{||} Kapitel 29

Mit zitternden Beinen stand ich im Türrahmen. Mein Blick war starr auf Tyrone, Luke und.. Sie gerichtet. Ich konnte sie nur von hinten sehen, aber ihre Locken verrieten sie schon. Ihre Locken, mit denen ich früher immer gespielt hatte, während sie mir die Geschichten ihres Alltages erzählt hatte. Ihre Art wie sie jedes Wort betonte und jeden Satz so leicht klingen ließ verriet sie ebenfalls. So wie sie es früher immer tat, wenn sie mir von ihren Heldentaten erzählt hatte, damals strahlten ihre Augen immer. Vor mir stand meine Schwester. Meine tote Schwester. Die Schwester, weswegen ich jeden einzelnen Tag geweint hatte, die, weswegen ich mein Leben aufgegeben hatte. Ich hatte mein Leben aufgegeben, meine Freude, mein Alles. Ich dachte sie war tot, wie konnte es also möglich sein, dass sie jetzt vor mir stand, so lebendig wie es ein Mensch nur sein konnte?  Falls vor mir nicht nur ein gruseliger Doppelgänger stand. 

 "Celia", plötzlich riss mich Tyrones Stimme aus meinen Gedanken. Blitzschnell hatte sich Seline umgedreht und sofort riss ich meine Augen weit auf. Es war sie. Jeder Zweifel war verflossen. Es waren ihre blauen Augen. Es waren die Augen, die ich früher so geliebt hatte. Es waren die Augen meiner kleinen Schwester. Sie war lebendig und sie stand vor mir. Wie erstarrt stand ich auf der gleichen Stelle und beobachtete Sie. Auf ihren Lippen bildete sich ein kleines Lächeln. Noch immer trug sie ihr geliebtes Accessoire bei sich, denn in ihren wilden Locken steckte ein kleines Blümchen. Ich hatte es ihr zu ihrem elften Geburtstag geschenkt. Ihre kindlichen Züge waren nicht mehr da, sie sah so erwachsen aus und die dunklen Augenringe unter ihren strahlenden Augen unterstützten dies ebenfalls. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, welches in meinen Erinnerungen herum getobt war. Seline war eine erwachsene Frau geworden. Eine erwachsene Frau, die mich so viele Jahre angelogen hatte.

Ich beobachte wie Seline in meine Richtung lief und langsam ihre Arme ausbreitete. Meine Hände fingen an zu zittern, denn ich wusste nicht wie ich auf sie reagieren sollte. Irgendetwas in mir sagte, dass ich strahlend zu ihr rennen sollte, sie in meine Arme schließen und nie wieder los lassen sollte, so wie ich es die letzten Jahre jeden einzelnen Moment tun wollte. Doch jetzt in diesem Moment, wo diese Traumvorstellung Realität geworden war, wollte ich nur das Gegenteil. Ich wollte sie anschreien, ihr Vorwürfe machen und ihr ihre verdammt perfekten Locken ausreißen, damit sie auch nur ansatzweise spürte, was ich die ganzen Jahre durchmachen musste. Die ganzen Jahre in denen sie sich nicht gemeldet hatte. Ich wollte sie schlagen, damit sie anfing zu weinen und sah, was ich jede Nacht gemacht hatte, bevor ich ins Bett gegangen war. Sie sollte den Schmerz spüren, den Schmerz den ich all die Jahre durchmachen musste. Doch stattdessen stand sie mit einem Grinsen vor mir und wollte mich umarmen. Sie hatte es nicht verstanden, sie verstand nicht was sie mir all diese Tage angetan hatte. Wieso wollte sie wieder in meinem Leben auftauchen? Jetzt nach all diesen Jahren.

Seline stand unmittelbar vor mir und mein Atem wurde hektischer. Ich starrte ihr direkt ins Gesicht und suchte nach der Stelle, die mir hätte verraten sollen, dass sie eine Lügnerin war. Ich suchte nach einer Stelle, die nicht von Perfektion umgeben war, doch ich fand keine. "Celia", wisperte sie und ihr Lächeln wurde nur noch breiter. Langsam ballte ich meine Hände zu Fäusten und versuchte die Wut, die in mir aufkam zu unterdrücken. Ich versuchte den Drang sie umarmen zu wollen zu unterdrücken, denn sie verdiente es nicht. Egal wie sehr ich sie liebte, egal wie sehr ich in diesem Moment meine kleine Schwester brauchte ich konnte es nicht übers Herz bringen sie zu umarmen, ich wollte sie nicht dafür belohnen, dass sie all die Jahre da draußen war ohne mich zu kontaktieren. "Ich habe dich so vermisst", sie strich mir eine meiner Locken aus dem Gesicht und betrachtete mich, wie als wäre ich ein Tier. Die Worte die sie aussprach hinterließen einen riesigen Kloß in mir. Sollte ich ihr sagen, dass ich sie auch vermisst hatte? "Wieso?", sagte ich stattdessen und wiederholte die Frage gefühlte hunderte Male. "Wieso bist du hier? Wieso hast du mich nicht angerufen? Wieso hast du dich nicht gemeldet? Wieso tust du so als wäre das hier nicht komisch? Wieso lächelst du mich an, nach alldem was du mir angetan hast? Und vor allem: wieso bist du am Leben? Wieso stehst du hier, wie ist das überhaupt möglich? Ich habe es gehört, ich habe gehört wie er den Schuss abfeuerte, ich habe es gespürt in all meinen Knochen und ich habe gelitten, oh Gott wie ich gelitten habe und jetzt stehst du vor mir und... willst mich umarmen? Du bist verrückt, du bist einfach nur verdammt nochmal verrückt."

Das Lächeln auf ihren rosafarbenen Lippen schwand mit der Weile und ihr Blick sank auf den Boden, ich hatte sie mit meinen Worten getroffen und genau das war auch mein Ziel gewesen. "Es war vorgetäuscht.Du verstehst es nicht Celia, meine Mutter sie hat mich gebraucht, die Welt hat mich gebraucht", mit einem hoffnungsvollen Blick auf ihrem Gesicht versuchte sie mich zu überzeugen. Langsam schüttelte ich meinen Kopf und seufzte laut aus. "Weißt du was?", mit meinem Zeigefinger landete ich an ihrem Herzen und übte leichten Druck auf, "ich- ich habe dich mindestens genauso viel gebraucht." Wütend schubste ich sie so weit wie möglich von mir weg und stürmte aus dem stickigen Zimmer. Mit wackligen Beinen öffnete ich das Zimmer, in dem ich vorher untergebracht war und ließ mich auf den Boden fallen. Mit letzter Kraft zog ich meine Beine so nah wie möglich an meinem Körper und stemmte meinen Kopf darauf hab. Die Tränen, die sich in den letzten Momenten in mir gesammelt hatten flossen in Windeseile und ich schluchzte laut auf. Sie hatte ihren Tod vorgetäuscht und hatte nicht einmal daran gedacht, mich daran einzuweihen. Seline hätte mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen können, einen Brief oder irgendetwas anderes, ein Bild mit einer Geheimbotschaft oder ein Taschentuch, in denen sie ihre Verabschiedung gekritzelt hatte. Nichts von alldem hatte sie gemacht, sie hatte sich dazu entschieden mich leiden zu lassen, sie hatte sich dazu entschieden mich mit dem Gewissen leben zu lassen, dass mein Einziger Hoffnungsschimmer auf der Welt nicht mehr existierte. Sie hatte mich denken lassen, dass die Sterne nicht mehr strahlten und die Farben des Sonnenunterganges potthässlich waren. Sie hatte mich mit dem Willen zu sterben zurückgelassen, anstatt mir nur einen kleinen Brief zu hinterlassen. Seline war ein Monster, sie war ein Monster. Wütend ließ ich einen lauten Schrei aus und schlug auf den harten Boden ein. Ich war glücklich. Ich war überglücklich, dass sie nicht gestorben ist, aber trotzdem tat es weh zu wissen, dass ich ihr so wenig wert war. 

Es klopfte an der Türe. Leise schniefte ich auf. "Wenn du nicht Jason bist, dann verschwinde", brüllte ich so laut wie ich es noch konnte. "Hier ist Luke", erklang es und ich erschrak. Dies waren die ersten Worte, die er in den letzten Tagen gesprochen hatte. Schnell wischte ich mir die Tränen aus meinen Gesicht und stand langsam von meiner Position auf. Ich öffnete die Tür und Luke stand tatsächlich vor mir, seinen Rollstuhl hatte er nicht dabei. "Du redest wieder", stellte ich schniefend fest. "Für dich", flüsterte er und im nächsten Moment hatte er mich schon in seine Arme geschlossen. Ein wenig verwirrt erwiderte ich seine Umarmung, während er mir beruhigend über den Rücken strich. Das kleine Schmunzeln, welches sich unbewusst auf meinen Lippen bildete, verriet mir, das das das war, was ich die gane Zeit über gebraucht hatte. Nach wenigen Sekunden löste er sich von mir und schloss die Türe hinter uns. "Ich weiß nicht was zwischen dir und dem Mädchen passiert ist, aber ich bin für dich da. Wir sind Freunde und Freunde sind füreinander da, okay?", er runzelte seine Stirn ein wenig und patschte mir dann leicht auf die Schulter. "Okay", stimmte ich zu und rang mir ein winziges Lächeln ab, damit er zufrieden war. "Danke", nuschelte ich noch schnell dahinter und er grinste mich nur kurz an. Er hatte riesige Augenringe, doch die kleinen Fältchen, die sich neben seinen blauen Augen bildeten verrieten mir, dass sein Schmunzeln echt war. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr lächeln sehen, doch es war kein Wunder, er hatte zu viele schreckliche Dinge erlebt. "Ich geh dann mal wieder", meinte er und ich nickte langsam. Ohne weitere Worte drehte er sich um und verließ den Raum.

Sofort schossen wieder all die Gedanken in meinen Kopf, die ich in den letzten Minuten so schön verdrängt hatte. Seline war am Leben. Sie war hier, vielleicht noch immer im Raum direkt neben mir und diese ganze Sache machte mir Angst. Ich hatte Angst davor, dass ich sie nie wieder so ansehen kann, wie ich es früher tat. Ich befürchte, dass ich nie wieder so mit ihr lachen kann wie wir es damals immer taten. Ich schätzte, dass unsere Beziehung nie wieder so sein konnte, wie es einmal war. 

Seufzend legte ich mich in mein Bett und starrte an die weiße Decke. Verzweifelt versuchte ich an etwas Positives zu denken, ich dachte daran, dass ich Jason bald wieder sehen werde und ich dachte daran wie süß Savannah und Kiwi waren. Ich überlegte sogar, ob ich mich freiwillig dafür melden werde, um die restlichen Teams aus dem Krieg zu retten, doch ich wollte zuerst mit Jason darüber sprechen. Ich erfreute mich darüber, dass es Luke und Ty gut ging und ich war froh darüber, dass das kleine Mädchen von vorhin endlich wieder schlafen konnte. Mit jedem dieser Gedanken wurde ich ein kleines wenig erschöpfter und ich gähnte beinahe im Sekundentakt, bis ich schließlich endlich meinen verdienten Schlaf fand. 

Ein Schrei? Erschrocken richtete ich mich auf und sah mich um. Es war dunkel. Erneut ertönte ein Gebrüll und ich erkannte, dass es eine männliche Stimme war. Kurze Zeit später ertönte eine weitere Stimme und noch eine dritte. Ich versuchte aufzustehen, doch ich wurde abrupt wieder zurückgezogen. Was sollte das? Was passierte hier. Erneut versuchte ich aufzustehen, damit ich nachsehen konnte, woher die Schreie kamen, doch egal wie sehr ich es versuchte, jedes mal wurde ich wieder auf meine alte Position zurück katapultiert. Mein Atem wurde schneller, da ich so schnell wie möglich aus diesem gruseligen Raum verschwinden wollte. Erneut erschienen drei Schreie und erst jetzt erkannte ich, welche Stimmen ich die ganze Zeit über hörte. Es waren Sie. Jason, Luke und Ty. Noch einmal versuchte ich aufzustehen, dieses mal in Windeseile, doch es half nicht, es half einfach nicht. Die Schreie ertönten wieder und immer wieder, lauter und lauter, manchmal leiser, dann wieder ohrenbetäubend laut. Bis sie auf einmal erstummten. Ich riss meine Augen auf. Wieso brüllte niemand mehr? Plötzlich strömte Licht in den Raum, denn eine Tür wurde geöffnet. Seline stand vor mir. Seline mit Kleidung voller Blut. "Du bist die Nächste, Celia."

Hektisch atmend sprang ich auf und fasste mir an meine viel zu heiße Stirn. Es war ein Albtraum, nur ein Albtraum, die verdammten Albträume waren wieder zurück.




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