Kapitel 4
„Was machst du denn hier?“, erkundigte sich Ricke, während sie mit
ausgebreiteten Armen auf diesen Will zulief, und ihn schließlich
umarmte. Er ließ die Umarmung zu, lächelte sogar, und schaute
währenddessen zu Wiebke, die sich vorkam wie im falschen Film. Rocky
war in der Zwischenzeit aufgesprungen, und lief nun zu Wiebke hinüber,
um sich von ihr kraulen zu lassen.
„Ich denke…“, begann Will, und löste sich aus der Umarmung „… ich
sollte mich vielleicht mal vorstellen.“ Während er das gesagt hatte,
lief er auf Wiebke zu, die nichts sagen konnte, und diesen Fremden
einfach nur anstarrte.
„Mein Name ist Will Miller…“, sagte er, und streckte seine Hand aus,
die sie auch ergriff. Doch mit ihrer Reaktion hatte sie nicht
gerechnet. Ihre Hand begann zu kribbeln, ihr Mund wurde ganz trocken,
und sie hatte das Gefühl, dass wenn sie jetzt etwas sagen würde,
vermutlich nur hirnloses Geschwafel über ihre Lippen kommen würde.
Ricke hatte offensichtlich ihre missliche Lage erkannt, und half ihr,
sie nicht wie ein Vollidiot dastehen zu lassen. Fröhlich trat sie
neben die sprachlose Frau, legte ihre rechte Hand auf ihre Schulter,
und begann für sie zu sprechen. „Will, das ist Wiebke… Georgs
Schwester. Wiebke… das ist Will, der Bruder von Ben.“
Miller… MILLER! Natürlich, oh man, wie hatte sie das nicht begreifen
können. Offensichtlich waren das zu viele halbnackte Männer heute
gewesen.
„Darf ich jetzt aber trotzdem wissen, was genau du in unserer Küche
machst?“, kamen Wiebke tatsächlich Worte über die Lippen. Noch immer
hielt er ihre Hand in seiner, und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch
nicht das Bedürfnis, diese loszulassen. Doch leider ging es ihm da
offensichtlich nicht so.
„Hat Ben euch nichts gesagt? Oder Georg?“ Die beiden Frauen
schüttelten ihre Köpfe, und Wiebke lief hinüber zu ihrer
Kaffeemaschine, unter der schon eine Tasse stand. Sie musste dringend
einen Kaffee trinken.
„Sonst noch jemand, der auch einen braucht?“, fragte sie die beiden,
die daraufhin nickten, und sich dann an den Küchentisch setzten.
„Also Will, dann erzähl doch jetzt mal…was führt dich nach
Immendorf?“, durchbrach Ricke die Stille, wofür ihr Wiebke dankbar
war. Sie holte noch zwei weitere Tassen aus ihrem Schrank, und ließ
den ersten Kaffee in die Tasse für Will laufen.
„Milch oder Zucker?“, wollte sie von dem Mann wissen. „Nein, einfach
schwarz.“, war seine kurze Antwort. Na schön. Als auch die beiden
anderen fertig waren, stellte sie die jeweiligen Tassen vor Will, der im Übrigen immer noch oben ohne war, und
Ricke, und setzte sich dann zwischen die Beiden, die sofort einen
Schluck von ihrem Kaffee tranken. Rocky hatte sich an ihre Füße
gelegt, seinen Kopf direkt auf ihre Füße gebettet, und schnarchte vor
sich hin.
„Ich hatte Ben darum gebeten, euch mitzuteilen, dass ich bei euch
gerne für eine Weile ein Zimmer mieten würde. Ich hatte eigentlich
gedacht, dass er jetzt auch hier wäre… aber Georg hat mir vorhin
angerufen, und mir gesagt, dass nur ihr beide hier her fahren würdet,
und mir gesagt, ich solle den Ersatzschlüssel hinter dem Haus aus dem
grünen Blumentopf holen, und schon mal reingehen, da ihr ja noch nicht
da wart, als ich angekommen bin… so und da wäre ich nun.“ Wieder
setzte er seine Tasse an seine Lippen, und trank von seinem Kaffee.
Wiebke war förmlich dahingeschmolzen, als Will berichtete hatte. Seine
Stimme hatte sie umgehauen. Er hatte einen nicht ganz so starken
Akzent wie sein Bruder, und eine noch viel tiefere, aber auch sanftere
Stimme, die Wiebke, während er gesprochen hatte, förmlich eingelullt
hatte.
„Hat Rocky denn gar nicht gebellt?“, fragte Ricke erstaunt, und ließ
ihren Blick kurz hinunter zu dem Mastiff wandern, der friedlich
schlief. Will schüttelte nur seinen Kopf.
„Im Gegenteil, er hat sich gefreut, und lief dann in die Küche.Ich
hoffe, ich habe euch zwei nicht erschreckt?“, wollte er wissen,
nachdem er den Kaffee ausgetrunken, und die Tasse wieder auf den Tisch
gestellt hatte.
Doch Wiebke schüttelte nur ihren Kopf. „Ach was, jetzt hatte Ricke
wenigstens mal die Gelegenheit, sich mit einem ihrer Baseballschläger
zu bewaffnen, die sie hier überall deponiert hat.“ Erstaunlich locker
kamen ihr die Worte über die Lippen. Will musste daraufhin
schmunzeln, offensichtlich hatte er auch nicht mit einer Antwort
ihrerseits gerechnet, oder zumindest nicht mit einer solch freundlichen.
„Hat dir Georg vorhin am Telefon noch etwas gesagt? Weiß er schon was
wegen Ben?“, kam es nun von Ricke.
„Mehr oder weniger... sie waren gerade im Krankenhaus, Georg wurde kurz davor wohl
genäht, und Ben wurde noch untersucht Aber es ist nichts zu tragisches.“
Wiebke fiel ein Stein vom Herzen.
„Also, dann würde ich sagen, richte ich dir noch eins der Zimmer
drüben hin…“, sagte Wiebke, und stand vom Tisch auf. Ihren Hund freute
das gar nicht, da er jetzt seinen Kopf auf den Boden legen musste, und
sie folglich beleidigt anschaute, und kurz schnaubte. Lächelnd
schüttelte Wiebke ihren Kopf.
„Kann ich dir zur Hand gehen?“, wollte daraufhin Will wissen, und nahm
die drei Tassen, um sie, nach kurzer Suche, in den Geschirrspüler zu
stellen.
„Du bist doch unser Gast, du musst mir doch nicht …“ wurde sie dann
aber von besagtem Gast unterbrochen.
„Ach was, ich hab euch völlig überrumpelt. Und ihr seid bestimmt müde,
dann geht es vielleicht schneller, wenn ich helfe ,und ihr könnt
schneller ins Bett.“ Während er gesprochen hatte, hatte er sich sein hellgrünes Shirt geschnappt, dass über der Theke lag, und es sich übergezogen. Dabei waren seine schulterlangen Haare zersaust worden, so dass sie nun etwas ab standen.
„Na gut, wenn du willst.“
Will schnappte sich noch seinen Rucksack, in den gefühlt zwei Personen passen mussten, und ging dann den zwei Frauen hinterher. Alle drei verließen das Haus, Ricke um in den Teil der Wohnung von sich und Georg zu kommen, und Will und
Wiebke, um in die angrenzende Scheune zu gehen, die sie vor ein paar
Jahren umgebaut hatten.
„Gute Nacht, euch zwei. Wiebke, ich geh morgen früh mit Rocky raus,
wenn du jetzt noch gehst?“
„Dito.“, antwortete sie nur, wünschte ihr ebenso noch eine gute Nacht,
und ging dann, mit Will im Schlepptau, auf die Scheune zu.
Nachdem sie die rote Holztür aufgeschlossen hatte, machte sie das
Licht an, und ging den Flur entlang, um aus dem hintersten Zimmer, in
dem ein kleines Büro, sowie die Bettwäsche für die Zimmer
untergebracht waren, für Will Bettwäsche zu holen. Dieser war ihr
gefolgt, blieb jedoch vor dem Büro stehen.
„Was hättest du denn gerne für ein Zimmer? Eins mit Balkon? Brauchst du
ne Badewanne? Großes Bett, oder nur ein Einzelbett?“ Wiebke erschlug
den jungen Mann fast mit ihren ganzen Fragen, und er war sich nicht
sicher, was er antworten sollte.
„Balkonzimmer… „, antwortete er deshalb schlicht, woraufhin Wiebke,
als sie aus dem Büro trat, mit Bettwäsche bepackt, nur nickte.
„Na dann, folgen Sie mir Mr. Miller.“ Als sie jedoch weiterlaufen
wollte, hielt er sie an der Schulter fest, und nahm ihr dann die
Bettwäsche ab, um sie selbst zu tragen.
Die blonde Frau zuckte nur kurz mit den Schultern, und lief dann
wieder vor Will her, nach vorne Richtung Eingang, um dann nach rechts
abzubiegen, und die Holztreppe hinaufzulaufen. Vor der ersten
Zimmertür blieb sie dann stehen, und schloss diese mit dem Schlüssel,
den sie aus dem Büro mitgenommen hatte, auf. Schnell öffnete sie die
Tür, und ließ Will den Vortritt, und betätigte danach den Lichtschalter.
Aufmerksam schaute sich der blonde Mann um, und stellet fest, dass das
Zimmer tatsächlich recht groß war, Die untere Hälfte der Wände waren
mit weißen Holzlatten vertäfelt, die obere Hälfte war in einem hellen
grau gestrichen, und auf der dem Eingang gegenüberliegenden Wand, gab
es einen Zugang zum Balkon.
„Die Tür links hier, da geht’s zum Bad… mit Wanne. Der Balkon ist
nicht der größte…“, sprach sie, während sie zur Balkontür lief, und
diese öffnete. „…aber hier steht ein Tisch, man kann hier super
frühstücken, und wenn du ein Frühaufsteher bist, siehst du morgens
gleich Rehe auf der Wiese dort unten. Wenn du willst, mach ich dir für
morgen auch ein Frühstück, du musst mir nur sagen, was du gerne
hättest…“
„Ähm, Frühstück brauche ich keins, vielleicht einen Kaffee? Aber ich
kann einfach rüber kommen, wenn das in Ordnung wäre?“
„Klar, klopf einfach an. Ricke müsste um kurz vor sechs schon drüben
sein, sie schläft nie länger, und geht dann gleich mit Rocky eine
Runde laufen… also wird es vermutlich auch schon Kaffee geben.“
Will nickte nur, und legte dann die Bettwäsche auf das große
Doppelbett, und begann es zu beziehen.
Wiebke hatte schnell die Kopfkissen, und die Decke bezogen, während
Will mit dem Leintuch beschäftigt war. Tatsächlich ging es zu zweit
schneller.
„Gut dann wünsch ich dir ne gute Nacht, und bis morgen früh.“,
verabschiedete sie sich für diesen Abend bei ihm, und ging zur Tür.
Schnell steckte sie den Schlüssel von innen in das Schloss, und winkte
dem großen Mann, der noch mitten im Raum stand zu. „Gute Nacht…“,
wünschte er ihr ebenfalls, und schenkte ihr noch ein kurzes Lächeln, als sie auch schon die Tür hinter sich geschlossen hatte, und mit einem wild klopfendem Herz die Treppe wieder hinunter lief.
Eilig lief sie wieder ins Haus hinüber, um Rocky noch schnell zu
schnappen, und mit ihm noch eine Runde laufen zu gehen. Sie hoffte,
dass ihr die kühle Sommerluft diese wirren Gedanken etwas aus dem Kopf treiben könnte. Rocky saß schon bereit vor der Tür, und so legte Wiebke ihm nur schnell sein Halsband um, hakte die Leine ein, und ging dann gemeinsam mit ihrem Hund raus.
Im Sommer ging sie am liebsten nachts mit ihrem Hund Gassi. Es war nicht mehr so warm wie tagsüber, es waren nie Menschen unterwegs, und das Gefühl, dass sie jedes Mal hatte, wenn sie durch die Wiese hinter dem Haus lief, das Geräusch der Grillen, und der Duft von gemähtem Gras. Das waren perfekte Sommernächte. Es gab für sie nichts schöneres. Sobald sie über die Wiese waren, machte sie ihren Hund von der Leine, der das sofort ausnutzte, und ein paar Meter vor sprang. Den Spaziergang genießend, ließ sie den Abend noch einmal Revue passieren. Da war zunächst einmal ihre neuentdeckte Leidenschaft für MMA. Sie wusste nicht, woher das kam, hatte sie doch gestern noch eine enorme Abneigung gegen diesen Sport gehegt. Doch solch einen Kampf mitzuerleben, war etwas völlig anderes. Nun, und dann war da zunächst einmal Ben. Der wegen ihres Bruders nun im Krankenhaus lag. Naja, die beiden hatten sich ja immerhin selbst dorthin geprügelt. Und dann kam jetzt auch noch Will hinzu. Allein bei dem Gedanken an ihn, begann ihre Haut wieder zu kribbeln, und sie wünschte sich, nochmals die Gelegenheit zu haben, und seine Hand zu berühren. Doch trotz allem, war Wiebke immer noch verwirrt darüber, dass Georg ihr nichts von den Plänen der beiden Brüder erzählt hatte. Er wusste, dass die Zimmer ab nächster Woche größten Teils schon gebucht waren, da hier dann Familien, deren Kinder nun Sommerferien hatten, meistens mit dem Rad durch die Bodenseeregion fuhren, und sich für einige Tage hier einquartierten. Nicht, dass sie nicht noch ein Zimmer frei gehabt hätten, das war nicht der Punkt, doch sie hätte einfach gerne Bescheid gewusst.
Wie jeden Abend lief sie ihre Runde am Waldrand entlang, und lief dann wieder Richtung Ortseingang, wo sie Rocky dann wieder an die Leine nahm. Den musste sie schon fast hinter sich her ziehen, da er keine Lust mehr hatte, zu laufen. Tatsächlich gelang es ihr jedoch, den Koloss nach Hause zu bringen. Definitiv musste sie jetzt erst Mal dringend ins Bett.
Als Wiebke am nächsten Morgen aufwachte, herrschte unten in der Küche schon reges Treiben. Ein Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass es gerade einmal 6:52 Uhr war. Oh man. Langsam setzte sie sich in ihrem Bett auf, und fuhr sich durch ihre Haare, die noch leicht nass waren. Gestern Nacht hatte sie unbedingt noch duschen müssen, war jedoch zu faul gewesen, um sich noch ihre Haare zu föhnen, weshalb diese jetzt vermutlich in zerzausten Locken wie wild ab standen.
Nach ihrer Morgenroutine ging sie, nun nicht mehr ganz so verschlafen, hinunter in die Küche. Doch bevor sie hineintreten konnte, klopfte es an der Tür, die sie nun zuerst ansteuerte.
“Guten Morgen,” sagte Will, der vor der Tür stand, und einfach nur unverschämt gut aussah. Erst jetzt erkannte sie, was für schöne Augen er hatte. Sie strahlten in einem unvergleichlichen blau, dass sie so noch nie gesehen hatte. Wie geschockt starrte sie weiter in dieses blaue Meer, und konnte nur von Glück sprechen, dass Rocky aus der Küche kam, und zuerst sie und dann Will gebührend begrüßte.
“Guten Morgen, Will,” brachte sie nun endlich diese drei Worte heraus, und ließ ihn schließlich eintreten. Heute hatte er tatsächlich ein Shirt an, und Wiebke wusste nicht, ob das nun besser war, oder schlechter. Vermutlich besser, sonst würde sie nur sabbernd über dem Frühstückstisch hängen.
“Und, gut geschlafen?”, erkundigte sich Will, und streichelte nebenher Rocky.
Ohne ein Wort zu sagen, nickte sie nur, und lief dann vor ihm in die Küche. Ricke saß am Tisch, schlürfte genüsslich ihren Kaffee, während sie mit jemandem telefonierte.
Sie bemerkte die beiden Neuankömmlinge, und strahlte förmlich, als sie Wiebke erkannte.
“Ja, ist gut, du kannst sie gerade selber fragen, sie steht vor mir…”, waren Rickes letzte Worte, bevor sie auch schon aufgesprungen war, und Wiebke das Telefon in die Hand gedrückt hatte.
Mit ihren Lippen formte eine völlig überforderte Wiebke die Worte 'Wer ist das?'. Ricke antwortete mit einem geflüsterten “Tobi”, und schenkte ihrer Freundin ein mitleidiges Lächeln.
Nur widerwillig ging die junge Frau an das Telefon ran, und trat durch die Küche hinaus in den Garten, damit sie in Ruhe reden konnte.
“Ja?”, sprach sie nun in den Hörer hinein.
“Wiebke, ich weiß, du hast heute frei, aber es geht um Tinkerbell… sie hat eine schwere Kolik. Sie hatte gestern schon Anzeichen dafür gezeigt, ich hab sie herumgeführt, das Futter und das Stroh entfernt, zu trinken hat sie auch, aber vor einer halben Stunde hat sie mit dem Wälzen angefangen…”, Tobi konnte nicht zu Ende sprechen, da Wiebke ihm bereits ins Wort fiel.
“Ich bin in 20 Minuten da, falls etwas sein sollte, ruf mich auf meinem Handy an, bis gleich.”
Schnell stürmte Wiebke wieder in die Küche, in der die beiden anderen gemütlich saßen. Ohne sie zu beachten, ging sie in ihren Lagerraum, in dem die Tiermedikamente lagerten, und sich auch allerlei Untersuchungsutensilien befanden. Alles was sie benötigte, hatte sie schnell zusammen gepackt, und so schnappte sie sich den Koffer und die Kühltasche, in der sie die Medikamente transportierte, und brachte beides nach draußen. Sie musste sich noch schnell etwas richtiges anziehen, und so sprintete sie die Treppen hinauf, um nur kurz darauf in einer Jeanshose und ihrem blau-schwarz-karriertem Hemd nach unten zu kommen.
“Ich muss zu Tobi, Tinkerbell hat ne Kolik, bis nachher!”, schrie sie Richtung Küche.
“Bis dann…”, kam es noch von Will, und dann hatte sie auch schon das Haus verlassen. In ihrem Pick-Up düste sie auf der Landstraße, und erreichte nach kurzer Zeit den Seematter Hof. Den Pick-Up brachte sie auf der geschotterten Fläche vor dem Pferdestall zum stehen, und schnappte sich dann schnell die Taschen. Tobi war bereits auf den Hof getreten, und kam ihr mit ernster Miene entgegen.
“Hey, und… wälzt sie sich noch?”
Tobi nickt, und nahm ihr die schwerere der beiden Taschen ab, bevor er neben ihr in den Stall lief. Niko und Max, die beiden Noriker, die ebenfalls Tobi gehörten, störten sich nicht an der anderen Person, die sich nun ebenfalls im Stall befand. Als sie vor der Box von Tinkerbell ankamen, stellten sie erst einmal die Sachen ab, und Wiebke beobachtete das Pferd. Die Tinker Stute hatte sie nun ebenfalls bemerkt, und schaute sie mit ihren großen blauen Augen an, bevor sie erneut begann, sich zu wälzen.
“Vor ein paar Minuten war es noch schlimmer,” erklärte Tobi, und fuhr sich durch seine dunkelblonden Haare, in denen etwas Stroh hing. Wiebke wusste, dass ihm nichts so viel bedeutete, wie seine Pferde. Er hatte vermutlich die ganze Nacht nicht geschlafen.
“Hast du die Temperaturen der letzten Stunden, den Puls und die Atemfrequenz aufgeschrieben?” Tobi nickte. Seine Augen waren rot unterlaufen, und seine Gesichtsfarbe fast grau.
“Ich bekomm sie wieder hin, wenn du willst, geh rein, schlaf dich aus.” Um ihn zu beruhigen, strich sie mit ihrer Hand über seinen Oberarm, und spürte dabei seine Muskeln durch den dünnen Stoff des T-Shirts.
“Ich bleib hier, falls du Hilfe brauchst…”, sagte er mit rauer Stimme, und schenkte der Tierärztin ein schwaches Lächeln.
Mit Stethoskop bewaffnet, ging Wiebke kurz darauf in die Box, in der Tinker sich immer noch wälzte, um sie zunächst einmal zu untersuchen.
“Schhh, alles gut Tinki, ich bin's, Wiebke…”, sagte sie mit ruhiger Stimme, und hielt ihre Hände vor sich, damit sie an ihrer riechen konnte. Doch das Pferd wurde noch etwas unruhiger.
“Tobi, gibst du mir bitte das Beruhigungsmittel mit ner Spritze raus, ich schätze, sie lässt mich sonst nicht an sich ran.” Tobi wusste, was er zu tun hatte, und reichte ihr das kleine Glasfläschchen mit samt der Spritze durch das Gitter in der Tür.
Als das Beruhigungsmittel gespritzt war, und endlich die gewünschte Wirkung einsetzte, konnte Wiebke mit der Untersuchung beginnen.
Eine Stunde später hatte sich die Lage deutlich verbessert. Mit Hilfe eines Schlauches, den sie durch die Nase in den Magen des Pferdes geführt hatte, konnte das Gas aus dem Magen entweichen. Tinkerbell stand immer noch unter der Wirkung des Beruhigungsmittels, doch konnte Wiebke durchaus schon eine Verbesserung erkennen.
Tobias, der mittlerweile ein nervliches Wrack war, saß neben seiner Freundin, und streichelte sein Pferd. Doch Wiebke musste jetzt noch dringend klären, woher diese Kolik jetzt kam.
“Die Fehlgärung kam von zu viel Grünfutter, Tobi… du weißt doch, wie du sie zu füttern hast.”, begann die Tierärztin. Der junge Mann schaute sie mit seinen großen grünen Augen an, und fuhr sich dann verzweifelt durch die Haare, während er etwas vor sich hinnuschelte, dass sie nicht verstehen konnte.
"Was hast du gesagt?", hakte sie deshalb nach, und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Seine linke Hand lag auf seinem Kinn, während er sich mit dem Zeigefinger immer wieder dagegen tippte, als überlegte er, was genau er als nächstes sagen sollte.
"Nichts…", antwortete er schließlich, und vermied es, Wiebke in die Augen zu sehen. Doch sie hatte gemerkt, dass ihm etwas auf dem Herzen lag, dass er nicht über die Lippen bekam, und so legte sie ihre Hand auf seine Schulter, und drückte diese kurz.
"Wenn du es mir nicht sagen willst… ist das in Ordnung. Aber geh nicht mehr so leichtfertig mit dem Leben deiner Tiere um… da werde ich böse, und das weißt du Tobi." Sie bedachte ihn mit ernstem Blick, bevor sie sich schließlich von ihm abwandte, und ihre Sachen zusammen packte. Das ließ den jungen Schweizer schließlich aus seiner Starre erwachen.
"Was machst du?"
Wiebke warf ihm nur einen verwirrten Blick über die Schulter zu, bevor sie ihre gepackten Taschen nahm, und sich wieder aufrichtete.
"Na, ich fahr nach Hause… ich bin müde, ich hab noch nichts gefrühstückt, und ich muss mich um die Reservierungen in der Pension kümmern, gestern kam noch ein Gast… außerdem ist Georg noch im Krankenhaus, der Kampf gestern war brutal…", redete Wiebke ohne Punkt und Komme, und schenkte ihrem Gegenüber ein zögerliches Lächeln.
"Warst du gestern auf einem MMA Kampf?", fragte Tobi schockiert, bevor sein gespielt entsetzter Gesichtsausdruck wich, und sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht stahl.
"Ja, das war ich… und es war so unglaublich…", brach es aus Wiebke raus.
"Wie wäre es, wenn du mir das bei einem Kabs, und ner Brezel genauer schilderst?", versuchte Tobi sie zu überreden.
Bevor sie darauf etwas antworten konnte, hatte er ihr schon die zwei Taschen abgenommen, und lief nun einfach davon.
"Keine Widerrede, ich will, dass meine beste Freundin ein Frühstück bekommt, und du kannst nichts daran hindern…", entschied er einfach. Ausnahmsweise ließ er bei seinen letzten Worten seinen schweizer Akzent nur überdeutlich raus kommen, da er wusste, dass Wiebke diesen nur zu witzig fand, und sie ihm so nie etwas ausschlagen konnte.
"Na schön… Herr Seematter, ich hoffe, ich bekomme ein opulentes Frühstück!"
Da Tobias schon einige Meter Vorsprung hatte, und bereits aus dem Pferdestall raus war, konnte sie nur ganz schwach sein Lachen hören.
Mit deutlich besserer Laune verließ sie nun ebenfalls den Stall, und folgte ihrem Freund in sein Haus.
Nur 10 Minuten später saßen sie gemeinsam am Küchentisch, auf dem tatsächlich ein opulentes Frühstück stand. Tobi hatte wirklich alle Geschütze aufgefahren. Das bedeutete, dass so gut wie nur Käse auf dem Tisch stand, und zwar der, den die Familie selbst herstellte. Und Wiebke liebte Käse, und den, der vor ihr stand noch viel mehr.
"Du weißt, wie man Frauen um den Finger wickelt…", quasselte die blonde Frau aufgeregt, während sie sich eine Brezel geschnappt hatte, und bereits eine dicke Scheibe Käse herunter schnitt.
"Nein, nur dich…", war Tobi's Antwort, der ein Schluck seines Kabas trank. Ja, Kaba. Das tranken sie seit Jahren zusammen. Nie Kaffee, nur Kaba.
Lächelnd schüttelte sie ihren Kopf, und widmete sich ihrer Käsebrezel, die zu 90% aus Käse bestand.
"Jetzt erzähl Mal von diesem Kampf gestern Abend… und wieso hast du mich nicht eingeladen?"
Tobi war schon häufiger auf Georgs Kämpfen gewesen, er hatte selbst schon mit ihm trainiert, beziehungsweise hatten sie das Kickbox-Training damals gemeinsam angefangen, jedoch war nur Georg dabei geblieben.
Als Wiebke jedoch einfiel, weshalb sie gestern mit nach Konstanz wollte, ließ sie ihre Brezel auf den Teller sinken, und kaute gefühlt Stunden auf dem Stück, das sie noch im Mund hatte.
"Ich … ähm ..", begann sie, und musste sich kurz räuspern. Sollte sie ihm sagen, dass sie ihn vor zwei Tagen mit Teresa gesehen hatte? Was brachte es, ihn darauf jetzt anzusprechen. Andererseits… wollte sie ihn auch nicht anlügen.
"Naja also, ich ähm hab dich vorgestern mit Teresa gesehen, und dachte, du hast bestimmt besseres vor, als mit mir nach Konstanz zu fahren …" Das war nicht ganz die Wahrheit, aber es war nah dran.
Tobi, der ihr gegenüber saß, schaute sie mit großen Augen an.
"Du hast mich mit Tessa gesehen? Wann? Und… du warst hier?" Er schien ziemlich verwirrt. Und auch etwas ertappt. Wiebke war klar, dass er nicht gewollt hatte, dass sie das mit 'Tessa' und ihm rausfand.
"Deine Mutter hatte mich gebeten, nach den Kälbern zu sehen, deshalb war ich hier…" Dieses Gespräch war ihr nun doch ziemlich unangenehm. Tobi nickte nur, und vermied es tunlichst, ihr in die Augen zu sehen. Ihm war das wohl auch mehr als unangenehm.
Und so herrschte die nächsten Minuten nur Schweigen in der Küche, bevor Wiebke das nicht mehr aushielt.
"Aber der Kampf war klasse. Georg ist unglaublich, und Ben Miller, ein Freund von Georg, war auch unglaublich. Aber den hat's schwer umgehauen…" Mit voller Begeisterung, was sie selbst überraschte, hatte sie Tobi von gestern berichtet, was ihn zum Schmunzeln brachte.
"Wiebke, Wiebke … du entwickelst dich noch zu nem MMA Fangirl."
Von da an war die Stimmung zwischen den beiden wieder deutlich entspannter und fröhlicher. Gemeinsam vernichteten sie sämtlichen Käse, der auf dem Tisch stand.
Nach dem Frühstück verabschiedete sie sich von Tobi, jedoch nicht bevor sie noch Mal einen Blick auf Tinker warf, und Tobi die Medizin zur Nachbehandlung da ließ.
"Du weißt, wenn etwas ist, rufst du mich an…", sagte sie ihm mit Nachdruck, bevor er sie zur Verabschiedung kurz in seine starken Arme schloss. Wie jedes Mal, wenn sie ihm so nahe war, wurde ihr ganz warm ums Herz, jedoch konnte sie nicht verhindern, dass ihr der Gedanke an ihn und Teresa einen Stich versetzte.
Zum Abschied gab er ihr wie immer einen Kuss auf den Scheitel, bevor er sie wieder los ließ, und sie schnell in ihren Pick-Up kletterte, und versuchte, ihren betrübten Blick vor ihm zu verbergen.
Tobi winkte ihr noch kurz zu, was sie mit einem Lächeln erwiderte, und schließlich auf der großen geschotterten Hoffläche ihren Pick-Up wendete, und davon fuhr.
Dass ihr Herz dabei fast explodierte, versuchte sie so gut wie es ging zu verdrängen.
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So meine Lieben,
Wer sich tatsächlich mit Pferden auskennt, beziehungsweise eventuell auch in der Veterinärmedizin, der darf mir hier gerne eine paar Infos zukommen lassen.
Ich hoffe, euch gefiel das Kapitel, das nächste Folgt im Laufe des bereits angebrochenen Tages 😊😊
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