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  "Überraschung, ich bin wieder da!" Mit einer rasanten Schwungbewegung öffnete Corbyn die Tür und betrat das Zimmer. In seinen Händen trug er einen voluminösen, grauen Kleidersack und eine kunterbunt gefüllte Tüte, die er prompt auf ihrem Bett abstellte. Der schwache Duft frischer Kleidung erfüllte die Luft. Ella zuckte überrascht zusammen, von Corbyns Rückkehr völlig überrumpelt.
  "Was ist mit deinen Haaren passiert?" Sein Blick huschte über ihre neue Frisur.
  Ein strahlendes Lächeln schlich sich auf Ellas Lippen. "Ich dachte, es ist Zeit für eine Veränderung. Gefällt es dir?" Sie fuhr sich durch die noch leicht welligen Strähnen.
  Corbyn erwiderte mit einem Nicken: "Es ist besser, als vorher. Ich habe dir einige neue Kleider mitgebracht. Ich konnte einfach nicht anders, als mir über deine Selbstzweifel den Kopf zu zerbrechen. Wie zeige ich dir am besten, was ich in dir sehe? So kam ich auf die Idee, dich mit den notwendigen Dingen auszustatten."
  Mit behutsamen Bewegungen zog er den Reißverschluss des Kleidersacks herunter, um ein kleines Modespektakel zu enthüllen. Zuerst kamen zwei Oberteile zum Vorschein: eine schneeweiße Bluse mit einer auffälligen Stickerei eines Käfers, die die Buchstaben "CD" trug, und ein zarter, gestreifter Pullover aus Wolle. Die Kleidungsstücke hingen erwartungsvoll an Holzbügeln an der Tür. Anschließend beförderte er einen kurzen, schwarzen Rock mit einem funkelnden goldenen Knopf und eine Hose aus feiner Spitze aus der Tüte und ordnete sie kunstvoll zu den Oberteilen.
  Dann kam ein kleines Highlight: ein altrosa Polokleid, geschmückt mit Perlenknöpfen und einem schwarzen Ledergürtel, verziert mit goldenen Details. Doch das ultimative Stück war ein kurzes, weißes Kleid, dessen Rüschen und Tüll in einem himmlischen Umhang mündeten. Es erinnerte an das Kleid eines Engels.
  "Ich weiß, es ist ein wenig extravagant, aber als ich es sah, konnte ich einfach nicht anders, als an dich zu denken", erklärte Corbyn mit einem leidenschaftlichen Funkeln in den Augen. "Würdest du es anprobieren?"
  Ella war sprachlos vor Ehrfurcht angesichts der prächtigen Kleidung. Sie mag nicht viel von Mode verstehen, aber selbst ihr war klar, dass diese Stücke ein halbes Vermögen wert sein mussten. Sie nickte und nahm das Kleid, welches er ihr vor die Nase hielt, ehrfürchtig entgegen. Sie wartete eine kurze Zeit. Wird er etwa nicht den Raum verlassen oder sich wegdrehen? Aber sie war zu überwältigt um die Situation zu durchdenken, also legte sie ihre alten Lumpen ab und zog sich das Kleid über. Es passte wie angegossen. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass ihre Oberweite nicht fehl am Platz war, sondern zu ihrem Körper dazu gehörte. Sie musterte sich im Spiegel und konnte nicht anders, as zu staunen. Dieses Kleid brachte das Beste in ihr zum Vorschein.
  "Du musst deine Narben nicht bedecken, sie gehören zu dir. Denkst du nicht, sie machen dich einzigartig?"
  Nun das, das war wohlmöglich das einzige, was sie an Corbyns Kleidungswahl störte. Sie war zwar nicht freizügig, aber so geschnitten, dass jedes Kleidungsstück ihre Narben zeigte. Reflexartige hielt sie diese mit den Händen bedeckt, als sie sich im Spiegel begutachtete. Sie vermied normalerweise, dass jemand diese zu Gesicht bekam, weshalb sie gerne lange Hosen trug. Einerseits war es die Scham, andererseits wolle sie nicht mit jedem Blick an sie erinnert werden. Alleine jetzt, da sie ihre Hände hob, spürte sie schon wieder, wie der Kloß in ihrem Hals wuchs. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, sodass sie sich nicht übergibt.
  "Ja, du hast recht", antwortete sie.

  "Sieh mal, du hast bereits angefangen, das Buch zu lesen", bemerkte Corbyn und ließ seinen Blick über die Seiten schweifen. "Im Nachhinein frage ich mich, ob es wirklich eine gute Idee war, es dir zu geben. Manche Szenen darin könnten zu obszön für deine Seele sein. Aber, nun ja, was denkst du?"
  Ella schenkte dem Buch ein nachdenkliches Lächeln. "Es hat mich nicht gestört, im Gegenteil, ich fand es faszinierend."
  "Verstehst du, warum ich es dir gegeben habe?" fragte er, seine Augen auf ihre gerichtet.
  Ella zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. "Ich vermute, du möchtest, dass ich meine Moral und meine Überzeugungen hinterfrage."
  Corbyn nickte anerkennend. "Du bist eine kluge junge Dame."
  Einige Sekunden der Stille vergangen, bevor Corbyn begann, ihre alte Kleidung einzusammeln und in einen Müllsack zu stecken.
  "Was machst du mit meinen Sachen?"
  Ich werde diese alten Sachen verbrennen, die Beweise vernichten. Du bist jetzt eine neue Person, oder nicht?"
  Sie nickte.
  "Ich hoffe, du verstehst jetzt, wie hübsch du sein könntest, würdest du dir ein bisschen mehr Mühe geben. Das Zeug in der Tüte ist auch für dich, nun entschuldige mich bitte, ich habe noch etwas zu tun."
  Er stiefelte Richtung Tür, mit dem Sack alter Kleidung in der Hand. In Ella entflammte einen merkwürdige Melancholie für die Vergangenheit. Der Gedanke, das ganze Zeug zu verbrennen, weckte in ihr ein Unwohlsein. Und da kam es ihr wieder in den Kopf. Dieses Wirrwarr aus Fragen, was ist, was war und alles rund um ihn. Sie konnte sich nicht zurückhalten. Die Worte platzten einfach aus ihr heraus:

  "Was ist das zwischen uns?" Ihre Stimme zitterte leicht.
  Corbyn hob eine Augenbraue und erwiderte in einem emotionslosen Tonfall, der Ella das Herz schwer werden ließ: "Was meinst du?"
  Sie hätte es besser wissen sollen. Verdammt, war das peinlich. Aber es gab kein Zurück mehr, also versuchte sie sich zu erklären.
  "Du warst heute Morgen so anders", stammelte sie beinahe flehend.
  Corbyn schien ihre Verwirrung nicht teilen zu wollen.
  "Ach komm, Mädchen, du kennst mich doch kaum. Woher willst du wissen, dass ich nicht immer so bin?"
  Ella fühlte sich verunsichert. Hatte er nicht versucht, sich ihr anzunähern? Oder war es nur Einbildung gewesen, um ihr Selbstwertgefühl zu stärken? Warum spielte er jetzt den Unnahbaren? Ein plötzlicher Anflug von Verzweiflung oder Wut verwirrte ihre Gedanken. Ihre Sicht verschwamm, und sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Schließlich zuckte sie auf und schüttelte sich, um sich wieder zu fangen.
  Corbyn, sichtlich besorgt, fragte: "Du meinst das ernst, oder?" Seine Stimme klang verunsichert, fast als würde er mit Tränen kämpfen. "Es schmerzt, dass ich dich verletzt zu haben scheine. Es war nie meine Absicht, dass du dich unwohl fühlst. Es tut mir so leid, ich verstehe dich einfach nicht."
  Ella beeilte sich zu beschwichtigen: "Nein, nein, alles ist gut, ist schon okay. Vergiss das einfach wieder."
  Sie fragte sich, wie sie überhaupt auf diese Gedanken gekommen war. Vielleicht drehte sie tatsächlich durch, oder? Nein, sie durfte nicht zulassen, dass dieser Gedanke wieder Überhand gewann. Sie atmete tief ein und aus, zwang sich zur Ruhe.
  Corbyn schien nicht aufgeben zu wollen und bohrte weiter. "Nein, wirklich, nichts ist in Ordnung. Ich möchte verstehen, was dich verletzt hat. Bitte erkläre es mir."
  Ella fand sich in einem Dilemma wieder. Jetzt musste sie ihre irrationale Verwirrung in aller Deutlichkeit erklären. Sie verdankte es sich selbst, diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen. Es wäre unfair, es ihm jetzt nicht zu erzählen.
  "Es war die Nähe und die Berührungen, glaube ich", begann sie zögerlich. "Es könnte an meiner Vergangenheit mit meinem Pflegevater liegen, dass ich so nervös werde. Aber letztendlich war es... es war der Kuss, der mich so verwirrt hat."
  Corbyn runzelte die Stirn und schien nachzudenken. "Aber ich habe dich nie geküsst."
  Das Wort "geküsst" betonte er auffällig. So auffällig, abfällig. Es war, als ob er all seine Verwirrung und Ablehnung in dieses eine Wort packte. Hatte sie es nur geträumt, oder war es ein weiterer Trick ihres Verstandes?
  "Ich nehme an, du hast die Situation falsch interpretiert", meinte er schließlich. "In dieser Hinsicht hast du wohl noch viel Arbeit vor dir. Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt erstmal nicht weiter darüber nachdenkst."
  Dann verließ er den Raum, und Ella blieb allein zurück, mit ihren Gedanken und der Verwirrung über das, was zwischen ihnen vorging.

~~~

  Ich möchte gar nicht zu viel dazu sagen, außer, dass ich Ella in dem weißen Kleid skizziert habe. Hättet ihr Interesse an Charakterskizzen? Dann würde ich vielleicht mal ein paar in einem Kapitel veröffentlichen.

~ Manon

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