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Rückwärts lasse ich mich aufs Sofa fallen. Die Brezeln in der linken, das Nutellaglas in der rechten Hand kann der Filmabend endlich beginnen.
Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.
Endlich! Endlich wieder das tun, was ich will, und nicht das was andere von mir wollen. Das ist das, was ich gerade brauche. Glück nur, dass meine Eltern schon vorher zu Raja fahren wollten, um ihr bei den Vorbereitungen zu helfen, so habe ich das ganze Haus für mich und niemand kann sich über das bestehende Chaos in der Küche aufregen.
Ich mache meine Hände frei, und greife nach der Fernbedienung und dem Glas, die beide auf dem Tisch stehen. Jetzt kann der letzte Abend zuhause beginnen.
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Warm strahlt die Sonne auf mein Gesicht. Ihr Licht lässt mich die Augen zusammen kneifen. Murrend drehe ich mich zur Seite, um wenigstens noch 10 Minuten liegen bleiben zu können. Und lande volle Kanne auf dem harten Boden. Irritiert blinzel ich mit einem Auge in die Gegend.
Lange passiert nichts, doch irgendwann realisiere ich, wo ich bin.
Ich liege zwischen dem Sofa und dem Couchtisch auf dem Boden. Immer noch von der Helligkeit des Tages und der Tatsache meines Schlafplatzes überrumpelt, Taste ich halb blind nach meinem Handy. Es muss hier irgendwo sein. Und tatsächlich, es liegt mitten auf dem kleinen Tisch, als wäre nie etwas passiert.
Ich hole tief Luft, bereite mich innerlich auf einen Schock vor und mache es an.
Grell strahlt mit das Display entgegen. Mitten darauf steht die Uhrzeit. 12:36. Und unter der unheilverkündenden Zahl die Info, dass ich 7 Anrufe verpasst und 62 neue Nachrichten habe.
„Fuck! Fuck! Fuck!" laut schimpfend springe ich auf und renne die Treppe hoch. Verzweifelt starre ich meine Spiegelbild an.
„Da hast du ja mal wieder richtige Scheiße gebaut, Alyah! Aber sowas von!" Schnell lasse ich den Spiegel hinter mir und wende mich wichtigeren Dingen zu.
Packen, Duschen, Anziehen, Kuchen nicht vergessen und dann los. Im Kopf gehe ich die Liste an noch zu erledigenden Dingen durch.
Adrenalin fliest durch meine Adern, und lässt mich vergessen, dass ich vor 2 Minuten noch wie ein Stein geschlafen habe. Jetzt zählt nur noch so schnell wie möglich los zu kommen.
Der Koffer ist schnell zur Hand und ebenso schnell mit Klamotten gefüllt. Punkt eins: Check!
Ohne stehen zu bleiben, schnappe ich mir irgendein Handtuch und verschwinde im Badezimmer. So wie ich jetzt gerade aus sehe, kann man schließlich nicht auf eine Hochzeit gehen. Schon gar nicht auf die der eigenen Schwester.
Innerhalb von zehn Minuten habe ich geduscht, mich abgetrocknet, die Zähne geputzt und vergeblich nach einer realistisch Ausrede gesucht. Mir bleibt wohl nichts anderes, als die Wahrheit zu sagen. So bescheuert sie auch sein mag.
Warum nur, warum habe ich mir nicht vorher überlegt, was ich anziehen will? Es ist immer der gleiche Scheiß.
Letztlich entscheide ich mich für ein kurzes, rotes Kleid, welches Raja und die anderen Anwesenden hoffentlich noch nicht kennen. Wenn doch, dann kann ich Ihnen nicht helfen. Ich habe mein Bestes gegeben.
Ich wage naiv einen Blick auf die Uhr. 12:53. Das wars dann wohl mit Make-up. Trotzdem packe ich noch schnell meine paar Sachen zusammen, und stecke sie in meine Handtasche. Noch ein Blick auf die Uhr. 12:54. Noch sieben Minuten, dann wollte ich die Bahn bekommen. Eigentlich unmöglich, aber was soll's.
In der einen Hand die Handtasche und Schuhe, in der anderen den vollen Koffer rausche ich, so schnell es eben geht, wieder zurück ins Erdgeschoss.
Schon meine Straßenschuhe anhabend, und die Hand auf der Klinke schaue ich zurück in das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. An dem so viele Erinnerungen hängen. Mein Blick schweift über die Einrichtung. Jeder Kratzer hat seine Geschichte und jede Delle hält eine Moment.
Er bleibt am großen Küchentisch hängen, an dem soviel passiert ist.
Und mitten darauf steht der Kuchen. Oder eher die Torte. Die Torte, die ich für Raja backen sollte, weil die Kinder die Hochzeitstorte nicht essen können. Warum auch immer sie nicht einfach eine ohne Alkoholanteil bestellen konnten.
Sie soll aussehen wie eine kleinere Version der original Torte, aber ich bin eindeutig nicht zufrieden mit dem Endprodukt. Trotzdem wird sie meine große Schwestern zum Lachen bringen, und dann war es es wert, so viel Zeit und Aufwand hinein gesteckt zu haben.
Schnell laufe ich nochmal hinein und nehme sie vorsichtig hoch. Sorgsam darauf bedacht, die glatte Glasur nicht zu zerstören, und die feinen Rosen nicht zu zerquetschen.
Erschrocken halte ich inne, wie soll ich dem ganzen Kram denn mitbekommen? Ich habe nur zwei Hände und muss einen Koffer, eine Handtasche, meine Pumps und eine überempfindlich Torte zur, in und aus der Bahn bringen, und dann von der Bahnhaltestelle noch zur Hochzeit. Kritisch die ganze Situation.
Überfordert nach einer Lösung suchend laufe ich nochmal hoch, in mein ehemaliges Zimmer. Es ist leer geräumt. Abgesehen von den Möbeln und einigen Dingen, die ich nicht brauchen kann auf meiner Reise, ist es komplett leer geräumt. Resigniert werfe ich die Tür hinter mir zu und lasse mich aufs Bett fallen.
„So kommst du nicht weiter, Alyah!"
Irgendwo muss es doch etwas geben, dass mir hilft...
Also setze ich mich auf und schaue mich um.
Der Schrank mit rest Kleidung, die ich nicht mitnehmen will oder kann.
Das Fenster mit weißen Vorhängen, in die ab und zu goldene Fäden eingewebt wurden, was dafür sorgt, dass sie sich perfekt ins Zimmer einfügen.
Der weiße Ikea Schreibtisch, der noch nie so aufgeräumt war, wie in diesem Moment.
Die alte, fein verarbeitet und verzierte Tür mit der rosegoldenen Garderobe., an der ein paar Strickjacken hängen, mein Reiserucksack und mein ehemaliger Schulrucksack hängen.
Der zimmerhohe Spiegel, aus dem mich ein Mädchen mit roten, leicht gelockten Harren, die dick über meine Schultern bis auf Brusthöhe fallen, grünen, lächelnden Augen, die, wenn man sie sich genauer anschauen würde, kleine, ganz helle braune, fast goldene Sprenkel aufzeigen würden, einer spitzen Nase, vollen Lippen und tausenden von Sommersprossen, übers ganze Gesicht verteilt, heraus angrinst.
Der große Bilderrahmen, voll mit Bilder von mir und meinen Freunden. Besonders oft ist ein blondes Mädchen zu sehen, Lio meine beste Freundin.
Über den vielen Bildern, die Geschichten, über 18 Jahre verteilt, erzählen, sind bis zur Decke und zum Boden Regalbretter angebracht, auf den alles mögliche zumindest ist, aber vor allem Bücher.
Die ganze Wand ist mit Lichterketten geschmückt.
Das zweite Fenster, diesmal zusätzlich auch mit einer Lichterkette zu dem Vorhängen geschmückt.
Der wie leergefegte Nachttisch und dann das große Doppelbett, mit genau 18 zusätzlichen Kuschel Kissen, alle zur Einrichtung passend, und ebensolcher Bettwäsche.
Der Boden ist endlich frei geräumt und beherbergt daher wohl auch keine Lösung für mein Problem.
Ich bräuchte etwas, das mir ermöglicht irgendwas nicht in die Hand nehmen zu müssen...
Zum Beispiel ein Rucksack schießt es mir durch den Kopf. Ich springe auf.
Schnell habe ich die Rucksäcke von der Tür genommen, den vertrauen Raum für lange Zeit das letzte mal verlassen, und die Handtasche, die Schuhe, mit dem Schulrucksack unten in den größeren gepackt, ihn angezogen, den Koffer in die eine und die Torte in die andere genommen.
Ein erneuter Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich es eventuell noch schaffen könnte. 12:58.
Die Bahn soll um 13:03 abfahren. Wenn ich die Straße runter laufe, besteht immer noch eine Chance, dass ich ansatzweise pünktlich komme.
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