Ohne Moos nix los
Eine Spur geknickt wandere ich zurück in Richtung Gemeindezentrum. Rechts und links des Weges zeigen sich mir unzählige weitere Beschäftigungsmöglichkeiten. Auch wenn ich überzeugt bin, dass ich die Stelle im Supermarkt bekomme, schadet es nicht, Alternativen abzuklären. In der Schule hat man uns zur Initiativbewerbung geraten. Sich für Stellen zu bewerben, die nicht offiziell ausgeschrieben sind. Da gäbe es praktisch keinerlei Konkurrenz. Also klappere ich eine Arztpraxis, die örtliche Apotheke, die Bäckerei und sogar das Gemeindeamt ab. Doch nirgends eine Stelle. Selbst in den Restaurants wird niemand benötigt. Ein paar Mal werde ich gefragt, ob ich überhaupt alt genug bin. Mein Bartwuchs mag nicht gewaltig sein, aber ich sehe sicher nicht wie ein Zwölfjähriger aus.
Was soll's? Ich muss mir Papier besorgen und die Bewerbung beim Supermarkt handschriftlich verfassen. Das erzeugt den Eindruck von Mühe. Damit hebe ich mich von den anderen ab, die eine Standardbewerbung an x Stellen versenden. Und mein Schriftbild kaschiert womöglich einige Rechtschreibfehler. Als Nächstes kümmere ich mich um eine Wohnung. Hoch gepokert, dass ich mir eine leisten kann, noch bevor ich die Stelle habe. Aber die Alternative wäre es, dass ich im Freien schlafe. Das würde bei den derzeitigen Temperaturen sicher alles andere als gemütlich werden. In meinem kaum beheizten Zimmer ist es nachts bereits kalt, da will ich nicht die Erfahrung hier draußen machen.
In der Gegend ums Zentrum wurde kürzlich eine neue Wohnhausanlage gebaut. Auf dem Weg zur Schule bin ich daran vorbeigekommen und habe mir den Flyer aufgehoben, der Passanten in die Hand gedrückt wurde. Auf meinem Handy bemerke ich zwei entgangene Anrufe von Paps. Na super, jetzt hat er unnötig Guthaben verbraten. Ich überlege, ihn zurückzurufen, aber ich weiß nicht, ob ich die Eier habe, mich erneut durchzusetzen. Stattdessen rufe ich die Nummer der Maklerin an.
„Ja bitte?", meldet sie sich.
„Ich melde mich wegen der Wohnungen in der Huttenstraße."
„Ein wunderschöner Neubau, nicht wahr? Für welche Größe interessieren Sie sich?"
„Das Kleinste, was sie haben. Ich ziehe alleine ein."
„Im Obergeschoss haben wir ein paar hübsche Garconnieren. Wir veranstalten nächste Woche einen Besichtigungstermin."
„Ich bräuchte die Wohnung aber jetzt."
Sie hält einen Moment inne. „Es tut mir leid, ich bin gerade in Wien."
„Könnten Sie vorbeikommen? Ich nehme die Wohnung auch garantiert." Bei Gott beeil dich, mein Guthaben ist nicht unbegrenzt.
„Nun, wenn es so eilt, kann ich Ihnen vielleicht einen Termin morgen Vormittag anbieten."
„Ich brauche noch heute eine Wohnung."
„Wie bitte?"
Ich fahre mir mit der Hand durchs Gesicht. Vielleicht sollte ich Makler werden. Die scheinen auch begriffsstutzig zu sein. „Ich will heute einziehen."
„Verzeihen Sie, aber das ist unmöglich."
„Wieso?"
„Abgesehen davon, dass ich Ihre Kreditwürdigkeit prüfen muss, werde ich gegebenenfalls erst einen Vertrag aufsetzen, die Kaution muss überwiesen werden, die Maklergebühr und die ersten zwei Mieten."
Ich habe keine Ahnung, wovon die Frau überhaupt spricht. Bei Kreditwürdigkeit habe ich nur noch Meeresrauschen gehört. Es klingt nach einer Menge Papierkram. „Und das kann man nicht beschleunigen?"
„Ich fürchte nicht."
„Aber in ihrer Anzeige stand, die Wohnungen wären sofort bezugsfähig."
„Das heißt, sie stehen zum Bezug bereit. Nicht, dass ich Ihnen heute den Schlüssel in die Hand drücken kann", sagt sie mit einer Spur Belustigung in der Stimme.
„Also gut, dann werde ich solange in einem Hotel übernachten müssen."
Sie hält erneut inne. „Ist das ein Witz?"
„Nein."
„Sind sie obdachlos?"
„Ich bin heute ausgezogen."
„Aber Sie können für die Kosten der Wohnung aufkommen?"
„Ich fange in Kürze zu arbeiten an."
„Und Sie haben die finanziellen Mittel, die Gebühren nach Vertragsabschluss zu decken?"
„Wie meinen Sie das? Man zahlt die Miete doch erst nach einem Monat."
„Haben Sie mir eben nicht zugehört?"
Ich lecke mir über die Lippen. „Ehrlichgesagt klang mir das zu kompliziert."
„Okay, wie wäre es, wenn sie einfach zu dem Besichtigungstermin kommen?"
„Ich sagte doch ..."
„Verzeihen Sie, ich bekomme gerade ein Gespräch rein. Auf Wiederhören."
Ich sehe das Handy verdattert an. Eine ungewohnte Form von Erschöpfung überkommt mich. Es fühlt sich ungefähr so wie der erste Blick auf die letzte Matheschularbeit an. Mit einem Mal fühle ich mich noch viel blöder, als an dem Tag, da ich mein Jahreszeugnis erhielt. Wollte Paps mich davor beschützen? Dass ich enttäuscht werde, nur Ablehnung erfahre?
Ich hole mir die Chips aus dem Rucksack. Die schmeckten neu bereits wie Papier. Jetzt erinnern sie mehr an Pappmaché. Ein paar Stunden bin ich frei und schon fühlt es sich an, als stünde ich vor dem Ende. Muss ich zu Paps zurückkehren? Er würde das Ganze sicher als Scherz werten. Und was dann? Irgendein Kurs, bei dem versucht wird, mir den Stoff in den Schädel zu prügeln, derweil unser Haus zerfällt und wir weiter auf ein absehbares Ende zurasen.
Über kurz oder lang sitzen wir entweder in einer Ruine oder auf der Straße. Und dann bin ich wirklich unter Zugzwang. Nein, ich muss das hinbekommen. Mir selbst beweisen, dass ich allein zurechtfinde. Für heute besorge ich mir ein Hotelzimmer. Sicher bekomme ich an der Rezeption etwas zum Schreiben. Ich gehe zum Gemeindeamt und frage die Dame am Schalter, ob sie mir die Nummer des nächsten Hotels gibt. Sie sieht mich zwar an, als käme ich vom Mond, notiert sie mir aber auf einem Klebezettel.
Einen Anruf später ist mein Handyguthaben auf drei Euro geschrumpft und ich um eine Erfahrung reicher. Keine Ahnung, mit was ich gerechnet habe. Aber das günstigste Zimmer kostet siebzig Euro die Nacht. Von dem Geld ernähren wir uns zwei Wochen.
Welche Optionen stünden mir sonst offen? Bei ehemaligen Schulkameraden anklopfen und um Asyl bitten? Ich weiß nicht einmal, ob hier in der Gegend einer wohnt. Die wenigsten werden extra aus Eichgraben zur Mittelschule in Neulengbach gependelt sein. Außerdem würden deren Eltern wahrscheinlich Paps anrufen, der mich mitten in der Nacht aufgabelte. Abgesehen davon will ich selbstständig und nicht zum Bettler werden. Auch wenn ich fast zu dem Gedanken tendiere, mich irgendwo mit ausgestreckter Hand hinzusetzen und darauf zu hoffen, heute noch siebzig Mücken aufzutreiben.
Andererseits, was soll's? Ich hab die Typen bei Naked Survival gesehen, die nackt irgendwo in der Wildnis durchgekommen sind. Ich bin warm angezogen und werde hier sicher nicht von wilden Tieren bedroht. Im schlimmsten Fall stehe ich eine Nacht durch.
Ich überwinde meinen Scham und gehe erneut ins Gemeindezentrum. Die Frau sieht mich bereits beim Hereinkommen mitleidig an. Ich bitte höflich um ein Stück Papier und einen Kugelschreiber. Sie gibt es mir, ohne zu zögern, mit einem seligen Blick, als füttere sie Tauben.
In der Bibliothek gleich nebenan tue ich zunächst, als ginge ich die Bücher durch, ehe ich mich in einer stillen Ecke hinsetze und zu schreiben beginne. Es dauert ziemlich lange, nachdem ich mir genau überlege, wie ich die Worte wähle. Immerhin habe ich keine Zeit, sie zu korrigieren. Auf die Vorderseite schreibe ich die Bewerbung auf die Rückseite den Lebenslauf. Die Zeugnisse bringe ich persönlich mit, füge ich unter der Unterschrift hinzu. Das ist wahrscheinlich auch besser. Meine letzten Zeugnisse kann ich nur mit einem perfekten Bewerbungsgespräch ausgleichen. Wenn die Filialleitung diese Ansammlung von Fünfern sieht, lädt sie mich keinesfalls zu einem Gespräch ein.
Kurz vor Ladenschluss gebe ich das Ganze einer verwirrt dreinschauenden Mitarbeiterin ab, ehe ich mir ein reduziertes Brot kaufe. Damit komme ich zumindest hungertechnisch eine Weile durch.
Je später die Stunde rückt, desto kälter wird es. Ich halte mich mit Spazieren warm. Rundherum schließen die letzten Geschäfte, in den Häusern gehen die Lichter erst an, dann aus. Wie es Paps jetzt wohl geht? Hoffentlich sorgt er sich nicht unnötig.
Selbst wenn ich in Bewegung bleibe, fröstele ich beständig mehr. Ich gehe zum Bahnhof und überlege mir, in den nächsten Zug einzusteigen. Aber ich möchte keine Strafe riskieren, weil ich ohne Ticket fahre. Der Gang in die Freiheit soll nicht mit einem Verbrechen beginnen.
Erschöpft sinke ich in der Unterführung zu Boden. Der Wind bläst erbarmungslos hier durch. Ich tauche mit dem Kopf in die Jacke ein, doch die Kälte zieht von unten durch meine Hose bis hinauf in die Brust. Es ist arschkalt. Keine Ahnung, wie ich die Nacht durchhalten soll.
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