Einem Loch im Zaun ist nicht zu trau'n
Zum Glück fährt um die Uhrzeit hier keiner mehr mit dem Zug – jedenfalls nicht werktags. Ich verliere langsam das Gefühl in den Zehen. Die Arme habe ich längst in die Jacke zurückgezogen, doch die Kälte kriecht von unten zu mir herauf. Ich bräuchte etwas, mit dem ich meinen Hintern vom Steinboden isolieren kann. Ich überlegte mir bereits, zum Zeitungsständer zu gehen und mir aus Papier eine Unterlage zu schaffen. Dafür müsste ich jedoch in den brüllenden Wind hinaus. Hier drinnen zieht es zwar wie in einem Vogelnest, aber ich bin nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert.
Hin und wieder schalte ich das Handy ein. Paps habe ich mittlerweile gesimst, dass ich eine Weile bei Freunden wohne. Er wird damit klarkommen, solange er nicht weiß, dass ich darauf zusteuere zu erfrieren.
Scheiße, wie bescheuert ist das? Ich habe ein Zuhause und bin zu eitel zurück in mein Bett zu kriechen. Tagsüber erschien mir diese ganze Aktion noch heldenhaft, ungefähr so, wie für sein Vaterland in den Krieg zu ziehen. Doch jetzt fühle ich dieselbe kalte Ernüchterung wie Kanonenfutter in einem Schützengraben.
Und trotzdem lächele ich wie einer dieser Bekloppten, die eine aufs Maul bekommen und den Schlägertypen weiter angrinsen. Ich halte durch. Auch wenn es mittlerweile vorwiegend daran liegt, dass ich vor Kälte wie erstarrt bin. Ich habe es mir vorgenommen und es geschafft. Zumindest den ersten Teil. Den mit dem Ausziehen. Den Rest schaffe ich noch. Paps hat auch immer alles hinbekommen, indem er hartnäckig dranblieb.
Er hat die Schule durchgedrückt, obwohl die Lehrer ihn für komplett unfähig hielten. Irgendeine Lese-, Schreib- und Rechenschwäche. Hat ihn nicht interessiert. Danach hat er eine Lehre als Buchdrucker bekommen, obwohl jeder ihm gesagt hat, sowas gibt es kaum noch. Er überzeugte meine Mutter, ihn zu heiraten, und hat ein abbruchreifes Haus renoviert. Na ja, fast. Bis ihm die Druckerwalze das Bein zertrümmert hat.
Paps hatte keine Unterstützung von zuhause. Sein Vater hat gesoffen, seine Mutter war dessen überdrüssig und er stand dazwischen. Irgendwann hat er das Weite gesucht, sich eine Wohnung organisiert und die Miete von seinem Lehrgeld abgestottert. Warum sollte das bei mir nicht auch klappen? Manchmal wünschte ich mir, Paps wäre so ein Arschloch wie sein Vater. Dann fiele es mir leichter. So fühle ich mich wie eine Ratte, die das Schiff verlässt, ehe es den Eisberg rammt. Genau das wird er von mir denken. Dass ich abgehauen bin, ihn im Stich lasse.
Ich schüttele den Kopf, muss weggedöst sein. Hätte ich nicht die Nacht durchschlafen können? Vielleicht liegt es an der fehlenden Dunkelheit. Die Beleuchtung hier drin ist zwar nicht blendend, aber hell genug, um mich wachzuhalten. Ich bewege probeweise die Finger und spüre nichts. Verdammt! Ich versuche aufzustehen und falle immer wieder hin. Mein Körper fühlt sich wie ein einziger Eisbrocken an. Ich will nicht wie der Typ bei Fluch der Karibik enden, der sich den vereisten Zeh abbrach.
Ich rolle mich zur Seite. Jede Bewegung schmerzt. Tausend Ameisen wandern durch meine Gedärme. Nur mit äußerster Willensanstrengung bekomme ich Arme und Beine in Bewegung. Ich schaffe es gegen die Wand gelehnt hoch und gehe auf und ab, beschleunige, obwohl ich mich erschöpft wie nach einem Workout fühle und doch wird mir kaum wärmer. Ich laufe hinauf zum Gleis. Der letzte Zug ist bereits gefahren. Ich muss ins Warme, sonst krepiere ich.
Ich verlasse den Bahnhof und renne den Berg rauf. Bis auf die Straßenbeleuchtung ist alles dunkel. Soll ich irgendwo anklopfen? Ob man mir überhaupt öffnet? Wer tut das schon? Jeder würde mich für einen Verbrecher halten. Ich springe auf der Stelle und hauche in meine erstarrten Finger. Eine Spur lassen sie sich wieder bewegen, doch zäh, als steckten sie in Kleister. Der Wind zerrt an meinen Klamotten und droht mich umzudrücken. Jeder Atemzug brennt in der Lunge. Wenn ich zumindest in einen windgeschützten Bereich käme.
Was soll's. Ich gehe zum erstbesten Haus und klopfe an. Niemand öffnet. Ich versuche es erneut, doch das Ergebnis ist dasselbe. Wie ich es mir dachte. Die werden zitternd in ihren Schlafzimmern liegen und beten, dass ich abhaue und dabei nicht die Karre klaue. Es steht nicht einmal eine in der Einfahrt.
Ich laufe weiter und entdecke im Schein der Straßenlaterne ein Loch im Maschendrahtzaun. Die dahinterliegende Hecke weist ebenso eine Auslassung auf. Wahrscheinlich schlüpfen da Rehe oder Hunde durch. Zumindest ist die Erde an der Stelle aufgeworfen und vertieft. Ich sehe mich um. Die Straße ist leer. Sollte ich es doch bei einem anderen Haus versuchen? Am Ende ruft jemand die Polizei.
Schließlich krabble ich durch die Auslassung in den Garten. Es ist stockfinster. Nur der Mond und die spärlichen Lichtreste, die durch die Hecke dringen, leuchten mir. Das Haus verfügt über eine Terrasse, die aber nicht für mehr Schutz sorgt. Zumindest ist es hier drinnen eine Spur windstiller. Vielleicht lagern die hier irgendwo Laub und Grünschnitt, damit ich mir eine behelfsmäßige Schlafstätte basteln kann.
Mein frommer Wunsch wird übertroffen. Von einem Holzlattenzaun abgetrennt liegt ein gesonderter Teil des Gartens, der vom Haus kaum einsehbar ist. Davor stapelt sich sauber geschichtetes Brennholz. Direkt dahinter finde ich ein marodes Gartenhaus. Selbst wenn es abgeschlossen ist, dürfte es ein Leichtes sein, die Tür aufzubekommen. Das Schloss werde ich ersetzen, sobald ich Geld verdiene. Ich schleiche mich an. Ich fühle mich wie ein Einbrecher und das bin ich auch. Aber das ist ein Notfall. Sicher finden die Besitzer Verständnis dafür, dass ich hier übernachte, ehe ich erfriere.
Die Tür der Hütte ist offen. Es reicht, den Türgriff herunterzudrücken. Das Innere ist stockfinster. Doch kaum schließe ich die Tür hinter mir, werde ich umgeworfen und spüre einen brennenden Schmerz an der Hand.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top