Kapitel 1
Frontier - Kapitel 1:
Völlig geschafft lässt sich Wiebke auf einen der Stühle im Esszimmer fallen. Ein Blick auf die Digitaluhr am Backofen verriet ihr, dass es bereits 5:49 Uhr war. Die ganze Nacht über hatte sie bei einer trächtigen Stute Wache gehalten. Als kurz nach Mitternacht der Anruf des Besitzers kam, dass Missy - die 6 Jahre alte Tinker Stute - ihr Fohlen offensichtlich nicht in der üblichen Steißlage bekommen würde, hatte sich die 26 Jährige sofort auf den Weg gemacht, um der Stute bei der Geburt zu helfen. Es kam nicht oft vor, dass man das Fohlen mit Hilfe eines Stricks rausziehen muss, doch es konnte, wie bei dieser Geburt, definitiv passieren. Sicherheitshalber war Wiebke die ersten Stunden nach der Geburt noch geblieben, um auch sicher zu gehen, dass es sowohl dem Fohlen, als auch der Mutter gut ging. Auch wenn sie nun völlig übermüdet am frühen Morgen erst wieder daheim war, so würde sie ihren Beruf niemals wechseln wollen. Sie war Tierärztin aus Leidenschaft, und hatte es tunlichst vermieden, jemals irgendetwas auch nur annäherungsweise mit einem Bürojob zu tun zu haben. Da war sie sich sicher, dass sie verrückt werden würde, müsste sie acht Stunden am Tag in einem Büro sitzen.
Die letzten fünf Stunden steckten ihr jedoch trotzdem in den Knochen, und so konnte sie sich kaum ihrer völlig dreckigen, grüne Latzhose entledigen, und strampelte anmutig wie ein fünfjähriges Kind das Kleidungsstück von ihren Beinen. Bevor sie ins Bett ging, um wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen, musste sie noch dringend unter die Dusche steigen. Die Lust dazu fehlte ihr komplett, aber sie hatte heute erst ihr Bett frisch bezogen, da wollte sie nicht, dass es gleich wieder nach Pferdestall roch. Bevor sie sich jedoch auf den Weg zum Badezimmer machte, welches direkt hinter der Küche lag, schrieb sie schnell einen Zettel für ihren Bruder, oder seine Freundin. Wer von den beiden auch immer als erstes in ein paar Stunden hier rein spazierte, sollte wissen, dass man sie nicht aufwecken sollte, und so stand auf dem Zettel schließlich:
Pferdegeburt, um 6 Uhr erst ins Bett gegangen, lasst mich schlafen.
Den Zettel legte sie in weiser Voraussicht vor die Kaffeemaschine, da sowohl ihr Bruder Georg, als auch seine Freundin Ricke diese als erstes ins Visier nahmen, wenn sie hier reinplatzten.
Nachdem sie also den Zettel drapiert hatte, konnte sie sich vollends von ihrer Arbeitshose befreien, die ihr bis dahin noch unten an den Knöcheln gehangen , ihr das laufen erschwert hatte, und die sie nun lustlos durch die Wohnung ins Bad kickte. Vor der Waschmaschine ließ sie diese liegen. Die konnte sie später noch in die Maschine stecken.
Wiebke schaffte es, sich noch schnell abzuduschen, und sich danach in einen luftigen Schlafanzug zu quälen. Am liebsten würde sie sich die Klamotten vom Leib reißen. Es war Mitte Juni, und es war für ihren Geschmack einfach viel zu warm.
Die Treppen zu ihrem Schlafzimmer hievte sie sich hoch, und schlurgte die letzten paar Meter nur noch zu ihrem Bett. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie in einen tiefen Schlaf fiel.
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"Mahlzeit Schwesterherz", hörte Wiebke die Stimme ihres Bruders.
Warum zur Hölle weckte er sie? Hatte sie nicht einen Zettel geschrieben? Oder hatte sie nur gedacht, sie hätte das getan? Ein böses Grummeln kam ihr über die Lippen, als sie plötzlich spürte, dass sich jemand auf ihre Matratze gesetzt hatte.
"Ich mag dich nicht, Georg. Du solltest mich schlafen lassen."
"Das haben wir, aber es ist bereits 14 Uhr, und ich dachte mir, dass du bestimmt nicht den ganzen Sonntag verschlafen willst."
Hatte sie gerade richtig gehört? 14 Uhr? Oh, sie war einfach zu müde gewesen. Die ganze Woche über hatte sie zu viel arbeiten müssen, da sie die Urlaubsvertretung für zwei Landtierärzte aus der Umgebung war.
"Außerdem wollte ich dich fragen, ob du heute mit nach Konstanz kommst. Hab da heute einen Kampf, wird bestimmt spannend...", begann Georg zu erzählen. Die blonde Frau mochte es nicht wirklich, was ihr Bruder tat, um Geld zu verdienen. Es war etwas zu brutal für ihren Geschmack. Natürlich schaute sie sich gern Mal eine Folge Vikings an, und genoss es dann, wenn nur so das Blut floss, aber dazu musste sie die passende Grundstimmung haben. Und das kam meistens nur einmal im Monat vor.
"So sehr ich es auch respektiere, womit du deinen Lebensunterhalt bestreitest... du weißt, dass ich kein Blut sehen kann...", antwortete Wiebke nur, und bettete ihren Kopf wieder gemütlich.
„Weißt du, Bieki, du siehst jeden Tag Blut. Du bist nämlich Ärztin, und ich glaub dir das deshalb auch nicht."
Genervt drehte sie sich um, so dass sie nun ihren Bruder sehen konnte. Er hatte noch immer das Veilchen vom Kampf am letzten Samstag, und so deutete sie nur mit ihrem Zeigefinger auf sein Auge.
„Ich finde es furchtbar, wenn man dir Schmerzen zufügt. Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass ich das nicht mit ansehen will. Das eine Mal hat mir vollkommen gereicht. Wie hält Ricke das überhaupt aus?" Was die junge Frau sagte, war ehrlich gemeint. Sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass ihr Bruder sich das absichtlich antat.
„Du hättest einfach Sportlehrer werden sollen. Dann würden dich höchstens so ein paar Halbstarke schubsen...", argumentierte sie weiter. Ihr Bruder ließ daraufhin nur ein Seufzen ertönen.
„Du solltest einfach einmal mitkommen. Und bevor du dich jetzt weiter über mich aufregst, Ricke hat dir Frühstück gemacht. Also komm erst mal runter, und iss etwas, bevor du, erschöpft von deiner ständigen Nörgelei, noch umkippst." Daraufhin erhob sich Georg wieder, und schloss hinter sich die Schlafzimmertür.
Alles was Wiebke von sich geben konnte war ein überfordertes ‚hooooo', bevor sie sich tatsächlich aufrappelte, um sich schnell ihre dünne Hose, die sie sich wohl im Schlaf von ihren Beinen gestrampelt hatte, wieder überzuziehen. Ihre langen, blonden Haare drehte sie kurz in einen Dutt, den sie mit ihrem Haargummi zusammenband. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie gestern ihre Kontaktlinsen nicht rausgenommen hatte, was ihre trockenen Augen erklärte. Auch wenn sie davon jetzt vermutlich Kopfschmerzen bekommen würde, nahm sie die Tageslinsen, die sie immer trug, wenn sie in den Stall ging, heraus und schmiss sie weg, um dann ihre schwarze Ray Ban, die auf ihrem Nachttisch lag, aufzusetzen. Tatsächlich begann just in diesem Moment, ihr Magen zu knurren, und so stapfte sie mit Vorfreude auf das Frühstück, die Treppe runter, und folgte dem leckeren Duft von Rührei. Niemand konnte so gut kochen wie Ricke. Nicht einmal ihre Mutter, und das sollte was heißen.
"Ricke, du verzauberst mich schon mit dem betörenden Geruch. Was passiert, wenn ich das Frühstück tatsächlich esse? Kipp ich dann um vor lauter Freude?", wollte Wiebke wissen, und setzte sich an ihren Esstisch. Bei diesem Geruch lief ihr schon das Wasser im Mund zusammen. "Ich hab seit gestern Mittag nichts mehr gegessen... außer dem bisschen Zahnpasta, dass ich heute morgen verschluckt habe." Ricke lachte nur, und stellte ihrer Schwägerin in Spe das Omelett auf den Tisch.
"Und kommst du nachher mit nach Konstanz?", erkundigte sich Ricke, die gerade damit beschäftigt war Rocky, den zwei Jahre alten sandfarbenen Mastiff, von sich wegzuschieben, da er es offensichtlich auf ihr Brot abgesehen hatte.
"Rocky sitz!", befahl Ricke ihm, und er gehorchte sofort.
"Ich weiß es noch nicht...", begann Wiebke, bevor sie sich endlich über ihr Frühstück hermachen konnte. Und sie würde für dieses Omelett wirklich töten. "Ohhh Ricke, ich würde dich sofort heiraten, wenn du mir zeigst, wie du das machst..." Der Mund der blonden Frau war zwar komplett gefüllt mit Essen, doch hinderte es sie nicht daran, der Freundin ihres Bruders ein Kompliment zu machen. Mittlerweile hatte Rocky seinen Kopf auf ihrem Schenkel abgelegt, da er gemerkt hatte, dass es bei Wiebke das bessere Essen gab.
"Oh Freundchen, von mir bekommst du nichts. Das Essen teil ich nicht...", sagte sie, während ihr Blick zu dem Hund wanderte. Seine riesigen Knopfaugen schauten sie traurig an, als müsste er gleich verhungern, wenn sie ihm nichts geben würde.
"Na gut...", und schon wurde das kleine Stück vom Omelett, dass die blonde Frau Rocky hingehalten hatte, von ihm inhaliert, und ohne zu kauen hinuntergeschluckt. "Du gieriger Hund...", meldete sich Georg zu Wort.
"Wann fängt der Kampf heute an?" Erstaunt über die Frage von Wiebke, starrten Ricke und Georg sie an. Und ihr entging das nicht, jedoch war ihr das egal. Sie musste morgen nicht arbeiten, und hatte keinen Notfall Dienst. Also könnte sie heute auch Mal ein wenig länger weg bleiben. Außerdem wollte sie unbedingt auf andere Gedanken kommen... doch das musste ja keiner wissen.
"Also wir würden gegen 17 Uhr losfahren. Ich treffe mich noch mit ein paar Kollegen... der Kampf geht um 20 Uhr los." Georg wartete darauf, dass seine Schwester noch einen abfälligen Kommentar dazu sagen würde, doch sie aß einfach weiter, und nickte nur.
"Gut, dann fahr ich. Dann kann Ricke Mal entspannen." Die Arme musste sonst immer fahren, da sie nicht wollte, dass ihr Freund vor einem Kampf zu angespannt war, und wenn es nur vom Autofahren kam.
"Oh super. Meine Schwester kommt mit um mich anzufeuern", freute sich der Blonde, stand von seinem Stuhl auf, und gab seiner Freundin einen Kuss, was Wiebke rot werden und ihren Blick von den beiden abwenden ließ.
"Ich geh nochmal schnell ein wenig trainieren und dusch mich dann...wenn ihr mich braucht, lasst es mich wissen." Mit diesen Worten ließ er die zwei Frauen und den aufdringlichen Hund in der Küche zurück.
"Was hat dich dazu bewegt, jetzt doch mitzukommen?" Ricke war doch etwas erstaunt, da Wiebke tatsächlich sonst nie mitkam.
Doch sie zuckte nur mit den Schultern, und schluckte den letzten Rest ihres göttlichen Omletts genüsslich hinunter. Dann trank sie einen Schluck ihres Grüntees, den ihr Ricke ebenfalls hingestellt hatte, und antwortete ihrem Gegenüber dieses Mal ehrlich.
"Ich hab gestern Tobi gesehen... mit der Tochter vom Steinhart Bauer...", und mehr musste sie auch nicht sagen, dass ihr auch schon die Tränen kamen.
Ricke stand auf, und nahm ihre Freundin in den Arm. Sie wusste, was das in Wiebke auslösen musste. Tobi war Wiebkes heimlicher Schwarm seit der Grundschule. Er und seine Eltern waren vor 20 Jahren aus der Schweiz hergezogen, und die beiden waren die besten Freunde geworden. Doch mehr leider nie. Von seiner Seite war nie mehr Interesse da gewesen, und Wiebke hatte das irgendwann akzeptiert, doch offensichtlich war sie nicht darüber hinweg gekommen.
"Weißt du, was das für eine billige Schlampe ist... wie kann er sich nur mit ihr abgeben?" Die junge Frau schluchzte an Rickes Schulter, und durch den dünnen Stoff ihres Shirts fühlte sie, dass die Tränen von Wiebke schon alles durchnässt hatten. Gott, wie sie mit ihr litt.
"Ich weiß, dass du das nicht hören willst... aber er ist es nicht wert, dass du dich wegen ihm schlecht fühlst. Wenn er denkt, dass Teresa eine gute Wahl sei, dann ist er nicht der Mann, der dich verdient hat." Beruhigend strich Ricke mit ihrer rechten Hand über den Rücken der verletzten Frau.
Männer waren doch seltsame Wesen.
"Du solltest nicht Trübsal blasen, und dich lieber an den durchtrainierten, gut aussehenden Männern heute Abend freuen. Glaub mir, da ist bestimmt der Richtige für dich dabei... war es bei mir ja auch...", sagte die junge Frau, und grinste Wiebke frech an.
"Vielleicht, vielleicht auch nicht... ich will nur nicht an Tobias denken müssen..." erwiderte Wiebke, und wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen weg.
"Das verbiete ich dir auch... Pf, Tobias, wer ist das schon... und was ist das überhaupt für ein unmännlicher Name?"
Diese Frage brachte die junge Frau dann doch zum Lachen, und so konnte sie sich tatsächlich etwas auf den Abend freuen. Auch Rocky hatte offensichtlich ihre traurige Stimmung gespürt, zumindest sah es so aus. Er lag zu ihren Füßen, hatte seine Vorderpfoten und seinen Kopf auf ihren Füßen abgelegt, und schaue sie mit seinen großen Augen an als wollte er ihr damit sagen: Sei nicht traurig, ich bin doch noch da!
Und so konnte Wiebke nicht anders, und fuhr dem zuckersüßen Riesen über den felligen Kopf. "Du bist der beste, nicht wahr?"
Nach dem sie sich wieder etwas beruhigt hatte, hatte Ricke nochmal zwei Tassen Kaffee gemacht, und sie hatten über die Pferdegeburt in der vorangegangenen Nacht gesprochen. Ricke war erneut zu dem Entschluss gekommen, dass sie für so eine Arbeit nicht geschaffen war, und sie froh war, dass sie seit zwei Jahren als Kindergärtnerin arbeitete.
Um kurz nach 16 Uhr hatte sich Wiebke dann tatsächlich aufraffen können, um noch schnell unter die Dusche zu springen, und sich richtige Klamotten anzuziehen, damit sie dann auch pünktlich um 17 Uhr gehen konnten. Sie verzichtete darauf, ihre Haare zu waschen, da das laut Ricke unnötig wäre. In der Halle, in der der Kampf stattfand, wäre es sowieso so miefig, dass es nur Wasser- und Shampooverschwendung wäre.
In ihr großes Handtuch gewickelt, trat sie wieder in ihr Zimmer, und stand nun ratlos vor ihrem Kleiderschrank. Musste sie irgendwas bestimmtes anziehen? Oder konnte sie sich einfach ihre Jogginghose, die ihren Namen definitiv nicht verdient hatte, und ein Shirt anziehen? Das würde reichen.
Als würde dort drin jemand auf sie warten, für den sie sich hübsch machen musste. Es würde sie sowieso niemand beachten, da war sie sich sicher.
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