⟢ 𝐕𝐈𝐈 ⟣
„Hmmm", nehme ich den Anruf entgegen.
Lios aufgeregte Stimme dröhnt durch das Telefon hindurch zu mir.
„Wo bist du? Was ist alles passiert? Warum hast du dich nicht gemeldet? Johanna hat schon voll Panik geschoben, weil du dich nicht gemeldet hast, sie, wie jeder andere auch, nicht wusste wohin du als erstes gehen willst, und... keine Ahnung, sie war so aufgelöst, wie noch nie zuvor. Sie meinte, du wärst jetzt schon mehr als 24 Stunden unterwegs - kann nicht sein, aber ich wollte mich ganz sicher nicht in dem Zustand mit ihr streiten, du kennst sie ja- und wolltest dich direkt melden, wenn du weißt, wohin es geht. Bist du noch dran? Du sagst ja gar nichts."
„Mhhh", murmel ich schlaftrunken, „ich bin nur müde. Habe das letzte mal in Hamburg geschlafen. Vielleicht so 'ne halbe Stunde, Stunde im Flugzeug. Jetzt liege ich endlich im Hotel und-" „Wo?", unterbricht sie mich ungeduldig. „New Yo-" Lautes Kreischen klingt durch die Leitung vom anderen Ende der Welt zu mir.
„New York, Alyah! Kaum lässt man dich einmal alleine, schon reist du bis ans anderen Ende der Welt und, und, und...", stottert sie. Dann spricht sie weiter: „Was machst du als nächstes?"
Ihre Stimme klingt wehmütig und ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie sie gerade rücklings auf ihrem Bett liegt, die Füße barfuß in die Luft streckt, die eine Hand in ihrer langen blonden Mähne verschwindet, die um sie herum ausgebreitet liegt, und sich mit der anderen das Handy ans Ohr hält.
Bei dem Gedanken an die lange Zeit ohne sie, entsteht ein immer größer werdender Kloß in meinem Hals und schon läuft mir die erste Träne über die Wange.
„Weiß ich nicht", flüstere ich verloren in den leeren Raum. An ihrer unregelmäßigen Atmung merke ich, dass es ihr nicht anders geht, und sie ebenfalls mit den Tränen zu kämpfen hat.
„Ich vermiss dich jetzt schon, Langstrumpf", schnieft sie und sofort verziehen sich meine nassen Wangen bei dem alten Spitznamen aus Kindergartenzeiten zu einem kaum merklichen Lächeln.
„Ich dich auch! Wie soll ich das nur so lange aushalten, Lio?", spreche ich aus, was wir beide denken. Wie soll ich nur ein Jahr ohne sie überstehen?
Ein Schluchzer unterbricht das Geräusch ihres Atmens. „W-Wie war dein F-Flug?", bemüht sie sich abzulenken. Lioba hasst es Schwäche zu zeigen. Wahrscheinlich bin ich die einzige, die sie schon Rotz und Wasser hat weinen sehen.
„Eigentlich ganz gut, als ich einmal saß", beginne ich. „Wann bist du eigentlich gestartet? Und wann seit ihr gelandet? Und", sie hält inne und ich höre deutlich, wie sie sich aufsetzt, „Wie viel Uhr ist es jetzt gerade bei dir?"
„Um kurz nach vier sollte unser Flug gehen, aber wir hatten circa 20 Minuten Verspätung, weil irgendetwas noch repariert werden musste, dann sind wir zwischen 22 und 23 Uhr gelandet und im Moment haben wir ein Uhr neunundvierzig", fasse ich alles möglichst schnell zusammen.
Stille. Es ist als könnte ich ihre Gedanken wie Zahnräder klackern hören.
„Heißt fünf-", „Nop, sechs", „Na gut, dann eben sechs stunden Zeitverschiebung liegen zwischen uns. Das heißt, in Zukunft kann ich dich nicht vor der Uni anrufen. Das heißt auch, das wir je nach dem, was du als nächstes vorhast, immer neu schauen müssen, wann wir telefonieren können, und eben keine feste Uhrzeit abmachen können, und wir vielleicht tagelang nicht mit einander sprechen. Was ist das denn für ein Scheiß?", teilt sie mir ihre Gedanken mit.
„Sorry, Lio, ich kann dir nicht mehr folgen. Mein Schädel brummt, wie damals als wir-"
„Beim Tanzabend etwas, ein ganz klein bisschen, zu viel getrunken haben, oder als wir in Köln waren? Ich bin immer noch nicht dahinter gestiegen, warum wir ausgerechnet an dem Wochenende da waren, oder warum es sowas überhaupt gibt. Ich meine warum feiert eine ganze Stadt, eine ganze Region -ja was eigentlich?-, und die Kinder bekommen frei, und warum? Warum, Alyah? Sag es mir?"
Kraftlos lasse ich ihre Aufregung zum tausendsten Mal über mich ergehen.
„Das meinte ich alles nicht." Sie überhört meine leise gesprochenen Worte geflissentlich und quasselt einfach weiter.
„-Hey, hörst du mir eigentlich noch zu?" Bei ihren Worten schrecke ich auf.
„'Tschuldigung", nuschel ich, „bin nur so müde."
Bei den Worten fallen mir schon wieder die Augen zu, und der König des Reichs der Träume zieht mich immer mehr mit diesen grünen Augen in Bann.
„Oh, stimmt. Dann sollten wir wohl mal aufhören zu reden, oder? Was hast du als nächstes vor? Du meldest dich, wenn du genaueres weißt, und", dieses Wort betont sie besonders, „Wenn dir süße Amerikaner übern Weg laufen. Am besten nimmst du einen, der einen genau so gut aussehenden besten Freund hat. Du kennst die Kriterien: Groß, breite Schultern, Wangenkno-"
„Jaja. Ich kenne sie nur zu gut" Mühsam unterdrücke ich ein herzliches Gähnen.
„Ich halt schon die Augen offen. Obwohl Jungs gerade ganz unten auf meiner Prioritätenliste stehen!" Wahrscheinlich verdreht sie an dieser Stelle die Augen.
„Aber im Flugzeug, da war-"
„Was?! Und damit kommst du erst jetzt? Hast du seine Nummer? Wie heißt er auf Insta? Wann siehst du ihn wieder?"
„Lioba! Ich habe nie gesag-"
„Oh Gott, ich wusste es! Ich wusste es! Lass mich raten! Eigentlich wolltest du in so 'ne richtig langweilige Ecke. So 'n kleines Dorf im Nirgendwo. Aarau oder sowas. Und dann hast du ihn gesehen. Er stand vor dir in der Schlange beim Infoschalter und hat gefragt wo und wann der Flug nach New York geht, dann dachtest du dir so: „Ach, New York ist doch auch ganz schön" und hast das selbe gefragt. Oder? Sag mir, dass es so war, Alyah Reers!"
„Nein."
Details erspare ich ihr und vor allem mir.
„Warum? Das wäre voll die cute Story für die Hochzeit gewesen. Aber wann siehst du ihn wieder? Wie sieht er überhaupt aus? Wie hei-"
„Lioba, Stopp! Wie oft willst du es hören? Da ist nichts! Nüscht! Nada niente! Kapito?"
„Kapito, aber-"
„Kein aber! Wir saßen einfach nur in der gleichen Reihe, er sieht gut aus, und das wars", lüge ich sie an.
Mika und seine Reaktion auf den Glatzkopf verschweige ich einfach.
„Gut, wenn du meinst."
Ihre Stimme klingt enttäuscht und etwas beleidigt, was ich noch nie nachvollziehen konnte.
„Bist du jetzt etwa deswegen Sauer, Madita? Deswegen?"
„Deswegen? Nein! Weil du ohne mich nach New York geflogen bist und mich ein Jahr mit den Verrückten alleine gelassen hast. I mean, really? Max und Yi, Jalin und Nico? Das kannst du nicht ernst meinen! Die machen mich jetzt schon ganz kirre. Ich brauche dich hier, Alyah. Wann kommst du wieder?"
„Wenn ich denke, dass ich gefunden hab was ich suche, oder ein Jahr um ist und mein Studium beginnt. Und sonst musst du dich wohl gedulden, meine Liebe"
„Und wie kann ich dich dazu bringen, zurück zu mir zu kommen?"
„Garnicht", lautet meine schlichte Antwort.
„Was hast du denn als nächstes vor?"
„Zuerst versuche ich erstmal hier 'nen Job und eine Wohnung zu finden und dann schaue ich weiter. Ja, du erfährst als erste davon!"
Ihr Kichern klingt durch die Leitung und steckt mich an.
„Weißt du was?", fragt sie schließlich. „Ich hab dich lieb. Pass auf dich auf, Al, okay? Wenn dir irgendwas passiert bring ich dich um! Verstanden? Und ja, ich bin schneller als deine Mutter oder Raja. Glaub mir."
Im Laufe unseres Gesprächs bin ich aufgestanden und habe die Menschen im Gewühl beobachtet.
Nach einem letzten Blick auf die Straße unter mir, ziehe ich die schweren Vorhänge zu, und schließe die Welt aus.
„Oh, ja. Das glaub ich dir. Obwohl beide auch sehr schnell sein können, was das angeht."
Angenehme Stille herrscht zwischen uns.
„Was sagst du ihnen eigentlich?"
„Die Wahrheit würde ich vorschlagen. Aber ich habe jetzt schon Angst vor ihren Reaktionen. Was denkst du, sagen sie? Wird Raja sehr wütend sein? Sie wollte mir New York umbedingt selbst zeigen, wo es doch ein Jahr ihr zuhause war. Sie wird mir ewig hinterher tragen, dass ich ohne sie hi-"
„Oh ja, sie wird toben vor Wut und dich auffressen wie ein Monster unter deinem Bett", scherzt meine beste Freundin.
„Bestimmt, ich habe schon Angst!"
Das Scherzen und Lachen mit ihr tut unheimlich gut und lässt mich meinen Schlafmangel fast gänzlich vergessen.
„Soll ich ihnen Bescheid sagen?"
„Das wäre mega! Ein Gespräch mit Mama, oder eine Strafpredigt von Raja kann ich mir heute Abend beziehungsweise Nacht nicht mehr antun."
„Wie viel Uhr habt ihr denn gerade? Warte..."
Lautes Rascheln ertönt, während sie vermutlich über ihr Bett kraxelt um die Uhrzeit auf ihrem Wecker ablesen zu können, obwohl ihr Handy diese genauso gut anzeigen kann. Das ist Lio.
„Fuck! Fuck, Fuck, Fuck, wieso? Das ist doch... Sorry, Langstrumpf! Ich melde mich bei deiner Familie, du schläfst dich jetzt erstmal aus, und dann meldest du dich nochmal bei mir!
Fuck, ich bin viel zu spät!
Wie soll ich das denn noch hinbekommen? Ich werde direkt wieder gefeuert, und dann muss ich mich irgendwo in eine ekelhafte, fettige Pommesbude in die Innenstadt stellen, und dann gehen meine Haare kaputt", sprudeln Horrorszenarien der schlimmsten Art für sie aus ihrem Mund.
„Das passiert schon nicht! Zumindest nicht, wenn du dich jetzt etwas beeilst du eventuell aufs Make-Up verzichtest, du siehst auch ohne super aus! Und jetzt zackig!
Wir wollen doch nicht, dass du direkt einen schlechten Eindruck machst.
Drückst du die anderen von mir? Ich hab euch alle ganz, ganz doll' lieb! Und lass das Finger knibbeln unterm Tisch und im Wartezimmer, das wird schon!
Mach dich nicht verrückt! Meld dich, wenn du raus bist!"
Ein undeutliches Murmeln, das man, wenn man so will, als Zustimmung deuten kann, zeigt mir, dass sie mit ihren Gedanken schon ganz wo anders ist.
Vermutlich vor ihrem riesigen Kleiderschrank und der großen Frage ihres heutigen Outfits.
„Mach die Augen zu und greif rein. Es sieht alles spitze aus! Vertrödle deine Zeit nicht bei der Kleidung! Hey? Ist Ma'am noch anwesend? Du schaffst das!"
„Sorry, ich glaube ich muss jetzt auflegen", bestätigt sie meine Vermutung.
„Melde mich dann, und du auch, oki? Versprich es!"
„Versprochen, und jetzt mach mal Tempo! Hab dich lieb!"
„Ich dich auch!"
Bevor sie sich wieder hinein steigern kann, lege ich auf und lasse mich aufs Bett fallen.
Die Müdigkeit überrollt mich wie ein Lawine den Hang und das Tal.
Schon wieder raubt mir das Geräusch meines Telefons den wohlverdienten Schlaf. Ein kurzer Blick auf das, erstaunlicher Weise noch ganze, Display, zeigt mir, dass Lio echt nervös ist.
Schnell tippe ich ihr eine Antwort.
Ohne auf eine Antwort von ihr zu warten, lege das nun stummgeschaltete Handy auf den Nachtisch und kuschle mich so, wie ich gerade bin, unter die Decke.
Sofort wird mein ganzer Körper schwer, und ich frage mich, wie ich überhaupt so lange auf den Beinen bleiben konnte.
Bevor ich mich gänzlich im Reich meiner Fantasien eintauche, ist der letzte Gedanke im Dämmerschlaf:
Geschafft!
Fast augenblicklich wird er von grünen Augen abgelöst, die mich mehr gefangen haben, als ich mir je in voll zurechnungsfähigem Zustand gestehen könnte.
Dann bricht eine angenehme Dunkelheit über mich herein.
Doch immer wieder scheinen grüne Augen in den verschiedensten Situationen meiner Fantasien auf.
So schnell werde ich sie wahrscheinlich nicht los.
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