Engel (Lena)

lena liebes, du bekommst diesen one shot jetzt einfach so spontan, weil ich dich echt lieb gewonnen habe und ich letztens eine idee bekommen habe, die dir hoffentlich gefallen wird - zumindest bete ich dafür.

"Lara? Du solltest Feierabend für heute machen!" Meine beste Freundin streckte ihren Kopf durch die offene Tür meines Ateliers und blickte mich sorgenvoll an, so wie sie es in den letzten Tagen schon oft getan hatte. Seufzend ließ ich den Bleistift aus meinen Fingern gleiten, dann erhob ich mich von meinem Schreibtisch und griff nach meiner Jacke, die ich vorhin achtlos in die Ecke geschmissen hatte.

"Ich schätze, ich sollte noch einen Spaziergang machen", murmelte ich mit belegter Stimme, woraufhin Ina ihre Hand nach mir ausstreckte. "Soll ich mitkommen?", schlug sie vor, woraufhin ich allerdings nur den Kopf schüttelte. "Nein, danke. Ich denke, ich muss jetzt allein sein", sagte ich, ehe ich mich an ihr vorbeischob, um die Treppen hinunter zur Haustür zu hüpfen.

Nachdem ich mir auch meine Schuhe angezogen hatte, schnappte ich mir nur noch kurz mein Tagebuch, das ich immer auf der Fensterbank neben der Tür liegen hatte, um danach in die Dunkelheit zu verschwinden. Erst als mich der laue Wind der Nacht umgab, spürte ich, wie ich mich langsam entspannte und mit jedem Schritt der Stress von mir abfiel.

Seit ich vor einem halben Jahr zu Ina gezogen hatte, damit ich mich auf die Schreiberei und das Zeichnen konzentrieren konnte, ohne meinen Eltern mit meiner Kreativität, die zufolge hatte, dass ich alles andere vernachlässigte, unnötig auf den Zeiger zu gehen, sorgte sich meine beste Freundin ganz besonders um mich.

Dabei war das Ereignis, das mein komplettes Leben aus den Fugen gehoben und mich in Ohnmacht gehüllt hatte, bereits acht Monate her und mittlerweile hatte ich sogar schon wieder das Gefühl, nachts nicht mehr von den Szenen jenes Tages heimgesucht zu werden, sondern zumindest wenige Stunden Schlaf finden zu können.

Dennoch  war ich immer noch verletzlich bei dem Thema, und wahrscheinlich sah ich nach wie vor wie der Geist persönlich aus, wenn Ina abends in mein Atelier sah und mich aus meinen Gedanken riss. Seufzend wechselte ich nach einem prüfenden Seitenblick die Straße und fummelte gleichzeitig meine Kopfhörer aus meiner Hosentasche, um sie in mein Handy zu stecken und Musik anzumachen.

Prompt drang Ed Sheerans Stimme an mein Ohr, die mich sofort ruhiger werden ließ und mich auf meinem Weg zum Friedhof begleitete. Dort angekommen verlangsamte ich schlagartig mein Tempo und hörte über den Song hinweg, wie die Kieselsteine unter meinen Stiefeln knirschten. Kaum hatte ich jenes Grab, das auf der einen Seite mein Herz in tausend Stücke zerbersten ließ, mir aber auf der anderen Geborgenheit und Trost spendete, erreicht, wurden meine Augen feucht.

Ein leises Schluchzen unterdrückend wechselte ich das Lied zu Supermarket Flowers und ließ mich anschließend vor dem Grabstein nieder, wodurch ich die perfekte Sicht auf den Geburtstag und das Sterbedatum meines Bruders hatte. "Hallo, Engel", wisperte ich, während winzige Tränen meine von der Kälte tauben Wangen hinunter rannen.

Eine Weile ließ ich es zu, dass ich meiner Trauer nachgab und weinte, bis ich schließlich ein Taschentuch hervorkramte und mir energisch die Nase putzte, denn insgeheim hasste ich es, wie ich immer noch unter dem Tod meines Bruders litt und zeitweise immer noch fast unfähig war, auch nur ein Schritt ohne ihn zu gehen.

Ich war wahrlich keine Vorzeigeschwester gewesen und wahrscheinlich hatten wir uns für die Kürze seines Lebens viel zu oft gestritten, aber trotzdem vermisste ich ihn mit jeder Faser meines Körpers und wünschte inständig, er würde wiederkommen, nur damit ich ihn noch ein einziges Mal umarmen und ihm sagen könnte, wie sehr ich ihn liebte.

Inzwischen hatte ich erneut begonnen, zu weinen, weshalb ich mein Gesicht in meinen Händen vergrub, da ich nicht wollte, dass gleich die ganze Stadt von meinem Kummer erfuhr. Komplett in meiner eigenen Welt versunken bemerkte ich erst spät die Gestalt, die plötzlich neben mir stand und sich mitfühlend zu mir hinunter beugte.

"Alles okay?", wollte die Person wissen, was ich erst mit einem unschlüssigen, fast trotzigem Schulterzucken beantwortete, ehe ich realisierte, woher ich die Stimme kannte, die sich so rau und doch so weich anhörte, als habe ihr Besitzer Angst, jemanden damit zu verletzen.

"Harry?", fragte ich ungläubig, was mein Gegenüber in verlegenes Kichern versetzte. "Lara?", riet er, mir auf die Beine helfend und mich eingehend musternd. "Was machst du hier?" Ich nickte niedergeschlagen in die Richtung meines Bruders. "Das Grab meines Bruders besuchen", erwiderte ich, woraufhin sich seine ohnehin schon sanfte Miene noch einmal voller Mitgefüh füllte. "Ich wusste gar nicht....", stammelte er, brach dann allerdings leicht überrumpelt ab und raufte sich stattdessen die braunen Locken.

Harry und ich waren jahrelang in der gleichen Schule gewesen, bis er mit 15 schlagartig weggezogen war. Damals - also vor drei Jahren - hatten wir uns prächtig verstanden, bis sich unsere Wege letztendlich getrennt hatten. Ihn jetzt hier wiederzusehen, versetzte mich in Staunen, wodurch ich erst einmal ein paar Mal überrascht blinzeln musste, bevor ich abwinken konnte.

"Ist schon okay. Er ist vor acht Monaten an Krebs gestorben", erklärte ich, mir unwillkührlich auf die Lippe beißend. "Hey, nicht weinen, okay?", säuselte Harry beruhigend und legte schützend einen Arm um mich, damit er mich gen Ausgang lotsen konnte. Obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, noch länger zu bleiben, ließ ich mich dennoch mitziehen - immerhin kam es selten vor, dass man quasi in seinen dunkelsten Stunden gerettet wurde, erst recht nicht von einem Menschen, mit dem man sicherlich nicht gerechnet hatte.

"Magst du mit mir in die Galerie meines Vaters kommen? Ich könnte uns heißen Kakao kochen, so wie früher", bot er an, was ich dankend annahm. Als wir noch jünger waren, hatten wir es schon geliebt, regnerische Samstage in der Galerie von Mr. Styles zusammen mit Kakao und Unmengen von leeren Leinwänden, die wir bearbeiten durften, zu verbringen.

Dadurch hatte sich nicht nur meine Liebe für Heißgetränke oder diesen unglaublichen Jungen mit den unheimlich süßen Grübchen entwickelt, sondern auch die Liebe zu Kunst, immerhin war ich inzwischen begeisterte Zeichnerin und verbrachte Stunden damit, so Geschenke für Famile und Freunde zu gestalten.

Sobald wir jene Galerie erreicht hatten, überkam mich sofort eine Woge der Erinnerung und Zufriedenheit, auch wenn ich mit einem schmerzenden Stechen in der Brust mein Tagebuch in meiner Jackentasche fester umklammerte. Harry schien das aufzufallen, weil er ohne Umschweife erneut an meiner Seite war.

"Soll ich Musik anmachen?", fragte er aufmunternd, was ich mit einem tapferen Nicken bestätigte. Wenige Sekunden später drang Halsey aus den Boxen, wodurch ich fast vor Freude ausflippte. "Sie ist mein absolutes Idol!", jauchzte ich. "Woher weißt du das?" Begeistert klatschte ich in die Hände, denn früher hatten Harry und ich uns weder über Musik im Allgemeinen, noch über diese wundervolle Sängerin im Besonderen unterhalten, zumal ich sie damals eh noch nicht gekannt hatte.

Grinsend kam er wieder auf mich zu, die Hände in der Bauchtasche seines Kapuzenpullis versteckt, während er leise den Text zu Colors mitsummte. Augenblicklich ließ auch ich mich hireißen, zu singen, woraufhin  er die Chance packte und mich zum Tanzen aufforderte. Auch wenn er zwei linke Füße hatte, brachten wir es tatsächlich fertig, irgendeine Art von rhythmischer Bewegung passend zur Musik zu kreieren, weshalb wir uns relativ schnell vor Lachen nicht mehr halten konnten, da es bestimmt richtig bescheuert aussah.

"Wow", hauchte ich, als ich wieder auf dem Parkett, umgeben von den Gemälden, saß und an meinem Kakao nippte, als hätte ich eine Zeitreise unternommen. "Was?", erkundigte Harry sich neugierig, der neben mir saß und mich schief angrinste. "Du hast es geschafft, dass ich meine Sorgen tatsächlich für einen Moment vergesse", gab ich zu, was ihn zum Strahlen brachte. "Das war meine Intention. Nachdem ich meinen Großvater besucht habe, habe ich dich weinen hören und wollte sichergehen, dass es dir gut geht."

"Ich hab dich vermisst", flüsterte ich, weswegen er zustimmend seufzte. "Ich dich auch, Lara. Aber nach der Trennung meiner Eltern war es das Beste für mich, einfach mit allem abzuschließen." Abermals an diesem Abend spürte ich, wie Tränen sich in meinen Augenwinkeln sammelten, die ich allerdings rasch wegblinzelte.

"Und warum bist du wieder hier?"

"Ich hab wieder Kontakt zu meinem Vater aufgenommen und besuche ihn gerade", erzählte er, aber bevor ich weiter nachhaken konnte, stupste er mich an. "Und du?" "Mhm", machte ich nachdenklich, bis mir mein Tagebuch einfiel. Zwar hatte ich es bis jetzt noch niemandem gezeigt, doch nun beschloss ich, Harry die eine Zeichnung zu präsentieren, die ich einmal von uns gefertigt hatte, auf der wir Händchen haltend auf einer Schaukel saßen.

"Das sieht fabelhaft aus!", lobte er mich überwältigt, wobei seine Grübchen immer tiefer wurden und er ein wenig unsicher meine Hand ergriff. "Das müssen wir mal wieder machen." "Was?", wollte ich mit gerunzelter Stirn wissen, wodurch er nur noch breiter grinste.

"Na schaukeln!"

Lachend warf ich den Kopf in den Nacken. "Klar können wir das", kicherte ich, als er mir, frech wie er war, das Buch klaute und zaghaft umblätterte. Erst wollte ich ihn davon abhalten, aber dann war es schon zu spät und er konnte das sehen, was mir mittlerweile mit am meisten bedeutete.

"Warte... ist das nicht dein Bruder?", schätzte er, mir vorsichtig einen Blick zuwerfend, den ich bestätigte. "Ja... Er... er ist an Lungenkrebs gestorben", flüsterte ich, mit einem Mal furchtbar wieder traurig. "Das tut mir leid... warum... warum hast du dich nie gemeldet?"

"Na ja... du hast dich doch auch nie gemeldet", stotterte ich, leicht schniefend, weshalb er mir sofort tröstend einen Arm um die Taille legte. "Ich war ein Idiot", meinte er zerknirscht und ich ließ zu, dass er sein Gesicht in meinem Nacken vergrub, wodurch ich seinen herben Duft einatmen konnte, der mir eine Gänsehaut bescherte.

"Das wird mir nicht noch einmal passieren", versprach er, was mich zum Lächeln brachte. "Wirklich?", bohrte ich nach und hielt ihm den kleinen Finger für einen Schwur hin. "Versprochen!", rief er enthusiastisch, danach hakte er seinen kleinen Finger bei mir ein und scannte mich mit seinen smaragdgrünen Augen erst eine lange Zeit, bis er sich schließlich wieder vorbeugte und seine Lippen behutsam an meine Wange presste.


ich hoffe, er gefällt dir. (ich weiß, s ist nicht an krebs gestorben, aber hier hat es irgendwie besser gepasst xx)


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