#4

Ich hatte das Gefühl, Blairs Blick die ganze Zeit in meinem Rücken zu spüren. Dabei war ich mir sicher, dass sie entweder den Lehrer oder ihre Notizen ansah. Blair war eine gute und vor allem ehrgeizige Schülerin und ich schätzte sie so ein, dass sie das sogar in der Berufsschule durchziehen würde.

Obwohl man in der Berufsschule nicht wirklich aufpassen musste, um mitzukommen. Die meiste Zeit zumindest.

Nach drei ewig langen langweiligen Schulstunden hatten wir endlich die erste Pause. Zeit für eine Runde zum Kiosk. Ich stand auf und war schon auf dem Weg zur Tür, als ich Noahs Stimme hinter mir hörte.

"Möchtet ihr beiden auch was vom Kiosk?"

Ich schloss kurz meine Augen. Es war klar, dass er mit Blair und Isabelle sprach und dass er eigentlich nur an Blair ran wollte.

Konnte ich das durchziehen? Ihm freie Bahn lassen?

"Ich komme mit!" Blair schnappte sich ihren Geldbeutel aus ihrer Tasche und sprang energisch auf.

Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie Blair an meiner Seite war und neben mir die Treppen hinunter lief. Ich hörte die Schritte von Noah und Isabelle hinter uns und war mir sicher, dass Noah sich gerade einen Plan zurechtlegte, wie er an Blair herankommen konnte.

"Das ist wirklich ein krasser Zufall, dass wir jetzt in der gleichen Klasse sind", plapperte Blair in ihrer liebenswerten Art vor sich hin, die ich so lange vermisst hatte.

"Ja, es ist wirklich kaum zu glauben." Ich versuchte nicht zu schroff zu wirken, aber der Schmerz saß einfach noch zu tief. Ich konnte sie nicht ansehen.

Am Kiosk standen noch ein paar Leute vor uns an und wir stellten uns brav hinten in die Schlange. Noah redete ununterbrochen und versuchte mit diversen Geschichten aus seinem Betrieb bei Blair Punkte zu sammeln. Blair hörte ihm zu, lächelte, warf zwischendurch einen Satz ein, aber ihr Blick huschte immer wieder zu mir.

Wir hatten uns lange nicht gesehen. Vielleicht zu lange. Aber vielleicht war der Zeitraum auch noch nicht lang genug gewesen. Ich für meinen Teil jedenfalls fühlte mich überhaupt nicht bereit, die nächsten drei Wochen auf so engem Raum mit Blair zu verbringen.

"Weißt du schon, welche Kurse du dieses Jahr wählst?" Blairs Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

"Mal sehen, ich versuche meine Zweitwahl von letztem Jahr zu bekommen."

Die Kurswahl war jedes Mal ein kleines Chaos. Man konnte sich an verschiedenen Ständen informieren und musste dann zwischen Pest und Cholera unterscheiden. Von den etwa zwanzig angebotenen Kursen gab es ungefähr vier, bei denen man wenigstens nicht gleich bei der Vorstellung einschlief. Ich hatte es geschafft, letztes Jahr zwei von diesen zu belegen, also würde ich dieses Jahr mein Augenmerk auf die anderen beiden richten.

"Also 'Kreation von Werbetexten' und 'Werbepsychologie'?", warf da auch schon Noah ein und ich hätte ihn beinahe erwürgt. Ich hatte vor Blair absichtlich nicht erwähnt, welche Kurse das waren.

"Du interessierst dich fürs Texten?" Blair sah mich verwundert an und ich zuckte mit den Schultern.

"Ich denke, es ist nicht verkehrt, wenn man als Marketingfachmann auch etwas vom Texten versteht." Marketing arbeitete zwar sehr viel mit Bildern, aber man durfte auch die sprachlichen Mittel keinesfalls unterschätzen.

"Den Kurs habe ich letztes Jahr schon belegt, ich fand ihn gar nicht mal so schlecht", erzählte sie weiter und ich wischte mir mental den Schweiß von der Stirn. Den Kurs würden wir also schon mal nicht zusammen haben. "Aber für Werbepsychologie wollte ich mich dieses Jahr auch bewerben, die beiden Kurse waren letztes Jahr schon voll." Und jetzt mit dem Kopf gegen eine Steinwand hämmern. Warum?

Ich überlegte schnell, ob es nicht ein anderes Wahlfach für mich gab, das annähernd so interessant wie 'Werbepsychologie' war.

...

Nein.

Also müsste ich mich entweder dafür entscheiden, freiwillig einen langsamen, qualvollen Tod der Langeweile zu sterben, weil ich irgendein anderes ödes Fach belegte, oder ich würde einen langsamen, qualvollen Tod des Liebeskummers sterben, da ich Blair nochmal zwei weitere Stunden pro Woche sehen würde und sie mich wahrscheinlich damit an den endgültigen Rand des Abgrunds treiben würde, indem sie sich dort auch noch neben mich setzte.

"Ja, ich habe auch schon daran gedacht!", kam es plötzlich von Noah, der noch letztes Mal deutlich gesagt hatte, dass 'Werbepsychologie' für ihn absolut nicht in die Tüte kam. Ich starrte ihn fast schon entgeistert an. In meinen Überlegungen musste ich also ernsthaft auch bedenken, dass Noah volle Pulle in die Offensive gehen würde.

Ich hasste mein Leben.

"Oh, wir sind dran!", meinte Blair plötzlich und schubste mich zur Theke des Kiosks. Ihre Berührung ließ mich kurz zusammenzucken, was mir einen verwunderten Blick von ihr einbrachte. Ich ignorierte ihn und wandte mich an die füllige Verkäuferin, die uns gelangweilt und abwartend ansah. Kurz wurde ich aus dem Konzept gebracht, als ich sah, dass sie doch eiskalt einen dezenten Oberlippenbart hatte.

"Ähm, eine Cola und..." Ich sah kurz zu Blair. "Ein Twix, bitte."

"Woher...?" Erstaunt sah Blair mich an.

"Oh, das wolltest du doch haben, oder?" Verwirrt sah ich sie an, sie kaufte sich immer ein Twix.

"Schon, aber..."

Und da realisierte ich es. Ich war einfach wieder automatisch in die Beste-Freund-Masche gerutscht. Ich kannte Blair immer noch so gut, dass ich wusste, was sie wollte. Und ich hatte ihr einfach wieder automatisch genau das geben wollen.

Ich atmete einmal tief durch und wandte den Blick ab.

Dann spürte ich, wie ihre kleine Hand sich um mein Handgelenk legte. Erst sah ich darauf herunter, dann zu ihr. Sie wollte gerade etwas sagen, als die mürrische, wenig hübsche Verkäuferin eine tiefe, aber krächzende Stimme preisgab.

"Das macht dann 2,40 Euro."

Ein wenig benommen zahlte ich, nahm das Getränk und die Süßigkeit entgegen, reichte das Twix gleich an Blair weiter und ging dann ein paar Schritte weg. Noah begann sich gleich wieder mit Blair zu unterhalten, die mir immer wieder fragende Blicke zuwarf.

Ich musste mich unter Kontrolle halten, so wie ich es das letzte halbe Jahr geschafft hatte. Wir konnten nicht einfach wieder dort anknüpfen, wo wir vor ein paar Monaten vor diesem verhängnisvollen Gespräch aufgehört hatten.

ICH konnte nicht einfach wieder dort anknüpfen. Zumindest wollte und sollte ich das nicht, weil es mich nur wieder in den Blair-Strudel ziehen würde, aus dem ich mich so mühsam gekämpft hatte.

"Nur noch eine Stunde überleben, dann können wir uns die Zeit auf dem Marktplatz vertreiben." Noah setzte den Begriff 'Marktplatz' mit einer Geste in Anführungszeichen. Der 'Marktplatz' war nichts anderes als der Haufen von Ständen, an denen die Kurse vorgestellt wurden. Höchst unspektakulär, vor allem, wenn man sich im letzten Jahr schon informiert hatte. Aber immerhin verplemperte man damit zwei Schulstunden, konnte mehr oder weniger tun und lassen, was man wollte und musste nur am Ende einen ausgefüllten Zettel mit der eigenen Wahl abgeben.

Ich hatte also noch genau hundertfünfunddreißig Minuten Zeit, um mir zu überlegen, ob ich wegen Blair auf Werbepsychologie verzichten wollte oder nicht.

***

"Noah ist ganz schön anhänglich, was?", hörte ich plötzlich Blairs Stimme neben mir flüstern. Noah war die ganze Zeit kaum von ihrer Seite gewichen, während wir an den Ständen vorbeigeschlendert waren und uns ab und an mal ein paar Sätze angehört hatten.

Jetzt liefen wir endlich wieder die Treppen zu unserem Klassenzimmer hoch. Ganze vierzig Minuten waren wir jetzt durch die Gegend gelaufen und hatten uns gelangweilt.

"Er ist eigentlich ein guter Kerl", antwortete ich ihr ein wenig widerwillig, aber es war die Wahrheit. Noah war wirklich ein Pfundskerl. Obwohl er mich gerade nervte. Aber er machte das ja nicht mit Absicht und konnte nicht wissen, wie es mir ging.

Ich setzte mich an meinen Platz und keine zwei Sekunden später saß Noah neben mir und drehte sich mit seinem Stuhl zu den Mädels um. Er hatte das Formular und einen Stift in der Hand und machte sich auf dem Tisch der Mädchen breit.

Irgendwie hatte er die Gabe, dass Mädchen nie von ihm genervt waren, egal was er anstellte.

"So, was nehmen wir denn jetzt Schönes? 'Social Media' wird wahrscheinlich eine ziemlich gemütliche Angelegenheit", sagte er und schrieb schon etwas auf seinen Zettel. Der Weg des geringsten Widerstandes. War ja klar. Das war so typisch Noah, dass ich schmunzeln musste.

"Pass auf, dass du dich nicht überanstrengst", ärgerte ich ihn, aber brachte ihn damit nur zum Grinsen.

Ich zückte meinen Bleistift, stützte meinen Kopf in eine Hand und versuchte dann in dem Zeitplan, der mir zur Verfügung stand, die vier Kurse unterzubringen, die in die engere Wahl kamen. Ich tendierte gerade dazu, Werbepsychologie doch als meine Zweitwahl einzutragen, als plötzlich Blairs Kopf neben mir auftauchte und sie auf mein Blatt sah.

Jetzt konnte ich meinen Plan ja schlecht umsetzen, da Noah vorhin schon seine Klappe so weit aufgerissen hatte.

Also trug ich Werbepsychologie als erste Wahl ein, so wie ich es ursprünglich geplant hatte und schon hatte ich meine Matrix fertig. Ich spürte Blair noch immer neben mir. Auf einmal legte sie ihr Blatt neben meines, das bereits mit Kuli fertig ausgefüllt war, sodass kein Zweifel blieb, dass sie keine Änderungen mehr vornehmen würde.

Bis auf einen Kurs stand exakt die gleiche Auswahl auf ihrem Blatt wie auf meinem.

"Wir scheinen noch immer ziemlich gleich zu denken", meinte sie leise, bevor sie sich wieder an ihren Platz setzte. Ihr Duft blieb noch einige Sekunden in meiner Nase hängen und gedankenverloren starrte ich auf das Blatt vor mir. Wieso war sie so? Es schien fast, als würde sie meine Nähe, den Kontakt zu mir suchen.

Aber wie konnte sie das so locker tun, nach unserem letzten Gespräch vor einem halben Jahr? Hatten wir nicht erst tausend Dinge zu bereden, bevor wir wieder ungezwungen miteinander umgehen konnten?

Mir ging es zumindest so.

Aber wollte ich darüber reden? Hieß das nicht nur, alte Wunden wieder aufzureißen, die gerade erst ein wenig anfingen zu heilen?

Es war zum aus der Haut fahren! Ich wusste selbst eigentlich nicht, was ich wollte. Zumindest nicht in der jetzigen Situation. Denn ich wollte Blair. Immer noch. Aber diese Option stand nicht zur Debatte und alles andere war einfach ungenügend.

Seufzend ließ ich den Kopf hängen und hielt mich den Rest der Zeit aus den Gesprächen der anderen heraus. Ich sah stur auf meinen Laptop, surfte ein wenig im Internet, las ein wenig auf Wattpad – immerhin war der eine oder andere Krimi gar nicht mal so schlecht, wenn man schon die ganzen Schnulzen nicht lesen konnte – und langweilte mich, bis unser Lehrer mich aus meinen Gedanken riss und unsere Formulare einsammeln wollte. Als ich mein Blatt abgegeben hatte, war es beschlossene Sache.

Ich würde die nächsten drei Wochen durch die Hölle gehen.


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