FÜNF
Am nächsten Morgen waren die Türen an den Schrank angeschraubt und meine Kleider ordentlich darin einsortiert. Ich hatte es geschafft, die zwei Lerneinheiten sowie meine Laufrunde zu absolvieren. Da ich es mir nicht hatte nehmen lassen, gemütlich mit Mom und Eugenia zu Abend zu essen, musste ich mir die Zeit vom Schlaf abzwacken, um alles nach Plan zu erledigen. Es war schon weit nach Mitternacht, als ich endlich das Licht ausschaltete.
Dementsprechend sah ich am nächsten Morgen auch aus. Die dunklen Schatten, die einen krassen Gegensatz zu meinen hellblauen Augen bildeten, ließen mich aussehen wie einen hungernden Zombie. Es dauerte lange, die Misere mit viel Make-up zu überschminken.
Auf dem Weg vom Badezimmer blieb ich stehen und schnupperte. Ein verlockender Duft von frisch gekochtem Kaffee und selbstgebackenen Pancakes hatte sich bis ins obere Stockwerk ausgebreitet. Ich beeilte mich, nach unten zu kommen.
Eugenia stand mit einem Pfannenwender am Herd. Sie hatte eine Schürze umgebunden und summte etwas leise vor sich her. Immer wenn sie über Nacht blieb, verwöhnte sie uns mit einem leckeren Frühstück, das an anderen Tagen aus einem trockenen Toastbrot und einer Tasse Kaffee bestand.
»Du bist wie die Großmutter, die ich nie hatte«, scherzte ich, schnappte mir einen Pancake und biss hinein. Er schmeckte großartig. »Nur in jünger und stylischer.«
Eugenias glockenhelles Lachen erfüllte den Raum. Sie legte mir die Hand um die Taille und drückte mich sanft. Außer Mom war sie alles an Familie, was ich je gehabt hatte. Moms Eltern waren vor meiner Geburt gestorben und auch wenn es Verwandte auf der Seite meines Vaters gab, so hatte ich sie nie kennengelernt.
Ich vertilgte eine unvorstellbare Menge der himmlisch fluffigen Pancakes. Schließlich drückte ich Mom und Eugenia einen Kuss auf die Wange und stieg ins Auto. Um sicher zu gehen, dass ich nicht zu spät kam, fuhr ich in den ersten Wochen noch früher los als sonst.
Und so kam ich auch heute zeitig an, suchte den Raum, in dem englische Literatur unterrichtet wurde und setzte mich auf gut Glück auf eine der hintersten Bänke. In den Abschlussklassen schien es keine festen Sitzplätze zu geben, aber die meisten Schüler waren, meiner Erfahrung nach, Gewohnheitstiere, die sich jedes Mal wieder auf denselben Platz setzten. Ich hoffte einfach mal, nicht den Stammplatz von jemandem erwischt zu haben.
Um mir die Wartezeit bis zum Stundenbeginn zu verkürzen, schlug ich das Skript auf und ging meine verhassten Jahreszahlen samt zugehörigen Epochen durch. Weit kam ich nicht. Durch den Teppichboden gedämpfte Schritte verrieten mir, dass ich nicht mehr alleine war. Ich blickte auf und mein Herzschlag setzte eine Sekunde lang aus. Es war Jonas.
Er trug wie gestern seine graue Strickmütze auf dem Kopf. Unter der dunkelblauen Steppweste konnte ich ein langärmeliges weißes Shirt erkennen, dazu ausgewaschene blaue Jeans und Chucks. Selbst wenn Jonas auch zu Christopher Hunts Gruppe gehörte, passte er sich definitiv nicht an deren Kleiderordnung an.
Er schien nicht überrascht, mich zu sehen. Ein winziges, kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seine Lippen, als unsere Blicke sich trafen. Unsicher grinste ich zurück und versteckte mich wieder hinter meinem Skript. Gestern hatte er nicht so gewirkt, als hätte er Interesse an mir. Nun würde ich in angespannter Stille ausharren müssen, bis wir nicht länger alleine wären.
»Hallo Lexie! Kann ich mich zu dir setzen?«, fragte er, plötzlich neben mir. Seine Stimme war angenehm tief und verursachte Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Ich zog möglichst unauffällig die hochgekrempelten Ärmel herunter.
»Ja.«
Hatte er bemerkt, wie heiser sich meine Stimme anhörte?
Er warf seinen Rucksack achtlos auf den Boden und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Schweigend packte er seine Sachen aus.
Ich sah ihm eine Weile dabei zu. Er schwieg, was mich total verunsicherte.
»Du weißt noch, wer ich bin?«, fragte ich schließlich, um irgendwas zu sagen. Und ehrlicherweise auch, um seine Stimme nochmal zu hören.
»Klar. Es ist nicht leicht, ein Gesicht wie deines zu vergessen. Du siehst sehr ... besonders aus.«
Verblüfft starrte ich ihn an. Ich wusste, dass mein hellblondes Haar und meine hellen Augen auffielen. Aber was genau meinte Jonas damit? Sah ich nun besonders gut oder besonders freakig aus? Oder meinte er damit einfach nur anders, ganz neutral gesehen?
In seinem Gesicht konnte ich keinen Hinweis entdecken, der mir diese Fragen beantwortet hätte. Seine Augen durchbohrten mich, eine Falte erschien auf seiner Stirn. Ich wand mich unter diesem Blick. Er bemerkte es und einer seiner Mundwinkel wanderte nach oben.
»Wie lange wohnst du schon hier?«, fragte er und zog sich die Mütze vom Kopf. Zum Vorschein kamen pechschwarze Haare, zu kurz, um zerzaust zu sein.
»Wir sind in den Ferien hergezogen.«
»Und deine Mom sucht Inspiration für ihre Arbeit? In Chester?«
Wieder war ich überrascht. »Woher weißt du das?«
Das schiefe Grinsen wurde breiter. »Ich habe Emma gefragt.«
»Du hast Emma über mich ausgefragt?«
»Ja. Was dagegen?«
»Kommt drauf an«, sagte ich nachdenklich.
Seine Mundwinkel gingen noch weiter auseinander. Eine Reihe gerader Zähne kam zum Vorschein. »Worauf?«
»Darauf, was genau du über mich erfahren hast.«
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Du bist Alexis Parker, aus Boston hergezogen. Du bist achtzehn, und ich vermute, dass du den in die Jahre gekommenen, aber in Schuss gehaltenen silbernen Ford Escape fährst, der draußen auf dem Parkplatz steht. Du hast sehr gute Noten. Deiner Überpünktlichkeit nach zu urteilen, hast du sie, weil du viel Arbeit ins Lernen steckst. Und, wie schon gesagt, siehst du interessant aus. Anziehend.«
Etwas benommen starrte ich ihn an. Was antwortete man auf so etwas?
Er musste Emma gründlich über mich ausgefragt haben. Ich wusste nicht, wie ich das finden sollte.
Und dann die Sache mit dem Aussehen. Das war ein Kompliment, oder nicht? Aber irgendwie hatte es wie eine Feststellung geklungen, nicht wie Bewunderung. Trotzdem hatte er gesagt, ich würde anziehend auf ihn wirken. Oder meinte er anziehend im allgemeinen Sinne, also nicht speziell auf ihn bezogen?
Ich rieb mir die Nasenwurzel und hoffte, ich würde jetzt nicht auch noch rot werden.
Jonas musterte mich immer noch aufmerksam. »Und ich glaube, ich weiß noch was über dich.«
»Ach ja?«
»Du reibst dir die Nase, immer dann, wenn dir etwas peinlich ist. Das hast du auch schon gemacht, als du mich im Treppenhaus fast zu Boden gerissen hast.«
Ertappt ließ ich meine Hand sinken. Er hatte recht, diese Angewohnheit hatte ich. »Du meinst, es hat mich fast umgeworfen«, meinte ich bockig.
»Kann sein. Ich kann ziemlich umwerfend sein, wenn ich es darauf anlege.« Jonas lächelte so entwaffnend, dass ich unwillkürlich lachte.
»Und? Was sagst du?«, fragte er. »Hast du nun was dagegen, wenn ich andere nach dir frage?«
»Naja, ein bisschen unfair ist das schon ... Du weißt viel über mich. Und ich weiß rein gar nichts über dich.« Bis auf den Umstand, dass er Mitglied in dieser Wichtigtuer-AG war. Aber mein Gefühl sagte mir, ich sollte das besser nicht gleich zur Sprache bringen.
»Okay«, lenkte Jonas ein. »Dann frag mich irgendwas.«
Ich überlegte kurz. »Wie heißt du mit Nachnamen?«
»Beaton.«
»Wie alt bist du?«
»Achtzehn.«
»Hm ... Und was machst du gerne in deiner Freizeit?«
Er lachte ein angenehmes, warmes Lachen. »Das ist ja wie in der ersten Klasse, als man Freundebücher ausfüllen musste. Willst du auch noch wissen, was mein Lieblingsessen und meine Lieblingsfarbe sind?«
»Irgendwo muss ich ja anfangen«, schnaubte ich und schwieg dann beleidigt.
Ich hatte permanent das Gefühl, er würde sich über mich lustig machen. Mir war die Lust vergangen, ihm weitere Fragen zu stellen. Er wartete, doch ich sagte nichts mehr.
Er machte ein gurgelndes Geräusch, das verdächtig nach Lachen klang. »Ich fahre gern auf meinem Motorrad«, warf er mir einen Friedensanker zu. »Oft mache ich mir einen Spaß daraus, einfach ins Nichts zu fahren, bis ich die Orientierung verliere, um dann ganz ohne Technik den Weg zurück finden zu müssen. Das gefällt mir.«
Aha. Es gab also Menschen, die ihren Spaß daran hatten, sich zu verirren.
»Und wenn du den Weg zurück irgendwann einmal nicht mehr findest?«
»Das hoffe ich manchmal.« Ganz plötzlich verschwand das amüsierte Lächeln aus Jonas' Gesicht. Sein Blick schweifte in die Ferne. »Denkst du dir nicht ab und zu, dass es toll wäre, sich einfach irgendwo zu verlieren? Und nicht mehr zurückkehren zu müssen zu dem Leben, das hier auf dich wartet?«
Jetzt war ich es, die ihn aufmerksam musterte. Seine Stimme war brüchig. Die Augen wurden schmal und die Gesichtszüge verhärteten sich. Ich konnte den Schatten deutlich wahrnehmen, der sich über ihn legte. Was brachte Jonas dazu, sich die Flucht aus seinem Leben zu wünschen?
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich, »ich denke oft darüber nach, wie es wäre, irgendwo Wurzeln zu schlagen. Das Umherziehen hat für mich schon vor einiger Zeit seinen Reiz verloren.«
Schlagartig war die Sehnsucht aus Jonas' Ausdruck verschwunden und er wandte sich mir mit dem feixenden Blick zu, an den ich mich fast schon gewöhnt hatte. »Ach ja, die vielen Umzüge. Davon hast du bestimmt schon die Nase voll.«
Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern. »Ich beklage mich nicht. So ist Mom nun mal. Aber irgendwann werde ich sesshaft werden. Zumindest habe ich das ganz fest vor.«
Darauf erwiderte Jonas nichts. Ich schwieg ebenfalls, bis mir etwas einfiel.
»Aber du selbst wohnst doch auch noch nicht lange hier. Warum bist du denn vor drei Jahren hergezogen?«
Als hätte ich meinen Finger auf eine Wunde gelegt, verfinsterte sich Jonas' Stimmung unvermittelt. Das Lächeln erlosch und er wandte seinen Blick von mir ab.
»Das ist eine komplizierte, anstrengende Geschichte.«
»Und mit Sicherheit interessant.«
»Die erzähle ich dir ein anderes Mal«, wich er aus. »Da kommen schon die anderen. Ich hoffe, du hast deine Bleistifte gespitzt.«
Ich sah mich um und bemerkte erst jetzt, wie gebannt ich vom Gespräch gewesen war. Das Klassenzimmer füllte sich immer mehr und auch der Lehrer, Mr. Collins, befand sich schon im Raum, ohne, dass ich ihn bemerkt hätte. Ich sah auf die Uhr. Die Stunde würde gleich beginnen. Wo war die Zeit nur geblieben?
***
Ich konnte mich nicht erinnern, schon mal so wenig Konzentration im Unterricht aufgebracht zu haben. Während Jonas aufmerksam den Ausführungen des Lehrers folgte, beobachtete ich jede seiner Bewegungen, hörte seiner Stimmenmelodie zu, wenn er etwas sagte, und atmete den wunderbaren Duft ein, den er verströmte. Er roch so unglaublich gut nach einem mir unbekannten Männerduft und nach irgendetwas anderem.
Er riecht nach Wind, nach frischer Luft, nach Wald., schoss es mir durch den Kopf. Ja, das war es.
Fasziniert betrachtete ich seine Hände, als er etwas notierte. Die Fingernägel waren kurz geschnitten, er trug keinen Schmuck an den Fingern. Nur ein dünnes schwarzes Lederarmband war um das linke Handgelenk gebunden. Ganz unerwartet überkam mich das Verlangen, seine Hand zu nehmen, um zu erfahren, wie sie sich anfühlte.
Ich blinzelte, als es in diesem Moment klingelte. Was war überhaupt das Thema der Stunde gewesen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.
Jonas packte seine Sachen in den Rucksack und ich tat es ihm gleich. Nur den Stundenplan trug ich in der Hand und überlegte, wo ich den nächsten Raum am besten suchen sollte. Jonas sagte nichts mehr und ich befürchtete schon, ihm wäre die Frage nach seinem Umzug so unangenehm, dass er beschlossen hatte, sich lieber nicht mehr mit mir zu unterhalten.
Doch er ging nicht, als er fertig war, sondern wartete, bis auch ich meine Sachen beisammenhatte. Gemeinsam verließen wir den Raum und liefen nebeneinander den Gang entlang.
»Du kennst Katie und Pat schon?«, fragte er ganz unvermittelt.
»Ja«, nickte ich. Der Gang war überfüllt und ich spürte Jonas' Hand ganz dicht neben meiner. Mein Verstand setzte kurz aus.
»Wir haben eine Lerngruppe gegründet. Die beiden, Emma und ich. Jeden Freitag bei einem von uns zu Hause. Wenn du Lust hast, kannst du dich uns anschließen.«
Nun drangen seine Worte doch in mein Bewusstsein. Er hatte mich zu seiner Lerngruppe eingeladen! Ich freute mich, und das bestimmt nicht nur, weil es mir bei den Vorbereitungen auf die Prüfungen helfen würde.
»Sehr gerne, ja.«
»Alles klar.« Er deutete mit dem Daumen in den Gang links von uns. »Du musst hier lang. Das dritte Zimmer auf der rechten Seite. Wir sehen uns beim Mittagessen, Lexie.« Mit diesen Worten bog er in einen anderen Gang ein und verschwand in der Schülermenge.
***
Bis zum Mittagessen hatte ich Gelegenheit, das Gespräch mit Jonas ausgiebig zu analysieren. Er hatte erstaunlich viel über mich gewusst. Selbst, in welchem Raum ich in der Zweiten Unterricht hatte. Klar, er hätte es zufällig sehen können, weil ich den Stundenplan in der Hand gehabt hatte. Vielleicht hatte er ja eine außergewöhnlich gute Beobachtungsgabe. Oder vielleicht war ich ihm nicht so egal, wie ich angenommen hatte.
Die Fragen nagten an mir, so lange, bis ich durch die Türen der Schulcafeteria ging. Da sah ich ihn schon vom Eingang aus an genau demselben Tisch sitzen, an dem ich am Tag zuvor mit Patrick, Katie und Emma gesessen war.
Ich ignorierte mein Herzklopfen und ging direkt auf ihn zu. Er sah aus, als würde er über etwas grübeln, doch als ich näherkam, erhellte sich sein Gesicht. Er nahm mir meinen Rucksack ab und stellte ihn neben seinem auf den Boden.
»Heute gibt es was besonders Widerwärtiges. Sieht aus wie Kleister, könnte aber auch Kartoffelbrei mit irgendeiner ekelhaften Soße sein.« Er deutete in Richtung der Essensausgabe. »Ich dachte, wir erklären uns zu Leidensgenossen und holen es uns gemeinsam.«
Ich nickte und wir holten die Tabletts, um uns dann in die Schlange einzureihen. Das Essen sah tatsächlich unappetitlich aus, aber mir war das egal. Ich war mir nicht sicher, ob ich in Jonas' Beisein überhaupt etwas runterbekommen würde. Er stand sehr nahe neben mir, ohne mich zu berühren. Inzwischen hatte er die Weste ausgezogen. Unter dem weißen Shirt zeichneten sich deutlich eine breite Brust und muskulöse Oberarme ab. Ich konnte an nichts anderes denken als an das unerklärliche Verlangen, den winzigen Raum zwischen uns zu überbrücken.
Emma, Katie und Pat saßen schon mit ihren gefüllten Tellern an unserem Tisch. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie weiter vorne angestanden waren.
Pat wies mit seiner Gabel auf einen der Stühle und weihte mich ohne große Begrüßung in seine neuesten amourösen Abenteuer ein. Er hatte es geschafft, gestern ein Date mit einer Junior zu arrangieren. Wobei auch diese Verabredung nicht zu seiner Zufriedenheit gelaufen war.
»Sie hat sich erst nur einen Salat bestellt und mir dann ständig mein Essen vom Teller geklaut«, beschwerte er sich. »Als ich ihr angeboten hatte, sich selbst was zu bestellen, sagte sie dreist, so wäre es doch viel romantischer. Stell dir das mal vor, Lexie! Romantischer! Ich bin vor lauter Romantik fast verhungert. Hab sie schleunigst heimgebracht und mir einen Burger geholt. Ich kapier das nicht, was hatte die denn für ein Problem?«
Pat ruderte so wild mit den Armen, dass er ein Messer streifte und es krachend auf den Boden fiel. Fast tat er mir leid, doch wie die anderen drei konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen.
»Vielleicht liegt es ja nicht an ihr, sondern an dir?«, zog ich ihn auf.
»Dem stimme ich zu«, sagte Jonas. »Es liegt an dir, weil du dir immer die falschen Mädchen aussuchst. Würde nicht schaden, wenn du dich mal gründlicher umsiehst. Vielleicht ist die Richtige ja viel näher als du denkst?«
Er sah in keine bestimmte Richtung. Doch ich hätte schwören können, dass er damit Katie meinte, deren Gesicht prompt die Farbe einer reifen Tomate annahm.
Also war doch etwas an meiner Vermutung dran, die beiden würden etwas füreinander empfinden.
»Ach, lass mich in Ruhe, Beaton! Du bist nicht der richtige Mann, um mit Beziehungstipps um sich zu werfen«, wehrte sich Pat.
Sofort wurde ich hellhörig, doch leider vertieften die beiden das Thema nicht weiter. Dabei hätte es mich brennend interessiert, weshalb Jonas nicht dazu geeignet sein sollte, Beziehungstipps zu geben.
»Ich glaube, du bist auf diesem Gebiet so ein Versager, dass selbst Hugh Haffner mehr Ahnung von festen Beziehungen hatte als du«, konterte Jonas.
Während die beiden sich noch eine Weile zankten, zupfte Emma an meinem Ärmel. »Lexie? Wir haben abgestimmt und somit bin ich befugt, dir einen Vorschlag zu unterbreiten«, das klang so offiziell, dass ich unwillkürlich schmunzeln musste. »Katie, ich und die zwei Casanovas hier haben eine Lerngruppe gegründet, zur Vorbereitung auf die Prüfungen. Wir treffen uns am Freitag bei mir und gehen die Abschlussprüfung des letzten Jahres durch. Kommst du auch?«
Ich warf einen flüchtigen Blick zu Jonas rüber, der mir verschwörerisch zuzwinkerte. Er war Emma wohl mit der Einladung für die Lerngruppe zuvorgekommen. Also tat ich so, als würde ich zum ersten Mal davon hören.
»Ja, klar! Danke! Soll ich was mitbringen?«
»Eigentlich nicht. Außer, du willst etwas Besonderes essen oder trinken ...«
Da stockte sie plötzlich und sah mit geweiteten Augen an mir vorbei. Ich folgte ihrem Blick und sah Christopher Hunt hinter mir stehen. Im ersten Augenblick dachte ich, er wolle zu Jonas, doch Chris beachtete ihn gar nicht. Seine eisblauen Augen richteten sich direkt auf mich.
»Hallo Lexie!« Seine Stimme klang freundlich und weich. Wie Samt. »Kann ich dich kurz sprechen?«
Irritiert sah ich zurück zu Emma, die genauso erstaunt aussah wie ich. Jonas hingegen starrte mich mit Entsetzen an. Als würde er darauf warten, dass ich mich von einem Hochhaus stürzte.
Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Wollte er damit sagen, ich solle mich auf keinen Fall auf ein Vier-Augen-Gespräch mit Chris einlassen? Ach, Quatsch! Es gab keinen Grund, nein zu sagen. Also nickte ich und stand auf. Im Vorbeigehen sah ich aus den Augenwinkeln Jonas' versteinerte Miene. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
Chris nahm mich sanft am Ellenbogen und führte mich zu einem der Fenster an der Außenseite der Cafeteria. Ich tat so, als würde ich mir die Haare aus dem Gesicht streifen, um seine Hand möglichst schnell wieder abzuschütteln.
Die Tische, die hier standen, waren nicht besetzt und zwischen uns und allen anderen war nun so viel Abstand, dass keiner mehr mithören konnte. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass viele Augenpaare auf uns gerichtet waren. Vor allem jene, die zu den GP-Mitgliedern gehörten.
Ich lehnte mich gegen einen der Tische und sah Chris abwartend an. Auch er lehnte sich an das Fensterbrett. So hatte er die Sonne im Rücken und seine unheimlichen Augen lagen im Schatten.
Chris sah wieder fast schon unnatürlich attraktiv aus. Nicht ein einziges Haar saß dort, wo es nicht sitzen sollte. Das schwarze Hemd, das er trug, war genauso enganliegend wie das von gestern. Er hätte für jedes Modemagazin als Starmodel arbeiten können. Doch wie er jetzt so vor mir stand, hätte ich jedes Foto von ihm einer Photoshop-Bearbeitung verdächtigt. Vor allem, da das Licht hinter ihm sein Aussehen noch geheimnisvoller machte. Und unheimlicher.
Er dagegen, das wusste ich genau, konnte mich im Schein der Sonne genauestens unter die Lupe nehmen. Wie ein Gebieter stand er vor mir und fixierte mich mit seinem Blick.
Ich hielt trotzig stand und fragte mich, was das hier für ein Spielchen war. Die Atmosphäre, die zwischen uns entstand, war keine der freundlichen Art.
Schließlich knickte Chris ein und sprach als erster, ohne jedoch einen Hauch von Niederlage spürbar werden zu lassen. »Wie ich sehe, hast du dich schon an unserer Schule eingelebt?«
»Ja.« Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich innerlich den kleinen Sieg feierte.
»Und du hast neue Freunde gefunden?«
Wollte er jetzt echt Smalltalk führen? Dieser Typ?
Ich musste die zähfließende Sache hier abzukürzen.
»Hör mal, Chris, du hast mich doch nicht wirklich von den anderen weggeholt, um dich nach meinem Allgemeinbefinden zu erkundigen. Wieso sagst du mir nicht einfach, was du willst und ich werde sehen, ob ich dir weiterhelfen kann?«
Keine Ahnung, was ich Schreckliches gesagt hatte, aber das hatte er nicht erwartet. Seine überhebliche Arroganz wankte nur einen ganz kurzen Moment. Aber lang genug, um es zu erkennen.
»Na dann«, sagte er mit der samtenen Stimme. »Ich wollte dich fragen, ob du mit mir ausgehen würdest.«
Nun war ich diejenige, die überrascht blinzelte. Wie um alles in der Welt kam er denn auf diesen absurden Gedanken?
»Das ist sehr nett von dir, aber mir ist ehrlich gesagt nicht ganz klar, wie du auf die Idee kommst, wir zwei könnten etwas gemeinsam haben.«
»Genau das ist ja der Sinn einer solchen Verabredung«, sagte er pikiert. Hatte er etwa erwartet, ich würde nach seiner Einladung vor Begeisterung Purzelbäume schlagen? »Dabei können wir herausfinden, ob wir zusammenpassen. Und außerdem haben wir doch schon rein äußerlich etwas gemeinsam. Du siehst fast so gut aus wie ich.«
Na das war aber mal bescheiden! Allein der Gedanke, ich könnte mit diesem seltsamen Menschen etwas Gemeinsames teilen, war mir zuwider.
Ich beschloss, deutlicher zu werden. »Danke, Christopher, aber nein.« Mit diesen Worten machte ich auf dem Absatz kehrt und mich auf den Weg zurück zu den anderen.
Ich kam keine zwei Schritte weit. Hinter mir ertönte eine Stimme, die nichts mehr mit Samt zu tun hatte. Es war ein bedrohliches Knurren. »Du solltest dir gut überlegen, Alexis, wem du hier eine Abfuhr erteilst. Ich bin es nicht gewohnt, abgelehnt zu werden. Das könnte böse Folgen für dich haben.«
Ich wandte mich ihm wieder zu. In seinem Gesicht loderte Zorn. Die aufgesetzte Freundlichkeit war wie ausradiert. »Drohst du mir?«
»Das tue ich.«
Er zeigte keine Verunsicherung oder Entmutigung, weil er abgeblitzt war. Blanke Wut und verletzter Stolz schlugen mir entgegen.
Unbewusst trat ich einen Schritt zurück und wünschte plötzlich, ich hätte Jonas' unausgesprochener Warnung mehr Beachtung geschenkt. Ich glaubte Christopher jedes Wort. Er würde es mir heimzahlen. Aber ich konnte nicht, nein, ich würde auf keinen Fall zu einem Date mit ihm gehen!
Ich hätte ihn zur Rede stellen können, ihm drohen oder Hilfe holen. Doch nichts davon erschien mir in dieser Situation sinnvoll. Also ging ich einfach, ohne irgendwas zu sagen. Und bei jedem Schritt spürte ich Chris' vernichtenden Blick im Rücken.
Als ich zu unserem Tisch zurückkam, waren nur noch Pat, Emma und Katie da. Jonas war weg.
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