Kapitel 10

Nach ein paar Wimpernschlägen war ich wieder bei einem schummrigen Bewusstsein und ein leichter Geruch von Desinfektionsmittel stieg in meine Nase. Natürlich war ich im Krankenhaus doch mein Zeitgefühl war überhaupt nicht gut. Durch die Schlitze der bis zur Hälfte geöffneten Jalousien erkannte ich die einbrechende Nacht. 

Erlebnis von vor  8 Jahren:
"Tante Linda, was macht Papa da draußen?" 
"Schatz bitte geh von den Jalousien weg sonst mach ich sie ganz runter. Du solltest dich beeilen deine Tasche zu packen, sonst kommen wir erst heute Nacht bei mir an.", antwortete sie während ihr mütterlicher Blick ausnahmsweise nicht auf mir, sondern dem Kinderbettchen von meiner Schwester  Laila. Sie schläft gerade so niedlich und ich werde bestimmt ein toller großer Bruder. Niemand wird ihr je etwas böses antun, solange ich lebe.
Ich distanzierte mich vom Fenster doch mein Blick haftet an dem Geschehnis draußen. Was macht Papa da mit der Nachbarin und geht nicht wieder zu uns nach Hause?  Bestimmt reden sie nur über langweilige Sachen was Erwachsene nun mal so reden. Geht er da etwa in ihr Haus. 
Oh, bestimmt ist Papa warm und zieht deshalb sein Hemd aus. Er schmeißt es auf unseren Rasen und unser Sprinkler wird es bestimmt gleich durchnässen. Schnell rannte ich raus um es zu retten und Tante Linda konnte mich nicht zurück halten, weil ich so schnell geflitzt bin. 
Draußen angekommen warf ich mich vor unseren Rasensprenger und fühlte mich wie ein Held, da das Hemd von Papa keinen Tropfen abbekommen hat. Freudig lief ich in das Haus von unserer Nachbarin um ihm meine Heldentat zu erzählen. Vielleicht fängt er dann an mich zu mögen und darf mal vielleicht Laila im Arm halten. "Papa..."sprach ich geschockt. Haben Papa und die Nachbarin sich schmutzig gemacht und wollten sich deshalb kurz umziehen?
Und da war er . Der Augenblick der sich in mein Hirn brannte und jedes Mal wenn diesen Mann sehe, hasse ich ihn ein Stückchen mehr. Dieser grausame Mensch rannte in diesem Zustand ins Haus und zog mich hinterher in einem Tempo, welches ich nicht einhalten konnte also schlitterte ich den halben Weg auf Knien über den Garten und hin und wieder traf ich auf paar Kieselsteine, welche sich teilweise in meine Haut bohrten. Im Haus angekommen sperrte er sich mit mir ins Schlafzimmer und schlug mir ins Gesicht. Nicht nur einmal. Ab dem dritten Schlag fühlte ich nichts mehr. Paar Tage später ging ich mit Verletzungen zur Schule und Kinder lachten mich aus, da sie dachten ich hätte bei einer Prügelei verloren, obwohl sie nichts von meinem Leben wussten. Seit diesem Tag traute ich mich wochenlang nicht mehr an ein einziges Fenster und monatelang nicht mehr an Fenster mit halbgeöffneten Jalousien. 

Eine Krankenschwester betrat den Raum und fragte nach meinem Erziehungsberechtigten, um Papierkram zu erledigen. Als ich vortäuschte volljährig zu sein, glaubte sie mir. Sehe ich wirklich so alt aus? Ich musste lachen, da ich an Dalia dachte wie sich damals mich älter schätzte.
Die Krankenschwester war zierlich und blond. Sie wirkte ziemlich jung doch ihr Gesicht machte sie so alt. Wie viel traurige Sachen sie wohl schon durchleben musste. Meiner Meinung nach ist ein Krankenhaus bedrückender als ein Friedhof. Nannte nicht mal jemand Lilith das Friedhofmädchen? Klar, sie verbrachte viel Zeit im Friedhof aber woher wissen das die Anderen? Und vermisst sie wirklich jemanden so sehr, dass sie jemanden so oft besuchen muss?
Kann sie vielleicht den Tod von jemanden noch gar nicht begreifen und muss sich daher so oft vergewissern das diese Person oder diese Personen wirklich tot sind?
In meinem Kopf ratterte es, was wohl auch die Krankenschwester bemerkte.
"In den Dokumenten steht das sie mit zwei Mädchen zum Krankenhaus mitgenommen wurden und Sie wollen bestimmt nach ihnen sehen aber da Ihr aktueller Zustand noch etwas instabil ist, müssten Sie noch eine Nacht ruhen. Eventuell können wir sie alle drei übermorgen entlassen. Gute Nacht, geben Sie Bescheid, wenn Ihnen etwas fehlt. Ab 22 Uhr ist Nachtruhe"; mit diesen Worten und einem Lächeln welches nicht ihre Augen erreichte, verabschiedete sie sich. Ich will und kann aber nicht schlafen, da ich schon lange genug geschlafen habe und ich fühle mich topfit. Nur weil mein Geist etwas benebelt ist dürfen die mich doch nicht instabil nennen, oder? 
Ich suchte mir eine Beschäftigung und ging deshalb jeden Millimeter des Zimmers durch. 
Warum bin ich alleine? Eventuell ein Privileg der reicheren Schicht der Gesellschaft. 
Ich liste auf: ein zerkratzter aber hochwertiger Kautschukboden, ein klassisches Krankenhausbett mit dem ganzen Kram von dem ich keine Ahnung habe welche Bezeichnung sie haben, ein einfacher Tisch mit zwei ebenso einfachen Stühlen und wenn man ganz genau hin schaut bemerkt man die kleine Digitaluhr über der Tür. 
19:48 Uhr 
Ich schaffe es doch nicht so lange zu warten! Würde jemand bemerken, wenn wir aus dem nichts verschwinden würden? Das ist also meine neue Mission. Ich bringe uns hier definitiv raus. 
Ab 22 Uhr beginnt die Nachtruhe und wir könnten es als einen einfachen Spaziergang aussehen lassen und dann das Krankenhausgelände verlassen. Sie müssten bestimmt auf den selben Korridor untergebrach werden und logischerweise auch im selben Zimmer. Aber mit dieser Krankenhausbekleidung sehe ich absolut lächerlich aus und ich kann mich nicht erinnern sie angezogen zu haben. Ich kann mich nicht mal an den Transport hierher erinnern als hätte ich alles unter einer Glaskugel und alles was außen herum passierte wirkte so weit entfernt.
Zum Glück befanden sich neben meinem Bett noch meine Turnschuhe und ich schlüpfte ohne Socken in sie hinein. Nachdem ich die Tür öffnete schaute ich nach links und rechts um sicher zu sein, dass ich in niemanden rein laufe. Bisher mache ich ja nichts illegales und konnte daher entspannt durch die Flure laufen auch wenn ich mir mit der Bekleidung etwas lächerlich vorkam und mir ein paar Blicke zugeworfen wurden. Ich konnte schlecht jemanden an der Rezeption nach Ihnen fragen, da ich ja eigentlich im Bett liegen sollte. 
Als ich paar Meter lief kam ich schon am Ende des Flures an und dort befanden sich vier Türen also war die Chance nicht ganz so gering die beiden Mädchen hinter eines dieser Türen zu finden. Als ich leise den ersten Raum betrat wurde ich direkt peinlich berührt, da ich fünf ältere Damen beim Kartenspielen gestört habe. Es hätte aber schlimmer kommen können.
Als ich angespannt die Tür des zweiten Raumes öffnete, atmete ich erleichtert aus. In zwei von vier Betten lagen nämlich meine beiden Mädchen und zu meinem Überraschen schliefen sie beide. In den beiden anderen Betten lag zwar gerade niemand drinnen aber sie sehen benutzt aus. Ich trat näher an Dalia. Sie sah aus wie ein  Engel in diesem Krankenhauskittel und ich strich ihr eine blonde Strähne hinters Ohr. Nachdem ich ein paar Sekunden neben ihr verweilte trat ich rüber zu Liliths Bett. Sie sah so friedlich und sympathisch aus wenn sie schlief. Warum kann sie nicht immer so aussehen? Ein zusammengeknülltes Blatt und ein Kugelschreiber lagen neben ihrem Kopf und selbstverständlich nahm ich es weg, damit sie sich nicht verletzt oder schneidet. Doch auf diesem Blatt stand etwas. Ich faltete es auseinander und glättete es etwas mit der Hand und was darauf stand brachte mich zum Nachdenken.

Leeres Papier. Was soll ich bloß schreiben?
Der Sturm in mir spricht keine Sprache dieser Welt.
Die Tinte des Kugelschreibers ersetzt keine Tränen.
Das Salzwasser, welches meine Lippen benetzt, spült nicht die Worte weg die nie ausgesprochen werden sollten. Schon in Ordnung. 
Erstick deine Schluchzer im Kissen und erwecke keine Aufmerksamkeit.
Das Leben geht weiter.

"Macht es Spaß in den Sachen anderer Leute herum zu schnuppern?"
Geschockt schaute ich über meine Schulter und musste feststellen, dass Lilith die Augen geöffnet hat und mich gründlich musterten. "Hat dir schon jemand gesagt das du extrem scheiße mit den Klamotten aussiehst?", sagte Lilith zwischen ihrem Kichern.
Warum kann sie nicht öfters lachen? Es steht ihr so gut.
Mittlerweile ist auch Dalia aufgestanden und hat sich zu uns gesellt.
Natürlich wollte ich ihnen von meinem Plan mitteilen und während ich davon erzählte hafteten Liliths Augen an mir. Dalia war total begeistert also zogen sie sich ebenfalls Schuhe an und wir machten uns auf den Weg zu unserem 'Spaziergang'.

Dalia hielt jeweils eine Hand von ihrer großen Schwester und mir und man konnte sogar leicht denken, dass Lilith und ich sehr junge Eltern wären. 
Wir lächelten das Personal freundlich an und vielleicht etwas zu übertrieben. 
Ein Krankenpfleger hielt uns an:
"Ihr seht nicht wie Besucher aus."
Lilith ergreift sofort das Wort: "Wir holen nur unsere Großmutter vom Parkplatz ab und sie wissen ja wie es mit älteren Leuten ist und man kann schwer vom Taxifahrer erwarten die ältere Dame ins Gebäude führen. 
"Ja natürlich. Schönen Abend noch.", sagte der Mann mit einem aufrichtigen Lächeln und distanzierte sich langsam von uns.
Um nicht noch einmal ausgefragt zu werden, eilten wir zur Schwelle an der das Gelände endete.
Dalia fing an zu Lachen und ich versuchte mit ihrer Schwester Augenkontakt aufzubauen der aber nicht erwidert wurde.
Zum Glück standen schon Taxis bereit und ich bestellte eins für die beiden und ein separates für mich. 
"Wie wäre es wenn wir alle nach Hause gehen und uns erholen?"
"Mhm", kam es von Lilith.
Und dann trat eine ziemlich unangenehme Situation auf. Wie sollten wir uns verabschieden? 
Dalia umarmte mich fest doch Lilith stand kalt da und stieg sofort ins Taxi ein.
Das tat schon etwas weh. Deren Taxi fuhr los und ich stieg in meins. 
Obwohl ich hinten saß, konnte ich deutlich laut hören wie der Taxifahrer mit seiner Frau stritt.
Kann nicht die ganze Welt für einen Moment schweigen.

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