht. Wenn der Wille, der eigene Traumoder die Entschlossenheit groß genug sind, kann man alles abwehren.Was meinst du, worauf all die Legenden und Märchen basieren?"
„Aufden Gedanken, den Ideen und der Fantasie der Menschen, die sieerfunden haben."
„In jedem dieser Gedanken steckt ein FunkenWahrheit, Isabella. Nicht der Mangel an Geld, Nahrung oder Wassertötet einen Menschen, sondern fehlende Liebe. Freunde, Familie, siealle helfen dir. Wenn du ungeliebt bist und niemand dich mag, erstdann entwickelst du das Bedürfnis, dein Dasein zu beenden. Oder eineFehlinterpretation, aber das ist ein anderes Thema."
Ich schaue ihn kurz fassungslos an undsetze mich neben ihn auf das Bett, woraufhin er mich kurz erschrockenanschaut und danach auf einmal Dornen von den Eisblumen hernach oben stehen.
„Hast du etwa Angst vor mir?",frage ich ihn glucksend, woraufhin seine Augen zornig funkeln. Er schnaubt.
„Nein, ich bin es nur nicht gewohnt,dass jemand bewusst auf mich zu kommt", knurrt er und lässt miteiner Handbewegung das Eis in die Luft aufsteigen und zu einereinzigen Schneeflocke zusammenschmelzen, die daraufhin mit seinerHandfläche verschmilzt. Ein schwaches Glühen wandert die Ader anseinem Arm hinauf, bis es dort ankommt, wo sein Herz sitzen sollte,und nach kurzem Verweilen in sämtliche Richtungen verteilt wird unddabei erlischt. Fasziniert beobachte ich das Schauspiel, schüttledanach jedoch den Kopf und konzentriere mich wieder auf ihn.
„Hast du eigentlich einen Namen?",frage ich erneut, da ich mir nicht ganz sicher bin, ob er mich imAuto nicht nur angelogen hat. Doch er schüttelt den Kopf.
„Die Menschen wissen nicht von meinerExistenz, also gibt es für mich keinen Grund, einen Namen zu tragen.Du bist die erste, mit der ich jemals direkt geredet habe."
Ich verstehe nicht ganz, wie er das sogelassen sagen kann. Das klingt so unheimlich einsam, dass es mir dasHerz zusammen zieht, doch ich versuche mir nichts anmerken zu lassen.Auch wenn ich ihn heute erst kennen gelernt habe, bezweifle ich, dasser mein Mitleid haben will. Er scheint allgemein keinen großen Wertauf Emotionen zu legen. Außerdem geht es mir momentan auch nichtrecht viel anders als ihm, auch wenn es noch nicht so lange anhält.Ein wenig frustriert lasse ich mich nach hinten umfallen undbetrachte die Decke über mir, während ich über den weichen aberkalten Stoff meiner Bettdecke streiche. Das alles überfordert michzugegeben ein wenig. Acar scheint sich jedoch auch nicht ganz wohl zufühlen, da er missmutige Blicke auf die leise gluckernde Heizungwirft und immer mal wieder sehnsüchtig nach draußen schaut. Wenn ernicht hier sein will, warum ist er es dann noch? Das kommt mirirgendwie spanisch vor.
„Sag mal... wäre es für dich okay,wenn ich dir einen Namen gebe?", frage ich vorsichtig, da ichvermeiden will, ihn erneut zu reizen.
„Nein."
Ich seufze schwer und verdrehe dieAugen. Er hat schon einen Namen, zumindest für mich, doch ich werdeaufpassen müssen, dass ich es ihm gegenüber nicht erwähne. Werweiß, wie er sonst reagiert. Choleriker sind an sich schongefährlich, aber einer, der zusätzlich auch noch Eisdornen ausseiner Haut wachsen lassen kann? Nicht unbedingt jemand, den manprovozieren sollte.
„Warum?"
„Ein Name macht mich wenigerbedrohlich und greifbarer, etwas das ich schon seit Anbeginnvermeide."
„Okay."
Etwas verwirrt wende ich mich von Acarab und mustere nachdenklich die Wand, als auf einmal ein kalterWindstoß meinen Rücken streift. Als ich mich umdrehe, ist er verschwunden.
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