Fünf Mücken entzücken

„Aufstehen, du Penner!"
Ich öffne die verklebten Lider und blinzele. Es ist viel zu hell und ich beobachte die Welt durch Schlitze. Das Mädchen sieht mich ungeduldig an. Sie kniet vor dem Eingang zu meiner Schlafkammer. Ihre Brüste baumeln fast aus ihrem lockeren Spaghetti-Leibchen. Als sie meinen Blick bemerkt, zieht sie ihren Cardigan über die Brust und klammert ihn mit der Hand zusammen. „Hast du mir gerade auf die Titten geglotzt?"
Ich hebe beide Hände. „Nein, ich schwöre." Das ist streng genommen keine Lüge. Ich habe nicht bewusst hingesehen. Meine Augäpfel wurden nur magisch davon angezogen. Ihr Fuchs knurrt mich an und ich rutsche zur Zeltwand zurück.
„Zeit für dich, abzuhauen." Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände darüber, ob sie mir glaubt. Offenbar hält sie mich immer noch für eine Art Triebtäter oder Perversen. Sie verlässt das Zelt und ich klettere hinter ihr hinaus. Es ist vormittags und zumindest warm genug, dass ich hier drin keine Jacke mehr brauche. Das heißt, draußen sollte ich klarkommen. Ich fühle mich eine Spur erkältet, aber es könnte schlimmer sein.
Im Tageslicht kann ich ihre Behausung endlich vollständig mustern. Es wirkt wie die Mischung aus Holzlager und einem unaufgeräumten Teenagerzimmer. Sie verfügt über Strom – oder die Kabeltrommel steht unnütz da, einen Wasserkocher, eine Kochplatte, eine rudimentäre Ausstattung an Geschirr. Außerdem eine Kamera auf einem Stativ, als würde sie hier irgendeinen Film drehen. Alles wirkt zusammengewürfelt und ungeordnet. Aber wie sollte es in diesen beengten Raumverhältnissen auch anders sein?
„Bist du dann fertig?", fragt sie mit einem Deut zur Tür.
Ich falte die Hände vor der Brust zusammen und neige das Haupt. „Ich danke dir, ehrlich."
„Schwing keine Opern und zieh Leine."
Ich lächle ihr zu. Sie tut auf raue Schale, aber wahrscheinlich hat sie da drin wirklich ein Messer und hätte mich abstechen können. Grund genug habe ich ihr gegeben. Als ich zur Tür hinauswill, hält sie mich an der Jacke fest.
„Fast vergessen, du schuldest mir die Miete für einen Tag."
Ich sehe sie verdattert an. So viel zu ihrer Gutherzigkeit. „Ich hab kaum Geld."
Sie hält die Hand auf. „Fünf Mücken."
Das ist im Vergleich zum Hotel geschenkt, bedeutet aber, dass ich nur noch einen Euro übrig behalte. Ich zögere einen Moment, ehe ich mich besinne. Das Mädchen hat mir das Leben gerettet. Worüber denke ich nach? Allerdings habe ich dann keine Kohle mehr, um nötigenfalls mit dem Zug heimzufahren. Ich zähle das Geld ab und halte es in der Hand. Vielleicht ist es besser so. Das wird mich antreiben. Mich zwingen, mir mehr Mühe zu geben. Ich lasse die Münzen in ihre Handfläche fallen und sie zählt sie eilig durch.
„Nochmal danke", sage ich schwerfällig. Der Gedanke, gleich wieder in die raue Welt hinauszugehen, lässt mich schwermütig werden. Dieses Mädchen lebt hier praktisch im Nichts. Sie wäre die perfekte Mentorin und gleichzeitig berührt sie mich peinlich durch ihre Überlegenheit. Wie bekommt sie das so einfach hin? Sie ist definitiv jünger als ich.
„Warte einen Moment."
Ich halte inne und sehe zurück.
„Der Preis beinhaltet ein Frühstück."
„Schon in Ordnung, ich will dir nicht zur Last fallen."
Sie verdreht die Augen. „Nun tu nicht so eitel, wenn dir jemand was zum Futtern anbietet. Du wirst noch hungrig genug werden."
Es gibt Toast mit gekochten Eiern zum Frühstück. Als ich mein Brot teilen will, winkt sie ab. Offenbar ist sie heute in Geberlaune. Dabei scheint sie selbst nicht viel zu haben. Außer sie hat ihre Vorräte irgendwo vergraben.
„Also, wie kommst du auf die Straße? Sollte da nicht die Jugendhilfe eingreifen?", fragt sie.
„Ich bin gestern ausgezogen."
Sie kneift ein Auge zusammen und gibt ihrem Fuchs, der auf ihrem Schoß zusammengerollt liegt, ein Stück Toast ab. „Sucht man sich normalerweise nicht erst eine Wohnung?"
„Mein Vater hätte davon nichts gehalten."
„Wirst du zuhause geschlagen?"
Ich schüttele den Kopf.
„Sonst wie mies behandelt?"
„Er ist echt in Ordnung."
„Dann bist du echt bescheuert. Was soll der Blödsinn? Du hast ein Dach über dem Kopf und haust ab? Bist du zwölf oder was?"
„Dasselbe könnte ich dich fragen."
„Ich stelle hier die Fragen, klar?" Ihr Fuchs richtet sich auf und knurrt. Sie tätschelt ihm beruhigend den Kopf, worauf er sich wieder auf ihrem Schoß zusammenrollt und mit einem weiteren Stück Toast gefüttert wird. „Also, was soll der Mist? Warum reißt du planlos von zuhause aus?"
Die Antwort ist mir peinlich, aber gegenüber einer, die dasselbe getan hat, kann ich ja wohl offen sein. „Mein Vater kann sich mich nicht mehr leisten."
„Wieso? Brauchst du irgendwelche Medikamente oder isst du nur mit Silberbesteck?"
Ich schüttele den Kopf und sehe zu Boden. „Ich bin mit der Schule durch und wir bekommen kein Kindergeld mehr. Wir kamen bisher schon schwer über die Runden."
„Du bist also ein Heiliger. Hast du mal drüber nachgedacht, wie sich deine Eltern fühlen, wenn du hier draußen krepierst? Ist das vielleicht besser?"
Da hat sie Recht. „Aber so war das doch nicht geplant. Ich besorge mir einen Job und eine Wohnung. Dann unterstütze ich ihn."
„Ist deine Mutter tot?"
„Ausgezogen."
Sie nickt sachte. „Du bist ganz schön dumm, weißt du das?"
Ich schiebe die Unterlippe vor.
„Wie ein Vogelbaby, das aus dem Nest gefallen ist. Als ob du von heute auf morgen eine Arbeit bekämst. Bist du zufällig ein Harvard-Student, dass du glaubst, die empfangen dich mit offenen Armen?"
„Ich dachte, ich jobbe beim neuen Supermarkt."
„Klar, du bist sicher der Einzige, der sich dort bewirbt."
„Meine Mutter meinte mal, die Leute am Land pendeln alle in die Stadt."
Sie fährt sich mit der Hand durchs Gesicht. „Und du glaubst, keiner hier würde sich den Weg gerne ersparen?"
„Daran hab ich gar nicht gedacht."
„Okay, was für eine Ausbildung hast du denn?"
Ich weiche ihrem bohrenden Blick aus.
„Hast du überhaupt die Schule fertig?"
Ich wedele vage mit der Hand.
„Glaubst du echt, im Supermarkt arbeiten nur Bananenschädel? Schon mal was von dem Beruf Einzelhandelskaufmann gehört? Das ist ne Ausbildung, Junge. Du kannst vielleicht in den Sommerferien dort aushelfen, wenn alle andern im Urlaub sind. Aber einfach so ohne irgendeinen vorzeigbaren Abschluss." Sie lässt das Ende des Satzes in der Schwebe. „Geh zurück nach Hause."
„Ich kann nicht."
„Natürlich kannst du."
„Du hast mir das Geld für ein Zugticket abgeknöpft."
„Fahr schwarz so wie alle."
„Ich bin kein Verbrecher."
„Ein Moralapostel, na super." Sie stöhnt auf, kramt das Geld aus ihrer Hosentasche und hält es mir entgegen.
„Behalt es", sage ich abwehrend.
„Jetzt hab dich nicht so."
„Wenn ich es nehme, komme ich nur in Versuchung, wirklich zurückzugehen."
„Junge, du hast hier draußen keine Chance."
„Du lebst hier doch auch."
„Ich bin aber nicht als Kind hundertmal vom Wickeltisch gefallen."
„Ich bekomme heute den Job und kann für mich sorgen."
„Klar und woher holst du dir eine Wohnung?"
„Nächste Woche gibt es einen Besichtigungstermin in der Huttenstraße. Vielleicht kann ich derweil hier ..."
Sie greift sich auf die Nasenwurzel. „Ich wusste es, dass du ein Perverser bist."
„Ich will echt nichts von dir. Aber das Hotel ist schweineteuer."
Sie mustert mich mitleidig. „Du planst, das durchziehen, was?"
Ich nicke ihr ernst zu.
Sie richtet sich auf und stützt sich auf einen Stoß Holz. In meinem Inneren brodelt es vor Ungeduld. Schließlich dreht sie sich um und verschränkt die Arme. „Also gut, fünf Euro pro Tag. Das sollte kein Problem sein, immerhin besorgst du dir ja heute einen Job. Und im schlimmsten Fall bettelst du eben Leute an. Außerdem akzeptierst du die Hausregeln. Wenn du meine Grenze überschreitest, werfe ich dich raus, klar?"
„In Ordnung? Wie lauten die Regeln?"
„Die arbeite ich noch aus. Ich habe keine Perversen hier als Besuch einkalkuliert!"
„Okay." Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, welches von ihr mit mürrischem Blick quittiert wird.
„Derweil ich daran arbeite, machst du dich nützlich." Sie kramt aus ihrer Hosentasche einen Notizzettel heraus, auf dem einige Nummern notiert sind. „Das hier sind Amazon Gutschein Codes. Du willst doch ohnehin zum Supermarkt. Sieh zu, dass du sie in Bares verwandelst. Das ist deine Feuerprobe."


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top