EINS

Tok, tok, tok.

Das Klopfen kam mir vor wie ein unwillkommenes Störsignal. Ich ignoriert es, zog konzentriert die Augenbrauen zusammen und las den Text über die Schlacht von Yorktown weiter.

Tok, tok, tok.

Was, zum Geier, war das? Musste ich jetzt wirklich darauf reagieren? Nein, ich würde den Faden verlieren und noch einmal von vorne anfangen müssen.

Tok, tok, tok.

Oh Mann! War das zu fassen? Frustriert schlug ich das Skript zu und rieb mir die Augen. Das war's. Der rote Faden entglitt mir auf Nimmerwiedersehen und ich kehrte zurück in die Realität. Sie manifestierte sich in Form von Moms langer brauner Mähne, die im Türrahmen erschien.

»Lexie? Bist du soweit?«, fragte sie mit einem Grinsen, dessen Bedeutung ich allzu gut kannte. Sie hielt mich gerade vom Lernen ab und das wusste sie genau.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass meine Aufmerksamkeit voll und ganz ihr galt, zwinkerte sie mir zu und verschwand wieder.

Ich blinzelte verwirrt. Einmal. Zweimal. Ach ja! Heute stand das traditionelle Mästen an, wie immer vor meinem ersten Tag an einer neuen Schule. Dieses Mal war es die Valley Regional High School in Deep River, Connecticut.

Ergeben raffte ich meine Schulsachen zusammen und stopfte sie in den Rucksack. Ganz obenauf kam der Terminplaner und ich ließ es mir nicht nehmen, noch einmal einen Blick hineinzuwerfen. So langsam entwickelte ich eine Zwangsstörung, was das anging.

Das Papier fühlte sich ausgefranst und abgegriffen an, als ich Seite für Seite umblätterte und die Wochen abzählte, die mir noch bis zu den Abschlussprüfungen blieben. Es waren immer noch achtzehn, wie auch schon vor gut einer Stunde. Die farbigen Markierungen auf den Seiten verrieten mir, dass ich gut in der Zeit lag. Vorausgesetzt, der Wechsel der Schule, und somit auch der Lehrer, würde mir keinen Strich durch die Rechnung machen.

Seufzend stieß ich mich vom Schreibtisch weg und schob den knarzenden Drehstuhl nach hinten. Mein abgewetzter Lernbegleiter hatte definitiv schon mal bessere Tage gesehen. Liebevoll strich ich über die blassgrün gepolsterte Sitzfläche. Jeder Fleck, jeder Kratzer war mir so vertraut wie mein Handrücken. Ganz anders als der Raum, in dem ich von nun an leben sollte.

Die Umzugskartons standen entlang der Wand. Meine Klamotten stapelten sich, fein säuberlich geordnet, auf dem Boden. Der leere Kleiderschrank wirkte wie ein riesiges Ungeheuer, mitten im Gähnen erstarrt. Bisher hatte ich keine Zeit gefunden, die Türen anzuschrauben.

Ich war in der Lage, Möbel eigenständig aufzubauen. Der Kontrollfreak in mir hatte sich diese Fähigkeit selbst angeeignet. Purer Überlebensinstinkt, schließlich war das unser vierter Umzug in den letzten drei Jahren. Von denen zuvor ganz zu schweigen.

Aufgrund meiner schulischen Verpflichtungen, die Mom als übermotivierten Lernzwang bezeichnete, war ich nicht dazu gekommen, mein Handwerk an diesem Zimmer zu erproben. Das Einzige, was hier zusammengebaut und frisch bezogen war, war mein Bett.

Eigentlich wollte ich das heute noch erledigen. Doch Moms Enttäuschung wäre zu groß, sollte ich ihre geliebte Tradition missachten. Also zog ich den Reißverschluss meines hellblauen Hoodies hoch und lief die Treppe herunter.

Mom wartete im Wohnzimmer auf mich, in dem immerhin das Sofa und der Schrank an Ort und Stelle standen. Und natürlich – ohne ihn ging es keine zwei Tage – der Fernseher. Es war ein überdimensionaler Flachbildschirm. Bei richtigem Licht gab er einem das Gefühl, man würde als einziger Zuschauer im Kino sitzen.

»Was sehen wir uns heute an?«, fragte ich, griff mir ein Stück Pizza aus einer der fünf Schachteln, die auf dem Wohnzimmertisch gestapelt waren, und ließ mich aufs Sofa fallen.

»Casablanca«, erwiderte Mom mit vollem Mund und der Fernbedienung in der Hand. »Ich dachte mir, der wäre mal wieder nett. Findest du nicht?«

»Hm ... ja«, nuschelte ich. Der Film interessierte mich gerade weniger. Meine Geschmacksknospen spielten nämlich verrückt.

»Was ist denn auf dieser Pizza alles drauf?« Ich nahm das Stück in meiner Hand unter die Lupe. Ein buntes Gemisch aus Zutaten wie Champignons, Oliven, Artischocken, Salami, Schinken, Ananas und mir unbekannten Objekten zierte den Teigboden.

»Ach, ich habe da so einen Verkaufsstand entdeckt: Die haben einen Steinofen aufgebaut und ein kleines Holzhaus daneben gestellt, in dem sie den Teig frisch zubereiten. Eine super Geschäftsidee, sag ich dir! Und die Besitzer sind nett. Da kann man jederzeit was bestellen und sich den Belag nach Lust und Laune zusammenstellen. Ich konnte mich nicht entscheiden und habe die Pizzen einfach mit allem, was sie hatten, belegen lassen.«

Das war mal wieder typisch. Meine Mutter machte nichts »normal«. Bei den simpelsten Alltagstätigkeiten schaffte sie es, die skurrilsten Einfälle umzusetzen. Ich grinste und prostete ihr mit der Pizza zu. Statt einer Antwort zitierte sie, wie so oft, ihren Lieblingsphilosophen.

»Du weißt doch, Schätzchen, die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.«

***

Zwei Stunden später war der Film zu Ende und drei der fünf Pizzen vertilgt. Ich hätte schwören können, dass Moms »besondere Kreation« nach jedem weiteren Stück immer besser schmeckte.

Zufrieden lehnte ich mich zurück und gab mir noch ein paar Minuten, bevor ich nach oben ging und mir die Schulsachen für morgen zurechtlegte. Ach ja, die Schule ...

Wie immer schien Mom eine besondere Antenne für meine Gefühle zu haben, denn genau in diesem Moment sagte sie: »Na, schon aufgeregt?«

Sie versuchte, das schlechte Gewissen mit aufgesetzter Fröhlichkeit zu überdecken, doch ich wusste es besser. Unser Umzug war jedes Mal allein ihre Entscheidung. Sie sagte, es täte ihrer Karriere gut, doch ich vermutete, dass sie es nur aus Rastlosigkeit tat.

Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht mehr als sonst.«

Es waren nicht die neuen Mitschüler und Lehrer, die mir Sorgen bereiteten. Ich konnte Menschen gut einschätzen und hatte in der Vergangenheit kaum Probleme, Anschluss zu finden, auch wenn mir die Möglichkeit, feste Freundschaften zu schließen, verwehrt blieb. Was mir allerdings eine Heidenangst einjagte, waren die Schulräume selbst. Ich hatte eine ausgeprägte Orientierungsschwäche und verlief mich immer und überall.

»Wenn du im Wohnzimmer stehst und dich dreimal im Kreis herumdrehst, würdest du nicht mal mehr den Ausgang finden«, behauptete Mom ständig. Damit traf sie den Nagel auf den Kopf.

Die Valley Regional High School befand sich nur etwa zehn Autominuten von unserem neuen Haus in Chester entfernt. Um mich nicht blind auf das Navi verlassen zu müssen, hatte ich den Schulweg mehrere Male abgefahren und mir auffällige Häuser, Schilder oder Plakate gemerkt.

In der Schule jedoch begann das Dilemma von vorne: In der Vergangenheit hatte ich es mehrmals geschafft, an einem einzigen Schultag zu jedem Kurs zu spät zu kommen oder in fremde Klassen zu platzen. Allein der Gedanke, es könnte morgen wieder so laufen, trieb meinen Puls ungesund in die Höhe.

Ich schüttelte den Kopf und blickte auf. Mom betrachtete mich. Wie so oft erriet sie meine Gedanken.

»Soll ich vielleicht morgen mitkommen und mit dir wenigstens die wichtigsten Räume abgehen?«, bot sie an.

Sofort hatte ich das Bild vor Augen, wie ich, schüchtern an Mommys Hand geklammert, die neue Schule erkundete.

»Danke, Mom, aber das schaff ich schon«, sagte ich bestimmt. »Außerdem wurde mir eine Tutorin zugeteilt, die mich am ersten Tag herumführt. Sie wird mir alles zeigen.«

Sie nickte. »Also morgen, hm?«

»Ja. Morgen.«

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