Kapitel 2
Wiebke liebte die Fahrt nach Konstanz, dann konnte sie nämlich mit der Autofähre über ihren geliebten Bodensee treiben, und die Aussicht auf die Alpen genießen, die an diesem Tag einfach herrlich war. Seit fünf Minuten fuhr das Schiff nun schon, und die junge Frau saß wie immer an vorderste Stelle auf ihrer Lieblingsbank, dann hatte sie den besten Blick. Ihr Bruder und seine Freundin waren ein Deck tiefer, und gingen noch einmal eine Taktik für den Kampf durch. Es war doch erstaunlich, dass Ricke sich so in den Kampfsport von Georg mit einbrachte, wo sie sonst doch eher schüchtern und zurückhaltend wirkte. Doch die beiden ergänzten sich, und Wiebke war einfach nur froh, dass ihr Bruder diese Frau gefunden hatte. Auch ihre Schwester Luisa, die die älteste der drei Geschwister war, hatte ihren Mann, mit dem sie gemeinsam in Überlingen wohnte. Nur sie selbst hatte niemanden. Ihre Gedanken drifteten schon wieder zu Tobi. Sie musste daran denken, wie er gestern an diesen giftigen, verlogenen Lippen von dieser dummen Kuh hing. Unbedingt Teresa Steinhart. Das Dorfflittchen. Die Teresa, die schon immer ein Keil zwischen Wiebke und Tobias treiben wollte... und jetzt hatte sie es geschafft. Das wirklich schlimme war jedoch tatsächlich die Tatsache, dass sich Tobi mit ihr abgab. Ausgerechnet er, der Teresa schon immer verabscheut hatte...
Der Gedanke daran ließ sie schluchzen, und sie holte schnell ein Taschentuch aus ihrer Tasche. Sie sollte sich keine Gedanken mehr darüber machen. Tobi hatte sich noch nie für sie interessiert, und das würde sich auch nicht ändern. Nicht wenn sich Wiebke nicht auch wie ein billiges Flittchen an ihn ranmachen würde. Doch da blieb sie lieber allein. Mit so einem Mann wollte sie nicht zusammen sein, der Frauen nur beachtete, wenn sie sich billig gaben. Was hatte sie nur all die Jahre an diesem Mann gefunden? Ach was, da brauchte sie sich nichts vorzumachen. Es war seine Ausstrahlung, die wunderschönen grünen Augen, und seine so ruhige und angenehme Art gewesen, die ihn von Anfang an schon zu etwas besonderem gemacht hatten. Offensichtlich hatte sie nichts besonderes.
Mittlerweile konnte sie Konstanz schon gut sehen, sie waren nur noch ein paar Minuten vom Hafen entfernt, und so genoss Wiebke noch für ein paar Sekunden die wunderschöne Kulisse, bevor sie ihre Tasche schnappte, und die Treppen zum Parkdeck hinunter lief. Die anderen zwei standen bereits an ihrem alten Ford Pick-Up, und blickten sich suchend um.
"Tut mir leid, ich musste den Blick in mich aufsaugen...", entschuldigte sie sich, und schloss das Auto auf. Die Fähre hatte in der Zwischenzeit angelegt, und es wurde bereits die Brücke vom Schiff hinunter gelassen, über die die Autos gleich wieder an Land kamen. Da sie in Meersburg zuvor die ersten gewesen waren, stand ihr Auto ganz vorne, und so konnte sie als erste losfahren. Jetzt musste sich die junge Frau allerdings von Georg leiten lassen, der hinter dem Beifahrersitz saß, und sie nun durch die Stadt navigierte. Die große Halle befand sich fast direkt an der Schweizer Grenze im Paradies Viertel, und so dauerte es auch ein paar Minuten, bis sie die Halle erreicht hatten. Der Parkplatz, der sich einmal um die Halle erstreckte, war schon fast komplett voll, doch da Georg zu den Kämpfern gehörte, konnten die Drei in den abgesperrten Bereich, in dem es noch genügend freie Plätze gab. Wiebke war doch ziemlich erstaunt, dass ein MMA Kampf hier so viel Anklang fand, und musste sich eingestehen, dass sie wirklich keine Ahnung hatte, was genau ihr Bruder denn jetzt alles machte.
"Oh mein Gott, Georg, du bist sogar auf dem Plakat abgebildet! Sag nicht, du bist berühmt?" Fragend blickte sie zu ihrem Bruder, der mit seiner riesigen Tasche neben ihr stehen blieb, und selbst auf das Plakat starrte.
"Berühmt würde ich es nicht nennen..." begann der junge Mann, wurde jedoch sofort von seiner Freundin unterbrochen.
"Dein Bruder untertreibt Mal wieder... er ist der Hauptact des Abends!" Ricke klang stolz, während sie das sagt, und Georg dabei verträumt anschaute.
"Jetzt lasst uns einfach reingehen... ich hab noch zu tun, bevor der Kampf losgeht."
Also hielten die zwei Frauen den vielbeschäftigten Mann nicht auf, und trottetem ihm hinterher. Der große blonde Mann lief gerade aus auf einen unscheinbaren Eingang zu... Wiebke hatte erwartet, die Halle vorne am großen Eingang zu betreten, aber vermutlich war das der Eingang für die Kämpfer. Sie liefen einen schmalen Gang entlang, und man konnte den Schweißgeruch kaum ignorieren. Ab und zu drangen Jubelrufe an ihre Ohren, offensichtlich fand schon ein Kampf statt. Die schmalen Neonröhren an der Decke zogen sich den ganzen Flur entlang, und spendeten nicht gerade viel Licht. Nach ein paar Metern bog Georg links ab, und stieg vor den zwei Frauen die Treppen hoch.
Doch Wiebke kam kaum hinterher, da ihr Bruder einen Affenzahn drauf hatte.
"Geht das eventuell etwas langsamer? Ich komm kaum hinterher!", stöhnte sie erschöpft, als die den gefühlt 200. Stock erreicht hatten.
"Wir sind ja gleich da Bieki...", stichelte Georg, und blieb vor einer Tür stehen, auf der Privat stand. Georg hielt den beiden die Tür auf und ließ ihnen den Vortritt. Mit was sie gerechnet hatte, wusste Wiebke nicht, aber definitiv nicht mit dem, was sie jetzt sah. Sie standen auf einem Balkon, der sich um die komplette Halle erstreckte, und von hier oben einen tollen Blick auf das Oktagon bot. Unten war die Hölle los. Leicht lehnte sich Wiebke über das Balkongeländer, und staunte nicht schlecht. Die Plätze unten mussten alle belegt sein, zumindest konnte sie keinen freien Platz entdecken. Momentan jubelte ein Großteil der Menge dem Mann zu, der seinem Gegner, der schon blutüberströmt am Boden lag, sich jedoch immer noch regen konnte, immer noch Schläge verpasste. Tatsächlich konnte sie das ganze Spektakel auf einem großen Bildschirm verfolgen, der ihr gegenüber am anderen Ende der Halle hing. Aufmerksam verfolgte der MMA-Neuling das Geschehen auf dem großen Bildschirm. Mit Erstaunen stellte sie fest, dass der Mann, der Bereits am Boden lag, seinem Gegner einen fiesen Kinnhaken verpassen konnte, der ihn straucheln ließ. So konnte er aufstehen, und holte gleich nochmal erneut aus. Dieses Mal jedoch war der Schlag noch heftiger. Der Mundschutz des anderen flog in hohem Bogen durch die Luft, und auf einmal klappte auch der Geschlagene zusammen, und schien nicht mehr aufstehen zu wollen. Wie konnte sich das Blatt nur so wenden.
"Mund zu, sonst zieht's, Schwesterchen...", hörte Wiebke ihren älteren Bruder plötzlich neben sich sagen. Doch sie konnte ihren Blick nicht vom Oktagon abwenden, und starrte nur auf den Mann, der bis vor ein paar Sekunden noch halb tot am Boden gelegen hatte.
"Beeindruckt?", wollte jetzt auch Ricke wissen, die sich an ihre rechte Seite gestellt hatte, und sie mit hochgezogenen Augenbrauen anblickte.
"Das muss doch saumäßig weh tun!", war das einzige, das Wiebke über ihre Lippen brachte.
"Man gewöhnt sich dran...", antwortete Georg, und klopfte seiner Schwester auf die Schulter.
"Kommt ihr mit? Ich treffe mich gleich noch mit Ben..." Georg hatte sich vom Geländer abgestoßen, und deutete mit seinem Daumen hinter sich, vermutlich wartete dort besagter Ben.
Wiebke nickte, und lief erneut ihrem Bruder hinterher. Ricke hatte sich bei ihr eingehakt, und führte sie durch die Menschenmassen, die sich hier oben tummelten. Vor ihnen verschwand Georg auf einmal hinter einer Glaswand, die sie wieder vom Balkon entfernte, und die zwei Frauen folgten ihm.
Sie sahen, wie er gerade einen Mann freundschaftlich umarmte, und ihm auf den Rücken klopfte, und sich danach suchend nach seiner Freundin und seiner Schwester umschaute. Als die zwei Frauen bei ihm zu stehen kamen, löste sich Ricke von Wiebke, und umarmte den Fremden ebenso fröhlich, wie es Georg getan hatte. Nachdem sich Ricke von dem großgewachsenen Mann gelöst hatte, blickte er nun zu Wiebke, die ihn zögerlich anlächelte. Er hielt ihr seine Hand hin, und strahlte sie freudig an.
"Hey , ich bin Ben. Du musst Wiebke sein?" Sie drückte seine Hand, doch er ließ sie danach nicht gleich los. Sein Deutsch war nicht perfekt gewesen, er hatte einen Akzent, den sie nicht zuordnen konnte.
"Ja, ja ich bin Georgs Schwester. " Woher wusste er, wer sie war? Sie hatte vor heute noch nie etwas von einem Ben gehört.
"Freut mich, dich endlich mal kennen zu lernen." Seine Worte waren unüberhörbar mit einem Akzent versehen, nur was für einer?
"Was ist das für ein Akzent?", fragte sie ihn direkt, und ließ nun doch seine Hand los.
"Ich bin in Amerika aufgewachsen, meine Mutter war aber aus Deutschland, sie kam aus der Nähe von Stuttgart. Naja, sie hat mir und meinem Bruder deutsch beigebracht, aber den amerikanischen Akzent, bekomme ich nicht weg." Sein Grinsen war ansteckend, und so lächelte sie ihn ehrlich an.
"Georg hat mir erzählt, dass du noch nie bei einem MMA-Kampf warst?" Ach, hatte Georg das. Bei der Art, wie er Georgs Namen aussprach, musste sie noch mehr grinsen. Er sprach es englisch aus, und das passte so gar nicht zu ihrem Bruder.
"Was hat dir mein Bruder denn noch alles von mir erzählt?"
"Naja, ich weiß nur, dass er mir nicht verraten hat, wie umwerfend du aussiehst..." Etwas verlegen, fuhr sich Ben durch seine schulterlangen, schokoladenfarbenen Haare, und ließ seine Hand kurz in seinem Nacken liegen. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, meldete sich jedoch ihr Bruder zu Wort.
"Wie wäre es, wenn wir uns einen Tisch suchen, und uns was zu trinken bestellen?"
Georg ging mit Ricke händchenhaltend vor, und sie setzten sich an einen Vierertisch. Ben ließ Wiebke den Vortritt, und folgte ihr zum Tisch. Wie selbstverständlich setzte er sich neben sie, und schaute sie etwas zu lange an, was Wiebke natürlich bemerkte.
Irgendwie war die Situation nun irgendwie doch unangenehm. Und Wiebke hatte das Gefühl, dass Georg sie mit Absicht heute mitnehmen wollte, und dass das definitiv mit Ben zusammenhing. Natürlich konnte sie nicht leugnen, dass der Mann neben ihr äußerst attraktiv war, doch mehr eben auch nicht. Bestimmt war er ein netter Mensch, doch das konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch nicht herausfinden wollen. Insgeheim hoffte sie darauf, dass Tobi irgendwann erkennen würde, was sie für ihn empfand, und dass er sie genau so sehr mochte. Doch das war reines Wunschdenken. Das wusste sie. Aber sie konnte es sich einfach nicht eingestehen.
"Und bereit für nachher, Georg?", richtete sich Ben nun an den anderen Mann am Tisch.
"Du weißt, dass ich dich fertig machen werde?" Ihr Bruder klang ziemlich selbstsicher, und grinste Ben herausfordernd an, der jedoch nur lachen konnte.
Also, wenn sie richtig verstanden hatte, war Ben derjenige, der heute gegen ihren Bruder antreten würde? Und dann verstanden sich die beiden so gut?
"Wenn ihr euch nachher gegenseitig die Köpfe einschlagt... wie kann es dann sein, dass ihr euch so gut versteht?"
"Georg und ich sind doch die leitenden Trainer hier im Verein... seit knapp einem Jahr, oder?", stellte der Amerikaner nun die Frage an Georg, der ein Schluck von seinem Wasser trank, dass eine Kellnerin in der Zwischenzeit gebracht hatte, und nickte.
"Ja, seit fast einem Jahr. Vorher war es doch Micha, der hatte ja aber eine üble Verletzung am Knie. Seit dem konnte er hier nicht mehr richtig kämpfen..."
"Ihr wirkt aber nicht so, als würdet ihr euch erst seit einem Jahr kennen." So kam es Wiebke zumindest vor.
"Ich war doch vor drei Jahren in Amerika, Schwesterlein... und da hatte ich meinen ersten Kampf, den ich gleich in der ersten Runde nach, ich glaube zwei Minuten, wegen dem Knockout verloren habe. Ben war das. Seit dem hat er gegen mich jedoch nicht mehr gewonnen." Bei diesem letzten Satz grinste Georg wie ein Fünfjähriger, der gerade einen Streich gespielt hatte.
"Du hast ihm damals die Nase gebrochen...", mischte sich nun auch Ricke ein, und drückte dabei ihrem Freund einen Kuss auf die Nase, woraufhin er Ricke noch einmal zu sich zog, um ihr einen Kuss auf ihre Lippen zu hauchen.
Auch wenn Wiebke es toll fand, dass sich ihre Schulfreundin und ihr Bruder gefunden hatten, so wollte sie ihnen doch nicht dabei zusehen, wie sich sich gegenseitig abschlabberten. Und so drehte sie ihren Kopf nach links, und musste feststellen, dass auch Ben diese Situation unangenehm war, da er zwanghaft versuchte, seinen Blick in die Ferne schweifen zu lassen.
"Und Ben..." lenkte Wiebke nun von den zwei Turteltauben ab. " Was hast du dann gemacht, bevor du nach Deutschland gekommen bist?"
Offensichtlich hatte sie damit einen wunden Nerv getroffen. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, und sein Unterkiefer war angespannt.
"Vergiss die Frage, ich bin zu neugierig...", versuchte sie, ihn wieder abzulenken, doch das brachte nichts.
"Ich war bei den Special Forces...", antwortete Ben, und verblüffte Wiebke damit. Weder hatte sie damit gerechnet, überhaupt noch eine Antwort zu bekommen, noch genau diese Antwort zu erhalten.
Neben ihr saß vermutlich einer der männlichsten Männer, die sie kannte. Sie hatte schon Filme über Männer gesehen, die in diesen Spezialeinheiten waren, und was sie alles durchmachen mussten, doch irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass Ben ein solcher Mann sein sollte. Irgendwie war sie immer davon ausgegangen, dass die Männer und Frauen dieser Einheiten mit schweren Traumata oder Posttraumatischenbelastungsstörungen nach Hause kehren würden. Aber Ben machte auf sie nicht den Eindruck, als würde er unter einer solchen Störung leiden. Er schien eigentlich recht fröhlich zu sein. Vielleicht war das aber auch nur die Vorfreude auf den brutalen Kampf gegen Georg, der nun gleich stattfinden würde. Sie konnte es nicht sagen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top