#2
Blair
Ich hatte alle laufenden Projekte an meine Mitarbeiterin übergeben und packte jetzt meinen Krempel zusammen. Wenn ich nach drei Wochen aus der Berufsschule zurück kam, dann wollte ich, dass mein Arbeitsplatz ordentlich aussah.
Schon ein Jahr war ich jetzt als Auszubildende bei 'Top!c', einer namhaften Werbeagentur, und durfte inzwischen schon eigene kleine Projekte betreuen. Natürlich hatte ich immer noch meine Ausbilderin, die einen letzten Blick darauf warf, aber es war ein tolles Gefühl, zu wissen, dass einem vertraut und die Arbeit, die man machte, geschätzt wurde. Und einen allzu schlechten Job schien ich auch nicht zu machen.
Dass ich jetzt drei Wochen in die Berufsschule musste, ging mir gewaltig gegen den Strich. Das war einfach immer absolute Zeitverschwendung. Den Stoff, den man auch in einer halben Stunde besprechen konnte, wurde von den Lehrern gerne auf drei Stunden aufgeteilt und in der Zwischenzeit musste man aufpassen, dass man sich nicht zu Tode langweilte.
Immerhin ließen mich die Lehrer meistens in Ruhe und ich konnte, wenn ich mit den Aufgaben fertig war, mehr oder weniger machen, was ich wollte, ohne dass ich Ärger bekam. Ich hoffte, dass meine Lehrer blieben, wenn die Klassen neu zusammengesetzt wurden.
Dass ich meine Ausbildung von drei auf zwei Jahre verkürzen konnte, war einmalig. Da hatten mir mein gutes Abi und auch meine guten Noten in der Berufsschule mal was genützt. Wobei ich für die Berufsschule sowieso kaum etwas lernen musste – aber das würde ich natürlich keinem meiner Lehrer oder gar meiner Ausbilderin auf die Nase binden. Kein Jahr länger als nötig würde ich mir die Berufsschule antun. Und ein Jahr früher ein volles Gehalt zu bekommen, war auch nicht verkehrt. Zumal ich inzwischen eine vollwertige Arbeitskraft war. Aber gut, so war das Leben eines Azubis eben.
Jetzt wollte ich aber erst einmal mein wohl verdientes Wochenende genießen, bevor am Montag die Hölle losging.
"Ciao!", rief ich noch in die Runde und meine Kollegen hoben verabschiedend die Hände. Vor mich hin summend begab ich mich nach draußen in die Kälte. Brrr, es war bitterkalt. Ich sehnte mich so sehr nach Wärme, Sonnenschein und am besten nach leckeren Drinks. Aber da wir gerade mal November hatten, würde das noch dauern...
Gut, die Drinks müssten ja nicht bis zum Frühling warten. Grinsend tippte ich eine Nachricht in den Gruppenchat meiner Freundinnen. Den Freitagabend musste man ja nicht zwingend zuhause verbringen.
***
Etwa zwei Stunden später betrat ich die Bar, in der wir uns treffen wollten. Ich war ein bisschen zu früh dran, aber dann konnte ich für uns vier schon mal einen Platz ergattern.
Kaum hatte ich den Gedanken gedacht, ging hinter mir die Tür auf und Beatrice kam hereinstolziert. Ihre langen Beine sahen in ihrer schwarzen Röhrenjeans übertrieben dünn und lang aus, aber es passte zu ihrer schlanken Figur. Die blonden Haare hingen geglättet nach unten. Verwirrt blickte sie sich um.
"Hey, du bist ja schon da!", rief sie, als sie mich sah.
"Grad gekommen", grinste ich und wir umarmten uns. Sie war ein gutes Stück größer als ich, vor allem, wenn sie wie heute High-Heels mit haushohen Absätzen trug. Als ob sie nicht eh schon groß genug war.
Ich war so ziemlich die kleinste in meiner Freundesgruppe, aber die meiste Zeit machte es mir nichts aus. Nur wenn Beatrice die zwei Meter meilenweit überschritt, tat mir der Nacken vom Hochstarren weh, was dann weniger toll war.
Aber als sie sich neben mich setzte, während wir auf die anderen warteten, war der Unterschied nicht mehr ganz so groß. Wir steckten unsere Köpfe gerade zu zweit in eine Getränkekarte, als uns beiden von hinten die Augen zugehalten wurden.
"Ihr erratet nie, wer wir sind", versuchte sich Cassandra an einer verstellten, tiefen Stimme, die ihr fürchterlich misslang. Mary verriet sich sowieso gleich durch ihr Kichern. Das waren unsere Freundinnen, keine Frage.
"Stimmt, niemals", kommentierte Bea auch schon trocken und noch mehr kichernd setzten die anderen beiden sich zu uns.
"Habt ihr schon bestellt?" Wenn einer viele Cocktails trinken konnte, dann Mary. Im Ernst, KEINER trank so viele Cocktails wie sie und war danach noch ansprechbar. Sie war nur einen kleinen Zentimeter oder so größer als ich, ich hatte also keine Ahnung, wo sie den Alkohol hinsteckte.
"Nein, noch nicht, wir sind gerade am Suchen", antwortete ich und reichte den beiden die zweite Karte über den Tisch hinweg, die sie sofort aufschlugen und wie Bea und ich gerade ihre Köpfe hineinsteckten.
Ich beschloss, heute wagemutig zu sein: Der Barkeeper sollte mir mixen, was immer er wollte.
Ich beobachtete meine Freundinnen, während sie total vertieft in die Karten starrten und musste schmunzeln. In manchen Dingen waren wir so verschieden und in anderen wieder so ähnlich, aber gerade das machte meine Freunde zu etwas so Besonderem.
Mich selbst würde ich eher als zurückhaltender und ruhiger einschätzen, auch wenn ich lustig sein konnte. Aber gerade Cassy und Bea waren wirklich extrovertiert. Sie fühlten sich in jeder neuen Gruppe sofort wohl, knüpften schnell neue Kontakte und waren nie fehl am Platz. Und trotzdem kehrten sie immer wieder zu ihrem engsten Freundeskreis zurück, nämlich zu uns vieren.
Wir kannten uns schon recht lange, Bea und Mary waren mit mir in der Grundschule gewesen und Cassy war dann auf dem Gymnasium zu unserer Gruppe dazu gestoßen und die drei waren für mich wie die Schwestern, die ich nie hatte.
Stattdessen hatte ich einen überfürsorglichen Zwillingsbruder an der Backe, den ich zwar liebte und zu dem ich auch eine besondere Bindung hatte, aber manchmal konnte er schon ziemlich nerven. Reif wie er war, hielt er mir ständig unter die Nase, dass er der ältere von uns beiden war – mit immerhin etwa eineinhalb Minuten, da wir per Kaiserschnitt auf diese Welt geholt worden waren.
Und jetzt dachte er, dass er das Recht hatte, über mich zu bestimmen, dass er mir sagen konnte, was ich durfte und was nicht, dass er immer alles besser wusste und dass ich nie im Leben auf mich selber aufpassen könnte.
Tz.
Heute war er zum Glück nicht zu Hause gewesen, als ich zur Bar losgezogen war. Sonst hätte ich mir wieder einen ellenlangen Vortrag darüber anhören dürfen, wie groß das Risiko war, dass ich vergewaltigt, ausgeraubt oder von Aliens entführt wurde, bla bla bla. Es freute mich natürlich, dass wir ein gutes Verhältnis zu einander hatten und dass er sich um mich sorgte, aber manchmal war es einfach zu viel des Guten. Vor allem da wir beide jetzt neunzehn waren – erwachsen also.
"Ich spüre es, heute Abend wird genial!" Mary wedelte begeistert mit den Händen, während sie sich ihren Cocktail aussuchte. Mit ihr wurde es nie langweilig, sie hatte eine unbändige Energie und eine Lebensfreude, die unübertrefflich war. Sie studierte Skandinavistik, weil sie irgendwann einmal nach Island ziehen wollte. Dass sie nur dafür fünf Jahre lang gleich alle skandinavischen Sprachen lernen wollte, verstand ich nicht wirklich. Aber das Uni-Leben, das Lernen, das Lesen war einfach genau was für sie.
"Ich brauche definitiv was Starkes", seufzte Cassy. "Ich hatte heute im Laden nur unfreundliche Kunden. Alle haben mich angeschnauzt, sich beschwert oder am Ende doch nichts gekauft. Und mein Rücken tut vom Stehen weh!", klagte sie. Keiner von uns beneidete Cassys Arbeit im Schuhgeschäft. Naja, abgesehen davon, dass sie ungelogen hundertdrei Paar Schuhe hatte, weil sie ja einen Mitarbeiterrabatt bekam. Und natürlich hatte sie doppelt so große Füße wie ich, weshalb ich mir nie welche von ihr ausleihen konnte.
"Okay, haben wir's? Dann gehe ich bestellen", riss Bea mich aus meinen Gedanken und stand auf.
"Der Barkeeper soll mich überraschen", meinte ich, was die anderen aufjaulen ließen.
"Uuuh, endlich kommst du mal aus dir raus!", neckte Mary mich und sagte Bea, dass sie ein Piña Colada wollte.
"Ich will einfach mal was Neues probieren." Ich zuckte ganz unschuldig mit den Schultern.
"Einen Whisky Sour für mich", sagte Cassy zu Bea, die darauf hin verschwand, und grinste mich dann vergnügt an.
"Magst du nicht deinem Bruder schreiben und fragen, ob er auch kommt?"
Ich verdrehte genervt die Augen. "Definitiv nicht, endlich habe ich mal meine Ruhe von ihm!"
"Ach komm, bitte..." Cassy zog eine Schnute und ich konnte ihrem bettelnden Blick fast nicht widerstehen. Sie hatte einen kleinen Crush auf meinen Bruder und der Gedanke ekelte mich irgendwie an. Bastian stand mir einfach viel zu nahe und der Gedanke an ihn mit... mit irgendwem, war einfach nicht auszuhalten.
Gut kannte Cassy ihn auch nicht wirklich, Bastian und ich waren in der Schule immer in den Parallelklassen gewesen. Sowohl der Direktor als auch unsere Eltern waren der Meinung gewesen, dass es meinem Bruder und mir schaden würde, in die gleiche Klasse zu gehen. Cassy hatte ein paar Mal mit ihm gesprochen und ihn natürlich gesehen, wenn sie mich besucht hatte. Das wars dann auch schon.
"Vergiss es. Er hat eh keine Zeit, er ist bei Damian", erklärte ich und senkte den Blick auf die Tischplatte.
"Er kann doch einfach mitkommen?", schlug Mary vor, doch da schüttelte ich bereits den Kopf.
"Er will mich nicht sehen, schon vergessen?"
"Bei euch herrscht immer noch Funkstille?" Mary sah mich ungläubig an. "Wie lange habt ihr denn nicht mehr miteinander gesprochen, ein halbes Jahr?"
"Mehr als ein halbes Jahr." Und ich vermisste Damian. Es war immer so locker und unbeschwert mit ihm gewesen. Ich war gerne mit ihm zusammen. Aber mehr?
Abgesehen davon hätte Bastian das nie zugelassen.
Ich hatte Damian offen gesagt, woran er bei mir war. Und ich dachte, das wäre okay für ihn. Er hatte doch gesagt, dass es okay für ihn wäre.
Und dann sahen wir uns plötzlich kaum noch, schrieben nicht mehr und wenn, nur kurz, liefen uns nicht mehr zufällig über den Weg, bis er plötzlich wie aus heiterem Himmel kam und mir eröffnete, dass er 'das' nicht mehr konnte.
"Das wird schon wieder, er wird sich beruhigen", riss mich Marys aufmunternde Stimme aus meinen Gedanken, die gerade drauf und dran waren, in düstere Gefilde abzudriften. Und da hatten meine Gedanken heute Abend nichts verloren. Ich versuchte, das schlechte Gewissen, das sich immer bei mir meldete, wenn ich an Damian dachte, abzustellen. Es war wahrscheinlich von mir nicht fair gewesen, noch mit ihm befreundet sein zu wollen, obwohl er für mich Gefühle hatte. Ich hätte mehr Rücksicht auf ihn nehmen sollen, hatte aber nur an mich selber gedacht. Das hatte ich mittlerweile eingesehen.
"Hier sind die Cocktaaaails", rief Bea munter, als sie mit den ersten beiden Cocktails in der Hand ankam und dann nochmal schnell die anderen beiden von der Theke holte. "Und das hier ist dein Spezial-Cocktail, mit besten Grüßen von dem süßen Barkeeper." Grinsend stellte sie ein orangefarbenes Getränk vor mich.
Ich nahm einen Schluck davon und ließ den Geschmack auf meiner Zunge zergehen. Überwiegend sauer mit einer leicht süßlichen Note. Alkohol, aber nur dezent, nicht zu aufdringlich. Perfekt.
Lächelnd hob ich mein Glas in Richtung Barkeeper und nickte anerkennend, was er grinsend mit einer angedeuteten salutierenden Bewegung entgegen nahm.
"Blair, Blair, Blair, was ist denn heute Abend in dich gefahren?" Cassy sah mich überrascht, aber grinsend an.
"Gewöhnt euch besser nicht dran", erwiderte ich zwinkernd. Heute fühlte ich mich danach, aber morgen würde ich schon wieder die ruhige, zurückhaltende Blair sein, die ich nun mal war. Und das war gut so.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top