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Die Kälte erwischt mich hart, als mir erbarmungslos die Decke weggezogen wird. Murrend protestiere ich, und drücke mir das einzige, das mir noch geblieben ist auf Augen und Ohren; mein Kissen. 

„Komm schon, Alyah! Du musst jetzt wirklich aufstehen, wenn du wenigstens noch eine Chance haben willst, dir dein erstes Ziel auszusuchen!" Die Worte meiner Mutter lassen mich genau das Gegenteil davon machen, was sie will.

Liegenbleiben statt Aufstehen.

Mit den Füßen bekomme ich die wärmeversprechende, schön flauschige Decke aus dem noblen Hotel zufassen, und nach ein paar flinken Bewegungen mit Beinen und Armen liege ich schon wieder unter ihr. Bei dieser wohligen Wärme beginnen meine Augenlider bedrohlich zu zucken, und schon bin ich wieder auf dem sichersten Weg zurück in die Welt der Träume.

„So geht das aber nicht, Kind! Wie willst du das denn machen, wenn dich niemand weckt? Wie willst du denn dann je pünktlich kommen? Denkst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Ich weiß ja nicht..."

Seufzend öffne ich meine Augen und schaue an die hohe Zimmerdecke. Ich liebe solche Altbauten, besonders wenn sie schlicht, stilvoll und angepasst eingerichtet wurden. Schade, dass es nur ein Hotel ist, aber wer weiß, wo ich die nächsten Nächte verbringen werde. Vielleicht in einem ähnlichen Haus, vielleicht einem Familienwohnhaus, oder Hochhaus, es könnte auch eine WG sein, oder, wenn ich nichts anderes finde, eben doch wieder ein Hotel.

Die Ungewissheit, was heute, morgen, die nächsten Tage, Woche, Monate, das nächste Jahr alles passieren kann, lässt mich innehalten. Einerseits ist es ein Schritt ins Ungewisse, aber euch ein riesengroßes Abenteuer. A

Ein Abenteuer, das ich mir ausgesucht habe, mit der Gewissheit, dass es auch schief gehen kann. Ein Abenteuer, das mich an meine Grenzen bringen kann, und ganz sicher auch tun wird. Ein Abenteur, das mir zeigen soll, wer ich bin, was ich will, wohin mich meine Reise führt.

Eine Reise, die mich fordern und ans Äußerste bringen wird. Eine Reise, die mich prägen und lenken wird. Eine Reise, von der ich in Jahren meinen Enkeln erzählen werde. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Ein Lächeln, das immer erscheinen wird, wenn ich an meine Reise, mein Abenteuer denke. Ein Lächeln, das sagt, dass es gut war.

Der Gedanke an die Zukunft lässt mich schmunzeln. Grinsend setze ich mich auf und schaue in das erwartungsvolle Gesicht meiner herzlichen Mutter.

„Geht doch", sagt sie noch und wendet sich zur Tür „Wir warten unten im Restaurant zum Frühstück auf dich" Im Gehen fügt sie vielmehr zu sich selbst, als zu mir gewandt hinzu: „Wobei es eigentlich um halb eins nicht mehr als Frühstück durchgehen darf. Aber bald ist das ja nicht mehr mein Problem."
Was danach kommt verstehe ich nicht, denn sie lässt die Tür hörbar hinter ihr einrasten und mich alleine zurück.

Eine halbe Stunde später stehe ich, wie bestellt und nicht abgeholt, mit all meinem Gepäck unten in der Lobby und warte darauf, dass meine Eltern oder irgendwelche anderen Verwandten auftauchen. Eigentlich war jetzt das letztes gemeinsame Essen vor meiner Reise geplant. Zwar  weiß ich nicht, wer alles eingeladen ist, aber so viele werden es schon nicht sein.

Je kleiner die Runde, desto lustiger der Abend, lautete eins der wenigen ungeschriebenen Gesetze in meiner Familie.

Mühsam ziehe ich meine Handy aus der Hosentasche, um mal nachzufragen, wo ich die anderen überhaupt finden kann, denn ein Restaurant sehe ich hier nirgends. Kaum habe ich meine Aufmerksamkeit nicht mehr bei meinen Gepäckstücken, da beginnen sie auch schon zu wanken, und wackeln. Ich kann nichts tun, außer zu zuschauen, wie sie unter lautem Getöse umfallen und sich auf dem ganzen Boden verteilen.

Warum muss sowas immer mir passieren? Warum? Immer bin ich diejenige. Immer.

Sofort kommt der junge Mann hinter dem Tresen hervor und packt, ohne ein Wort zu meiner Inkompetenz und Neigung zur Tollpatschigkeit zu sagen, mit an. Und im Handumdrehen haben wir wenigstens den Eingang freigeräumt.

Toll gemacht! Innerhalb von vier Tagen fünfmal Chaos verursacht. Im Supermarkt, in der Bahn, auf der Hochzeit am Buffet, beim Einchecken und jetzt nochmal hier. Wahrscheinlich ist das mein neuer Rekord. Hoffentlich hat Mama das hier nicht gesehen, denn wenn sie das als letzten Trumpf ausspielt, um zu verhindern, dass ich gehe, dann kann selbst Papa mich nicht mehr retten. Wir haben nichts, was wir gegen diese leider bestehende Tatsache sagen können.

Als könnte sie Gedanken lesen, tritt meine liebe Mutter in diesem Moment aus dem Aufzug. Hinter ihr erkenne ich meinen Vater, der mir ein breiteres Lachen schenkt.

„Vielen Dank!", rufe ich dem aufmerksamen Mann noch zu, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmet. Kurz nickt er mir lächelnd zu, und geht an das laut klingende Telefon.

„Warum dankst du ihm? Wobei hat er dir geholfen?", sie schaut mich, wie schon so oft zuvor, ernst an. Ihre Stimme klingt mal wieder so, als würde sie zu einem ihrer Kunden sprechen. Distanziert und herzlos.

Früher hat mich das irritiert, doch mittlerweile haben Raja und ich uns damit abgefunden, dass sie eben, wenn wir nicht unter uns sind, in ihr Berufsmuster verfällt. Ich weiß nicht, wie das bei anderen Richtern ist, aber wenn man unsere Mutter kennt, weiß man, dass sie es erstens nicht böse meint, und es zweitens der perfekte Beruf für sie ist. Wie mein Vater das allerdings so lange mit ihr schon aushält, oder wie die beiden überhaupt zusammen gefunden haben, ist ein Rätsel, das meine geliebte, große Schwester und ich nie haben lösen können. Papa ist wohl der netteste Oberkommissar, den die Welt je gesehen hat. Er ist wirklich das Gute in Person, und jeder muss sich ihm einfach anvertrauen. Bei Mama ist das anders, aber was soll's? Schließlich ergänzen sie sich perfekt.

Mama der komplette Kopfmensch, und Papa, der noch nie gegen sein Bauchgefühl entschieden hat. Wie das gut gehen kann, keine Ahnung! Aber beide sind glücklich und dadurch habe selbst ich Hoffnungen, irgendwann meinen Seelenverwandten zu finden.

Auf jeden Fall stehen beide jetzt vor mir und schauen mich einmal versteckt besorgt, und einmal offen stolz an. Mein Vater zeigt fast immer was er denkt, und fühlt. Man sollte sich Sorgen machen, wenn es anders ist. Wenn man bei Mutter etwa nur die kleinste Art von Emotionen erkennen kann, sollte man sich Gedanken machen.

Ich komme eher nach meinem Vater, sowohl in dieser Sache, als auch in anderen Dingen, Eigenschaften, Talenten und Ticks. Mein Aussehen habe ich von meiner Mutter, und um ehrlich zusein, bin ich da auch ganz froh drüber.

Bei allem was die Leute über sie denken und sagen mögen, dass sie schlecht aussieht, hat noch nie jemand auch nur angedeutet.

„Also dann", verstohlen wische ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel. „Wie es aussieht gehen wir dann wohl doch nicht mehr Essen, oder?" Kaum merklich sehe ich, wie Mama den Kopf schüttelt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, sie müsste ein paar Tränen unterdrücken. Ihr Mann stellt sich da nicht so an.

„Nein, wir dachten, es ist dir wichtiger, dass du dir wirklich noch aussuchen kannst, wohin du als erstes willst." So wie er es sagt, klingt es garnicht nach einer Anklage, oder ähnlichem. Es ist einfach nur eine Feststellung. Und leider ist sie richtig, also nicke ich einfach nur. Sprechen kann ich gerade nicht. In meinem Hals hängt ein riesengroßer Kloß.

So stehen wir uns gegenüber.

Vorsichtig streicht mir Papa die Tränen von den Wangen. Dann nimmt er mich einfach nur in den Arm und hält mich fest. Plötzlich spüre ich wie sein einer Arm sich von mir löst, und sekundenspäter noch eine Person in unserem Kreis steht. Es riecht vertraut und das Gefühl von völliger Geborgenheit lässt mich alles Bevorstehende vergessen.

„Bist du dir Sicher, Alyah, dass du das machen möchtest?", fragt er ganz leise neben meinem Ohr.

Ich nicke. „Ganz sicher!" Dann entziehe ich mich der Nähe meiner Eltern. Wenn ich länger in der Umarmung geblieben wäre, hätte ich meine Entscheidung noch angezweifelt, und das ist das Einzige, das ich mir gerade nicht erlauben kann.

„Du schaffst das! Du bist stark! Und wenn du irgendwas brauchst, sag einfach Bescheid und-", Mama kaut auf ihrer Unterlippe herum, was zeigt, dass sie wirklich überlegt, den Satz zu Ende  zu bringen. „Ruf an, wenn du weißt wohin du fliegst. Meld dich mal. Ich warte auf deinen Anruf."

Liebevoll schaue ich die beiden an. Wie sie da Hand in Hand stehen und mich anlächeln. „Pass auf dich auf, Alyah. Versprich mir das!"

„Mach ich. Versprochen! Ihr aber auch."

Bevor wir jetzt alle noch übersentimental werden, greife ich nach meinem Koffer, schultere meinen Rücksack und nehme die Sporttasche und blicke die beiden an.

„Ach! Ich habe euch lieb!" Koffer und Tasche lasse ich einfach fallen und schmeiße mich den beiden in die Arme.

„Drückt Raja, wenn ihr sie vor mir seht, okay?" schluchzte ich. Zu meiner Verwunderung kommt die Antwort darauf nicht von Papa, sondern von Mama. Sie weint mit mir.

„Du bist so groß geworden, Alyah. Ich erinnere mich an deine ersten Schritte, deinem ersten Schultag und jetzt stehst du hier vor mir, und machst dich auf den Weg in die Welt. Wann bist du nur so groß geworden, Tochter?" Papas Worte bringen uns noch extremer zum Weinen.

„Sicher, dass wir dich nicht zum Flughafen bringen sollen?", fragt Mama mit immer noch brüchiger Stimme. Ich nicke stumm. Gerade habe ich mich gefangen, aber wenn ich jetzt den Mund aufmache, kann ich für nichts mehr garantieren. Falls sie doch mitkommen sollten, wäre es nicht von Anfang an meine eigene Reise. Mein eigenes Abenteuer.

Ich muss selbst entscheiden, wohin es zuerst geht.

Ich. Nur ich. Ich ganz alleine.

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