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Es ist eine Woche seit der letzten Stadtratssitzung vergangen. Das bedeutet, dass heute schon die Nächste ansteht. Also muss ich wieder den ganzen Tag in der Küche stehen, um die fünfundvierzig mächtigsten Personen in Arche am Abend durchfüttern zu können. Die restlichen sechs Tage der Woche koche ich zwar auch, aber wesentlich simplere Gerichte in wesentlich größeren Mengen. Das fertige Essen wird dann immer auf Transportfahrrädern am Ende des Arbeitstages zu verschiedenen Arbeitsplätzen der Stadt gebracht. Die meisten Leute nutzen unseren Service, um am Abend gemeinsam mit ihren Kollegen zu essen und dabei ein bisschen über ihr Privatleben zu plaudern.
Laut meiner Mutter war das nicht immer so. Angeblich gab es lange Zeit kein gemeinsames Abendessen mit den Kollegen. Es wurde eingeführt, weil die Stimmung in einigen Jobs mehr als mies war, da Menschen ähnlich wie ich einfach gezwungen wurden eine bestimmte Arbeit auszuführen und noch dazu keinerlei Freunde in besagter Arbeit hatten. Der Stadtrat hatte daraufhin die Idee, das soziale Klima in diesen Jobs so sehr zu verbessern, dass die Leute einfach vergessen würden, dass sie ihre Arbeit eigentlich hassen. Die erste Maßnahme, um das zu erreichen, war das gemeinsame Abendessen zum 'Freundschaften schließen'. Allein das hat die Stadtbewohner schon so viel zufriedener gemacht, dass weitere Maßnahmen nie etabliert werden mussten.
Für die Stadtbewohner macht mir viel mehr Spaß, als den Stadtrat zu bedienen, denn ich weiß, dass durch das gemeinsame Abendessen positive Stimmung verbreitet wird. Im Gegensatz dazu ist der Stadtrat im Laufe ihrer Sitzungen und daher im Laufe des Essens meistens zunehmend schlechter gelaunt. Außerdem werde ich, wenn ich für die Auslieferung des Abendessens zuständig bin, immer mit einem Lächeln auf den Gesichtern und einem Danke auf den Lippen empfangen, während ich für den Stadtrat nicht einmal existiere.
Leider muss ich heute wieder unsichtbarer Diener spielen.
Immerhin bin ich heute pünktlich in der Küche angekommen, sodass January einen Grund weniger hat mich auseinander zu nehmen. Stattdessen hat sie mich aber schon mehrfach dafür angeschnauzt, dass ich die Kartoffeln nicht gleichmäßig genug schneide. Bis jetzt ist es mir gelungen meine bissigen Kommentare hinunter zu schlucken. Als würde es irgendjemanden interessieren, ob die Kartoffelecken alle gleich groß sind... Mal ehrlich. Wahrscheinlich schaufeln neunzig Prozent der Stadtratsmitglieder das Essen in ihren Mund, ohne es anzuschauen.
Abgesehen von Januarys Kartoffelobsession ist mein Tag heute gar nicht mal so schlecht, denn es steht weniger Arbeit als üblich an. Es gibt gebratene Forelle mit Kräuterbutter und Kartoffelecken als Hauptgericht, den standardmäßigen Salat als Vorspeise und süßen Grießbrei als Nachtisch. Da die Forellen schon von unserem Fischer ausgenommen worden sind, sollte der Grießbrei das Aufwendigste am Menü sein und selbst den kann man innerhalb von einer halben Stunde locker zubereiten.
Unbeschwert pfeifend stückle ich gemeinsam mit drei Kolleginnen weiterhin Kartoffeln.
"Ich hoffe er sitzt heute wieder auf seinem üblichen Platz.", flüstert Blue, die neben mir steht ihrer besten Freundin Tiny zu. Ich horche auf.
"Wieso hat er überhaupt gewechselt?", flüstert Tiny zurück.
"Ich weiß es nicht. Er nicht auf meine Nachricht geantwortet..."
"Vielleicht war er beschäftigt?"
"Ja, stimmt. Weißt du was? Er ist jetzt Außeneinsatzleiter.", berichtet Blue aufgeregt und ich kämpfe dagegen an meine Augen zu verdrehen. So cool ist es da draußen jetzt wirklich nicht. Ich frage mich, warum ich die Einzige bin, die je auf die Idee kam Arche ohne Erlaubnis zu verlassen. Es sind so viele Menschen neugierig, wenn es um die Außenwelt geht und trotzdem bleiben alle brav innerhalb der Stadtbefestigung.
"Oh wow! Wie ist das so?"
"Ich glaube langweiliger, als seine sonstigen Missionen."
Missionen? Ich weiß zwar nicht genau, was Fox auf seinen Trips in die Außenwelt genau tut, aber ich nehme mal stark an, dass es einfach nur Geländeerkundungen und Strahlungsmessungen sind.
"Jetzt wo er der Boss ist, nimmt er dich vielleicht mal mit nach draußen!", zischt Tiny freudig und Blue kichert mit ihr.
"Ich frage ihn, wenn er heute wieder auf seinem Stammplatz sitzt oder das nächste Mal, wenn wir uns persönlich sehen."
Moment mal. Sind Fox und Blue ein Paar?
Dann würde es ja noch weniger Sinn ergeben, dass er sich plötzlich einen anderen Sitzplatz sucht. Jetzt bin ich selbst gespannt, ob ich ihn heute bedienen muss. Ein kleiner Teil von mir hofft, dass Fox am gleichen Ort sitzt wie letzte Woche, damit ich meinen ach so bösartigen Plan, ihm verdächtig viele Tomaten zu servieren, in die Tat umsetzen kann. Oh Gott, ist mein Leben langweilig... Das Interessanteste an meinem Tag ist die Sitzordnung des Stadtrates und Salat...
"Mädchen! Weniger reden, mehr schneiden!!", brüllt January wie eine Löwin von der anderen Küchenseite in unsere Richtung und beendet damit Blues und Tinys Gespräch.
Etwa zwei Stunden später geht es ans Salate anrichten, wobei ich die meisten Vorbereitungen meinen Kolleginnen überlasse. Während die anderen beschäftigt sind, reiße ich mir unauffällig die Schüssel mit den geschnittenen Tomaten unter den Nagel und warte bis ganz zum Schluss, um sie den Salaten zuzufügen. Beim letzten Salat häufe ich etwa doppelt so viele Tomaten auf den Teller wie bei den übrigen Schüsseln. Dann nehme ich mir den Spezialsalat und vier normale Salate und verlasse die Küche in Richtung Ratssaal.
Mein Herz klopft komischerweise schneller als sonst, als ich den großen Raum betrete. Sofort schnellt mein Blick zu den mir zugeteilten Sitzplätzen und tatsächlich sitzt Fox an der gleichen Stelle wie letzte Woche. Bingo!
Im Gehen mustere ich ihn. Er sitzt breitbeinig da und hat die Ellenbogen dabei auf den Tisch vor sich abgestützt. Sein Blick ist auf jemanden am anderen Ende der Tischordnung gerichtet und seine Stirn ist in Falten gelegt. Sein Profil sieht dabei aus, als wäre es von Michelangelo persönlich aus Marmor gemeißelt worden. Wie üblich trägt er eine dunkle Jeans und ein dunklen Pullover, dessen Ärmel er fast bis zu seinen Ellenbogen nach oben geschoben hat.
Er sieht mich noch nicht einmal an und trotzdem wünsche ich mir bereits, ich könnte die Anzahl an Tomaten auf seinem Salat telepathisch reduzieren, weil mir mein Streich bei seinem Anblick viel zu kindisch vorkommt.
Shit.
In der Zwischenzeit bin ich meine vier normalen Salate schon losgeworden und stehe nun nur noch mit dem peinlichen Salat bewaffnet neben Fox. Wenn ich Glück habe, fällt ihm mein blöder Streich gar nicht auf. Wortlos stelle ich den Teller vor ihm ab und will so schnell es geht flüchten.
"Danke, Sexbombe."
Entsetzt fahre ich zu ihm herum. Das hat er jetzt nicht im Ernst laut gesagt?
Sein Sitznachbar wirft ihm einen schnellen, verwirrten Blick zu und wird dabei geflissentlich von Fox ignoriert.
Fox' Blick ist stattdessen auf mein vermutlich fassungslos aussehendes Gesicht gerichtet und ein gerissenes Grinsen breitet sich auf Seinem aus.
Hoffentlich erstickt er an seinen Tomaten. Ich schnaube verächtlich und mache mich wortlos vom Acker.
Als ich eine Viertelstunde später den Ratssaal erneut betrete, um die leeren Salatteller abzuräumen, ist die Stadtratssitzung bereits in vollem Gange. Naja, 'Sitzung' ist eine zu gesittete Bezeichnung für das was im Saal vor sich geht. Ein Dutzend der Ratsmitglieder sind erzürnt von ihren Stühlen aufgesprungen und rufen alle durcheinander. Einige gestikulieren wild in Richtung Fox, der sich in seinem Stuhl zurück gelehnt hat und sich das Geschrei schweigend anhört. Die restlichen Leute unterhalten sich mit besorgten bis wütenden Gesichtern mit ihren jeweiligen Sitznachbarn.
"Das kann nicht sein!", ruft ein Typ mit karottenroten Haaren.
"Du musst ein Fehler gemacht haben!", brüllt eine Frau mit dicker Hornbrille voller Inbrunst.
Weitere Rufe kann ich in dem Durcheinander nicht eindeutig verstehen. Ich frage mich, was Fox ihnen gerade erzählt hat, um sie so in Rage zu bringen. Normalerweise traut sich niemand die Stimme gegen ihn zu erheben.
Ich sammle meine Teller möglichst langsam ein, um etwas mehr über den Inhalt der Sitzung zu erfahren, aber das unnütze Durcheinandergerede hält an, bis ich zurück in die Küche muss. Mist.
Als ich durch den kleinen Flur gehe, lasse ich meinen Blick gedankenverloren über das Geschirr in meinen Händen streifen. Ich muss darüber schmunzeln, dass Fox wie erwartet alle seine Tomaten übrig gelassen hat. Er scheint die Dinger wirklich zu hassen. Bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass er die Tomatenscheiben wohl mit seinem Besteck zerkleinert und auf seinem Teller herum geschoben hat. Ich runzle die Stirn und lege meinen Kopf schräg. Plötzlich entfährt mir ein Lachen. Hat er die Tomatenfetzen bewusst zu einem traurigen Smiley angeordnet?
Ist das seine Antwort auf meinen kindischen Streich oder eher das Ergebnis seiner schlechten Laune durch die chaotische Stadtratssitzung? Zu gerne würde ich ihn danach fragen, als ich mit dem Hauptgericht zurück in den Ratssaal laufe.
"Alle Analysen wurden nach dem festgelegten Protokoll durchgeführt. Mich für unsere Situation verantwortlich zu machen, hilft niemandem. Wenn der Wunsch besteht werde ich weitere Proben nehmen.", erklärt Fox mit fester und dunkler Stimme, die nach Stille verlangt.
Während unter den Stadträten Ruhe einkehrt, beginnt mein Gehirn zu rattern. Stimmt etwas mit den Proben nicht, die im Außeneinsatz letzte Woche genommen wurden? Ist die Strahlendosis in ihnen und damit außerhalb der Stadtbefestigung zu hoch? Wenn ja hätte das katastrophale Folgen für unsere Stadt. Zum Beispiel könnten wir Arche wegen der strahlenverseuchten Umgebung nicht wie geplant erweitern, was in Zukunft zur Ressourcenknappheit führen würde. Möglicherweise müssten wir Arche sogar ganz verlassen, worüber ich lieber nicht nachdenken möchte. Wo um alles in der Welt sollten wir dann leben?
"Vor zwei Wochen war laut Berg noch alles in Ordnung! Wer hat die Analysen gemacht?", ruft die Frau mit der Hornbrille offenbar immer noch aufgebracht.
"Ich.", antwortet Fox ruhig, was einen erneuten Schwall an erbostem Gemurmel im Saal auslöst.
Hornbrille beginnt süffisant zu Lächeln. "Ach und warum glaubst du, dass du das besser kannst, als unsere Wissenschaftler? Du solltest komplett neue Proben nehmen und sie von den dazu ausgebildeten Personen analysieren lassen!", fordert sie und erntet zustimmendes Raunen aus dem Saal. Wo sie recht hat...
Es steht Fox praktisch ins Gesicht geschrieben, dass ihn die Frau aufs Äußerste anpisst. Trotzdem gibt er praktisch sofort nach und meint nur schlicht durch zusammen gebissene Zähne: "In Ordnung."
"Ich möchte die Ergebnisse so schnell wie möglich.", schiebt Hornbrille noch hinterher und ich könnte aus zehn Kilometern Entfernung sehen, dass Fox vor Wut kocht. Seine Kiefer mahlen gegeneinander, seine Augenbrauen sind zusammen gezogen und er tippt mit seinem rechten Zeigefinger langsam vor sich auf den Tisch.
"Ich werde sie an der Ratssitzung in zwei Wochen haben."
"Warum nicht direkt nächste Woche?"
"Weil die komplette Analyse sieben Tage dauert. Um die Ergebnisse nächste Woche präsentieren zu können, hätte ich die neuen Proben heute nehmen müssen.", zischt Fox.
Hornbrille sieht auf ihr nacktes Handgelenk, als würde dort eine Armbanduhr prangen und meint herablassend: "So wie ich das sehe ist der Tag noch nicht vorbei."
Ich glaube Fox ist jetzt eine Millisekunde davon entfernt über die Tische zu springen und sie eigenhändig zu erwürgen. Hornbrille hat Eier, das muss man ihr lassen. Sogar Fox' Sitznachbar ist als Sicherheitsmaßnahme unauffällig ein Stück von ihm weg gerückt.
Ich wüsste zu gerne, was danach im Ratssaal passiert, aber ich bin bereits alle meine Teller losgeworden und muss mich auf den Rückweg in die Küche machen. Manchmal wünsche ich mir wirklich, ich könnte eine Fliege an der Wand des Ratssaals sein und alle Sitzungen live mit verfolgen. Leider bin ich nur eine menschliche Köchin beziehungsweise Bedienung, die ihre Neugier mit Gesprächsfetzen befriedigen muss.
Als ich wenig später damit beschäftigt bin den Grießbrei in fünfundvierzig Schälchen zu füllen, schaue ich nachdenklich aus einem der länglichen Küchenfenster. Kastor meinte letzte Woche, dass Fox peinlich genau darauf geachtet hat, wie die verschiedenen Proben genommen wurden, während Berg ihnen normalerweise freie Hand damit lässt. Liegt es vielleicht daran, dass es irgendwelche Unstimmigkeiten zwischen Bergs und Fox' Analysen gibt?
Würde das bedeuten, dass Berg uns aufgrund von Faulheit seit Jahren in dem Glauben lässt, dass die Strahlendosis um unsere Stadt herum sinkt, obwohl sie das in Wirklichkeit gar nicht tut?! Hätte das nicht fürchterliche Auswirkungen auf die Gesundheit aller Stadtbewohner?
Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt. Steigere ich mich gerade in Probleme, die gar nicht wirklich existieren oder sollte ich ernsthaft besorgt sein?
Mein Blick fokussiert sich durch das Küchenfenster auf eine dunkle Gestalt, die in der Ferne durch den Park eilt, der den Ratssaal umgibt. Ich erkenne Fox' Haltung und Gangart. Verlässt er wirklich noch in der Dämmerung die Stadt, um neue Proben zu nehmen? Hornbrille scheint nicht nur Eier zu haben, sondern auch mehr Macht, wie ich angenommen habe.
Mir juckt es in den Fingern Fox zu folgen und zur Rede zu stellen, was genau mit seinen Proben nicht in Ordnung war. War es wirklich eine erhöhte Strahlendosis?
Aber ich bin auf der Arbeit und kann eigentlich nicht einfach so abhauen.
Andererseits werde ich mir heute Nacht den Kopf über die Ratssitzung zerbrechen und kein Auge zu machen, wenn ich keine Antworten auf meine Fragen bekomme.
Und Grießbrei schaufeln können ja auch andere Leute abgesehen von mir. Ich bin heute definitiv nicht unersetzlich in der Küche.
Innerhalb von Sekunden treffe ich meine Entscheidung und denke nicht weiter darüber nach, wie dumm mein Handeln ist.
"Ich muss gehen.", verkünde ich in die Küche hinein und adressiere niemanden besonders. Auch nicht January.
Ohne eine Antwort abzuwarten eile ich aus der Küche, nehme meinen dunkelgrünen Pullover vom Haken im Flur und ziehe ihn im Gehen über.
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