DAY 6 /2
Nach zwei weiteren Stunden Schlaf an Vitos Seite wache ich auf und fühle mich wie neugeboren. Die Übelkeit ist verschwunden, der Tee und die Erholung haben wahre Wunder gewirkt. Neben mir streckt sich Vito, seine Augen verschlafen, doch als er mich ansieht, huscht ein sanftes Lächeln über sein Gesicht.
Nachdem wir uns beide aus dem Bett gequält haben, folgt ein schnelles Frühstück mit dem Rest der Gruppe und eine heiße Dusche. Ich ziehe warme Kleidung und meinen enganliegenden weißen Schneeanzug an, dann machen wir uns auf den Weg zum Treffpunkt für die Schneemobiltour, der nur wenige Minuten Fahrt entfernt liegt.
Der Guide wartet bereits auf uns. Ein Mann um die vierzig, kräftig gebaut, mit freundlichen Augen unter einer selbstgestrickten, bunten Wollmütze. Sein Lächeln strahlt die Herzlichkeit aus, für die das Salzburger Land bekannt ist.
"Grüß Gott! Ich bin Josef, aber nennt mich Sepp, das tun alle. Schön, dass ihr da seid! Seid's bereit für ein bissl Action?" Er zwinkert, und seine Stimme klingt warm, mit einem typischen österreichischen Dialekt.
Wir nicken eifrig und er geht dazu über, uns in die Bedienung der Schneemobile einzuführen. Er zeigt uns, wie man Gas gibt, bremst, und betont, wie wichtig es ist, sich an die Reihenfolge zu halten und nicht zu nah aufzufahren. "Ich fahr voran, ihr hinterher. Sollte jemand Hilfe brauchen, hebt die Hand, dann komm ich zurück. Is eh nicht so kompliziert - a bisserl Gefühl für Gas und Lenker, dann läuft des."
Nachdem wir alle eine kurze Testfahrt auf dem offenen Parkplatz gemacht haben, nickt unser Guide zufrieden. "Passt, ihr macht das guad. Woll'n ma starten. Vier Stunden, durch Täler und über Hänge. Ihr werdet's lieben!"
Die Schneemobile sind mächtig, das tiefe Knattern der Motoren durchbricht die Stille der Berge. Im Gegensatz zu der Quadtour im Sommer auf Mallorca, wo wir in Zweierteams gefahren sind, hat heute jeder sein eigenes Gefährt.
Als wir die ersten Meter losfahren, und ich noch verhalten aufs Gaspedal trete, ist es ein aufregendes Gefühl. Die Landschaft ist atemberaubend: verschneite Wälder, offene Ebenen, und immer wieder der Blick auf die imposanten Berge ringsum. Der Schnee spritzt unter den Kufen hervor, während wir durch die idyllische Wildnis gleiten.
Sepp führt uns sicher durch die Strecke, stoppt ab und zu an besonders schönen Aussichtspunkten, um uns die Umgebung zu zeigen oder kleine Anekdoten über die Region zu erzählen. Die Tour ist anspruchsvoll, aber nicht überfordernd, und ich fühle, wie meine anfängliche Nervosität nachlässt, je länger wir unterwegs sind.
Vito und ich tauschen unterwegs immer wieder Blicke aus. Er scheint besorgt zu sein, ob ich klarkomme, weil ich prinzipiell ein ziemlich ängstlicher Mensch bin. Doch in diesem Winterurlaub wachse ich immer wieder über mich hinaus.
Generell habe ich in den letzten Monaten, begonnen mit dem Sommerurlaub auf Mallorca, nochmal einen richtigen Entwicklungsschub gemacht. Es scheint, als hätten die Aussprachen mit Vito und unsere Versöhnung bei mir einige Ketten gesprengt.
Mit ihm an meiner Seite, der mich unterstützt, bin ich mutiger und experimentierfreudiger. Als hätte ich durch ihn Netz und doppelten Boden, die mich sicher auffangen, wenn ich falle.
Das neugewonnene Vertrauen in ihn lässt auch mein Vertrauen in mich selbst wachsen. Früher hat unsere Beziehung die schlechtesten Seiten an mir heraus gebracht, doch heute ist das Gegenteil der Fall. Es klingt kitschig, aber Vito hilft mir zu der besten Version von mir zu werden.
Die Snowmobiltour ist ein Abenteuer, das wir alle in vollen Zügen genießen. Das Salzburger Land zeigt sich von seiner besten Seite. Die schnelle Geschwindigkeit, die die kleinen motorisierten Schlitten aufbringen, verursacht einen regelrechten Adrenalinkick.
Pepe, Nino und Vito heizen ohne Rücksicht auf Verluste durch das Gelände, überbieten sich immer weiter mit riskanten Manövern, engen Kurven und noch mehr Speed.
Asya und ich sind nicht ganz so lebensmüde, doch von "hinterherschleichen", wie Pepe uns immer ärgert, sind wir weit entfernt.
Nach etwa einer Stunde voller Geschwindigkeit und Adrenalin stoppen wir an einem Aussichtspunkt, der den perfekten Blick auf die Liechtensteinklamm bietet. Diese beeindruckende Schlucht, eine der tiefsten und längsten in den Alpen, liegt wie ein verborgenes Juwel im Salzburger Land. Zwischen steilen, von Eis und Schnee bedeckten Felswänden rauscht ein glasklarer Wasserfall in die Tiefe. Das ganze Szenario wirkt wie aus einem Wintermärchen.
Sepp führt uns zu Fuß sicher an den Rand der Schlucht, um die Aussicht zu genießen. Der Klang des Wassers, das durch die eisige Umgebung strömt, mischt sich mit dem Knirschen des Schnees unter unseren Füßen. Die Luft ist eiskalt, doch der Anblick ist atemberaubend.
Ich lasse mich auf ein schneebedecktes Geländer sinken und betrachte den Wasserfall. Vito tritt leise hinter mich und legt seinen Arm auf meine Schulter. "Na, wie gefällt's dir, Eiskönigin?" Seine Stimme ist sanft, und als ich mich zu ihm umdrehe, funkeln seine Augen fast genauso wie der glitzernde Schnee.
Am Flughafen, als wir uns nach all den Jahren zum ersten Mal wieder begegnet sind, hat er mich auch Eiskönigin genannt. Was damals irgendwas zwischen stichelnd und abwertend war, bekommt in diesem Setting eine ganz neue Bedeutung. Eine liebevollere Bedeutung.
"Es ist wunderschön. Fast so schön wie der Anblick von dir, wie du gerade versucht hast, Pepe bei seiner waghalsigen Kurve zu überholen." Ich grinse schelmisch, und Vito lacht leise.
"Ich dachte, du stehst auf Abenteuer", erwidert er augenzwinkernd und lehnt sich ein Stück näher zu mir.
"Ich stehe vor allem darauf, wenn ich nicht zusehen muss, wie sich einer von euch das Genick bricht, oder mit 80km/h um einen Tannenbaum wickelt", halte ich spitzzüngig dagegen.
"Weißt du, worauf ich stehe?", entgegnet er unbeeindruckt und sieht mir so intensiv in die Augen, dass mein Magen kribbelt.
"Auf Schnelligkeit? Leichtsinnigkeit? Konkurrenzkampf?" Ich spiele die Ahnungslose, obwohl sein tiefer Blick mich längst in seinen Bann gezogen und mir eine Gänsehaut beschert hat, die nichts mit der Kälte zu tun hat.
"Nein. Auf dich." Seine Stimme wird leiser, als er mit einer Hand sanft meinen dicken Schal zurechtrückt. "Du machst jede Kulisse schöner."
Ich spüre, wie meine Wangen trotz der eisigen Temperaturen erröten.
"Du weißt schon, dass du gerade ziemlich kitschig bist, oder?" Ich lächele breit, aber meine Stimme zittert leicht.
"Kitschig?" Vito hebt eine Augenbraue. "Na gut, dann vielleicht lieber das hier.." Und bevor ich antworten kann, beugt er sich zu mir, schließt den Raum zwischen uns und küsst mich. Seine Lippen sind warm, trotz der frostigen Luft, und der Moment fühlt sich so surreal an, dass ich den Atem anhalte.
Als wir uns lösen, sieht er mich überlegen an. "Wenn das kitschig ist, dann bin ich gerne kitschig."
Ich lege meine Hände auf seine Brust und betrachte ihn selig, doch bevor ich etwas erwidern kann, ruft Nino plötzlich: "Hey, ihr Turteltauben, seid ihr fertig mit Knutschen? Sepp will weiterfahren!"
Vito lacht tief, nimmt meine Hand und zieht mich zurück zur Gruppe. Wir steigen wir wieder auf unsere Schneemobile. Sepp gibt das Zeichen zur Weiterfahrt, und die Motoren dröhnen erneut auf.
Die nächste Stunde führt uns durch sanfte Schneefelder und dichter werdende Wälder, immer wieder unterbrochen von kurzen Pausen, in denen Sepp uns Geschichten über die Gegend und verschiedene Aussichtspunkte erzählt.
Als wir schließlich wieder zurück am Ausgangspunkt der Tour ankommen, bin ich erschöpft, aber glücklich. Meine Wangen brennen vom kalten Fahrtwind, doch das Gefühl, ein richtiges Abenteuer erlebt zu haben, ist überwältigend. Sepp verabschiedet sich herzlich von uns, und wir machen uns auf den Weg zurück zum Chalet.
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