S e v e n t y - f o u r

Kapitel: Fünf Jahre und ein Augenblick

Graysons POV

Ich sehe sie.

Da steht sie, nur wenige Meter entfernt. Nach fünf Jahren, fünf endlosen Jahren voller Schmerz und Sehnsucht, sehe ich endlich Leyla. Für einen Moment bleibt die Welt um mich herum stehen. Alles wird still – die Stimmen der Kinder, das Rascheln der Blätter, selbst mein eigener Atem.

Es ist wirklich sie.

Mein Herz schlägt schneller, als könnte es mit der Intensität dieses Augenblicks nicht mithalten. Mein Körper fühlt sich schwer und leicht zugleich an, und meine Knie drohen unter der Last von Emotionen nachzugeben, die ich kaum kontrollieren kann. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, unfähig, mich zu bewegen, als wäre ich in einem Traum gefangen.

Sie läuft hin und her, beschäftigt, ihre Bewegungen sind hektisch, und doch ist sie für mich das Zentrum des Universums. Jede Kleinigkeit an ihr zieht mich in ihren Bann: die Art, wie sie ihre Haare hinter das Ohr streicht, die leichte Kurve ihres Rückens, ihre unsicheren Schritte.

Doch je länger ich sie beobachte, desto mehr bemerke ich die Veränderung. Ihre Schultern wirken schwerer, ihre Augen müde. Es ist, als hätte sie eine Last getragen, die sie nicht loslassen konnte. Der Gedanke, dass sie genauso gelitten hat wie ich, dass sie vielleicht jede Nacht geweint und keine Ruhe gefunden hat, schnürt mir die Kehle zu.

Ich will sofort zu ihr laufen, sie in meine Arme nehmen, ihr sagen, dass alles gut wird. Doch ich kann nicht. Meine Beine gehorchen mir nicht.

Plötzlich, als würde sie meine Blicke spüren, bleibt sie stehen. Langsam dreht sie sich um, und unsere Augen treffen sich.

Ihre Lippen öffnen sich leicht, als würde sie etwas sagen wollen, doch kein Laut kommt heraus. Ihre Augen weiten sich, und ich sehe, wie Tränen in ihnen aufsteigen. Es ist ein Blick, der all die Jahre, all den Schmerz und all die Liebe in sich trägt.

Meine Brust zieht sich zusammen, mein Atem stockt. Es ist wirklich sie. Nach all dieser Zeit...

Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Der Raum zwischen uns wird bedeutungslos, die Welt um uns verblasst. Es gibt nur sie und mich.

Leylas POV

Ich sehe ihn.

Grayson.

Er steht da, mitten auf dem Spielplatz, als wäre er aus meinen Träumen in die Realität getreten. Mein Körper erstarrt, mein Herz rast, und es fühlt sich an, als würde die Welt plötzlich in Zeitlupe verlaufen.

Ich blinzele, unsicher, ob das wirklich passiert. Kann das wahr sein? Nach fünf langen Jahren, in denen ich ihn nicht gesehen, nicht gehört, nicht gespürt habe, steht er einfach da.

Sein Blick trifft meinen, und in diesem Moment wird mir klar, dass es kein Traum ist. Es ist Wirklichkeit.

Mein Körper beginnt zu zittern, und ich spüre, wie sich die Tränen in meinen Augen sammeln. Mein Atem geht schneller, während meine Gedanken wie ein Sturm durch meinen Kopf rasen. Ist das wirklich Grayson? Wieso fühlt es sich an, als wäre die Zeit nie vergangen? Wieso sieht er aus, als hätte er genauso gelitten wie ich?

Er wischt sich mit der Hand über das Gesicht, und ich sehe, dass auch er weint. Die Art, wie er mich ansieht, voller Liebe, voller Schmerz, voller Sehnsucht, bringt meine letzte Barriere zum Einsturz. Die Tränen laufen unkontrolliert über meine Wangen.

„Gray?" flüstere ich, kaum hörbar. Es ist alles, was ich sagen kann.

Sein Lächeln ist schwach, aber echt. Langsam hebt er die Arme, als wollte er mich zu sich rufen, mich in seine Welt ziehen.

In diesem Moment gibt es keinen Zweifel mehr. Es ist Grayson. Mein Grayson.

Ich renne los, meine Beine bewegen sich von allein, als wären sie von einer unsichtbaren Kraft angetrieben. Mein Körper weiß, was mein Verstand noch immer kaum glauben kann.

Graysons POV

Sie rennt auf mich zu. Ihr Gesicht ist von Tränen überströmt, und ich sehe, wie sich ihre Lippen bewegen, doch ich höre nichts außer dem Pochen meines eigenen Herzens.

Und dann spüre ich sie. Ihre Arme um mich, ihre Wärme, die mich umhüllt wie eine Decke an einem kalten Tag. Sie springt auf, schlingt ihre Beine um meine Hüften, und ich halte sie fest, so fest, als würde ich sie verlieren, wenn ich loslasse.

Die Jahre der Trennung verschwinden. Es gibt nur noch diesen Moment, diesen Ort, und sie in meinen Armen.

„Leyla", flüstere ich, meine Stimme bricht unter der Last der Emotionen.

Ihre Tränen durchnässen mein Hemd, ihre Arme zittern, aber ich lasse sie nicht los. Nie wieder.

Das Klingeln des Schulglöckchens reißt uns aus unserem Moment. Kinder stürmen aus der Tür, rufen nach ihren Eltern, lachen, rennen. Es ist ein fröhliches Chaos, doch ich höre nichts davon. Alles, was ich wahrnehme, ist Leyla.

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch plötzlich verändert sich ihr Gesichtsausdruck.

„MAMAAAAA!"

Die Kinderstimme schneidet durch die Luft wie ein Messer. Ich sehe, wie Leyla sich abrupt umdreht. Ein kleiner Junge läuft auf sie zu, sein Gesicht strahlt vor Freude.

Leyla kniet sich zu ihm herunter und breitet die Arme aus. „Hey, mein Engel."

„Mama, guck mal, was ich gemalt habe!" Der Junge hält ein Bild hoch. Darauf ist eine einfache Zeichnung zu sehen: eine Familie, Bäume, ein Haus.

„Das bin ich", erklärt er, sein kleiner Finger zeigt auf eine Figur. „Das bist du... und das ist Papa."

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich starre auf die Zeichnung, unfähig, die Worte zu verarbeiten. Der Junge schaut zu Leyla auf und fragt: „Mama, gehen wir jetzt zu Papa?"

Die Worte treffen mich wie ein Schlag. Ich spüre, wie meine Hände zittern, und plötzlich scheint die Luft um mich herum schwerer zu werden.

„Du hast dein Versprechen gebrochen." Die Worte verlassen meine Lippen, bevor ich darüber nachdenken kann.

Leyla dreht sich zu mir um, ihre Augen weit vor Schock. „W-was?"

„War das der Grund, warum du nie auf meine Briefe geantwortet hast?" Meine Stimme ist ruhig, fast unnatürlich, aber ich spüre, wie sich eine Wut in mir aufbaut.

„Briefe?", fragt sie, sichtlich verwirrt.

Ich schüttele den Kopf, meine Hände ballen sich zu Fäusten. „Du hast dein Versprechen gebrochen. Du hast gesagt, dass du immer auf mich warten wirst. Dass du nur mir gehörst. Und jetzt... jetzt erfahre ich das?"

„Grayson, bitte, lass es mich erklären—"

Ich weiche zurück, schlage ihre Hände weg, die nach meinen Wangen greifen wollen. „Nein! Ich will es nicht hören."

„Grayson!" Sie weint, ihre Stimme bricht, doch ich drehe mich um und gehe.

Ich spüre, wie ihre Schritte hinter mir schneller werden. Sie ruft meinen Namen, fleht mich an, stehen zu bleiben, doch ich kann nicht. Die Wut und der Schmerz sind zu groß.

Ich steige in mein Auto, schließe die Tür und starte den Motor. Leyla klopft an die Fensterscheibe, Tränen laufen unaufhörlich über ihr Gesicht.

„Grayson, bitte! Lass mich dir alles erklären!"

Ich ignoriere sie, starre nach vorne und fahre los.

Ihr letzter Ruf hallt in meinen Ohren: „Graysooooon!"

Leylas POV

Ich bleibe stehen, starre dem Auto hinterher, das immer kleiner wird, bis es schließlich verschwindet. Mein Sohn zieht leicht an meinem Arm.

„Mama, wer war das?"

Ich wische meine Tränen weg, zwinge ein schwaches Lächeln auf mein Gesicht und gebe ihm einen Kuss auf die Wange.

„Komm, mein Engel. Lass uns nach Hause gehen."

Doch tief in meinem Inneren weiß ich, dass nichts mehr so sein wird wie vorher.

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