Kapitel 15
Immer wieder stellte ich mir die selben Fragen. Werde ich lebend aus dieser stickigen und viel zu engen Abstellkammer raus kommen? Werde ich je wieder meine Eltern sehen? Werde ich Jason sehen um ihm sagen können, dass mir mein nervtötendes Verhalten leid tut? Werde ich Luke sehen, damit ich mich für seine Freundlichkeit entschuldigen kann?
Werde ich je wieder hinauskommen? Werde ich je wieder einen Sternenhimmel sehen und an die guten alten Zeiten denken? Oder muss ich bald meine letzten Sekunden zählen?
Wenn ich jetzt über die letzten zwei Jahre meines Lebens nachdenke, dann realisiere ich, dass ich so vieles anders hätte machen sollen. Nie im Leben hätte ich nach Selines Tod eine Schutzblockade anlegen sollen, niemals hätte ich jede Emotion ausblenden sollen. Und niemals hätte ich jeglichen Kontakt zur Außenwelt stoppen sollen. Zwei Jahre meiner Lebenszeit hatte ich verschwendet. Mit Trauer, Wut und Einsamkeit. Immer wieder hatte ich mir eingeredet, dass es die richtige Entscheidung war, dass ich nicht einfach so tun konnte als wäre nicht passiert, als wäre meine Schwester nicht gestorben.
Doch jetzt wenn ich so kurz vor dem Tod stehe realisiere ich erst die Wahrheit. Die Wahrheit die mir Jason ins Gewissen reden sollte. Seline hätte nicht gewollt, dass ich den ganzen Tag an die Decke starrte und in Selbstmitleid versank. Sie hätte nicht gewollt, dass ich meine Mitmenschen wie ein Stück nutzlosen Dreck behandelte.
Seline hätte gewollt, dass ich glücklich wäre. Das ich alle meinen Mut zusammen packe, mit Stolz und Freude hinausgehe und mein Leben genieße. Sie hätte gewollt, dass ich meinen Mitmenschen Gutes tue. So wie sie es tat.
Und plötzlich fiel es mir wie ein Gedankensblitz ein. Wollte Seline das alles hier gar nicht? Hatte sie dies überhaupt nicht mit sei die Veränderung gemeint. Wollte sie nicht, dass ich auf das schlechte System aufmerksam mache? Wollte sie etwa einfach nur, dass ich anderen Menschen Gutes tue? War dies alles nur ein riesiger Fehler, war die ganze Aktion nutzlos?
Einige Male schlug ich mir verärgert gegen meinen schwitzigen Kopf. Wieso ist mir das nicht früher eingefallen? Wie konnte ich auch erwarten, dass eine vierzehn jährige auf solch eine Idee kam? Alles habe ich falsch gemacht, alles was ich nur hätte falsch machen können. Ihren letzten Wunsch habe ich vergeigt, die Sache die sie am Meisten wollte. Die Sache für die sie ihr letztes, 'Hab dich Lieb', an mich geopfert hatte. Wieder einmal hatte ich es zerstört.
Langsam bemerkte ich wie mir eine Träne aus den Augen kullerte und ich langsam aber sicher auf den Boden sackte. Wieso bemerkte ich erst jetzt, wenn es zu spät war, dass ich es versaut habe. Alles, alles, alles. So viel hätte ich anders gemacht, wenn ich noch einmal die Chance hätte. Doch es war zu spät. Es war zu spät um alles wieder gut zu machen, denn ich war mir sicher, dass meine Eltern ihr geliebtes Geld nicht für mich opferten.
Aufeinmal öffnete sich die Türe. Vorsichtshalber rutschte ich ein paar Meter zurück, da ich nicht wusste was mich erwartete.
"Celia Summer? Sie wurden von ihren Eltern freigekauft. Das nächste Mal wenn sie Kritik gegen das Königreich anwenden wollen, denken sie zweimal darüber nach. Denn selbst wenn Kritik keine Straftat ist, ihre Eltern werden sicherlich nicht ein weiteres mal eine solch stolze Summe bezahlen. Begleiten sie mich bitte zum Ausgang", teilte mir eine Dame mit.
Sie lächelte mich an, doch ich konnte ihre Missgunst gegenüber mir sichtlich erkennen. Es war kein warmes Lächeln, kein freundliches. Das Lächeln von ihr war nur eine aufgesetzte Fassade. Etwas was sie wahrscheinlich jahrelang trainierte.
Zügig stand ich auf und verließ den düsteren Raum. Noch immer konnte ich nicht glauben, dass meine Eltern mich gerettet hatten. Das sie vielleicht einen Funken an Liebe für mich empfanden, sonst hätten sie dies nicht getan. War das ein weiteres Zeichen? War das hier alles nur eine Aktion, die mir zeigen sollte, dass ich einiges ändern musste?
Sollte mir das ganze hier zeigen, dass ich Leuten Chancen geben sollten? Wollte mein Schicksal mir das auf diesem Weg zeigen, da ich es sonst nicht verstehen würde?
Ich werde alles anders machen. Ich werde Jason und meinen Eltern eine Chance geben, denn sie hatten meine rebellische Ader nicht verdient. Jeder machte doch Fehler, nicht wahr? Ich war wahrscheinlich das lebende Beispiel dafür.
Nachdem wir erneut durch die elend langen Flure gewandert waren, verabschiedete sich die Angestellte von mir und ließ mich alleine auf dem Parkplatz zurück. Voller Gedanken kickte ich einige Kieselsteine hin und her und überlegte was ich jetzt machen sollte. Das Gefühl so knapp am Tod vorbeigekommen zu sein war komisch. Angsteinflößend, aber es hat mir auch vieles gezeigt. Ich habe über viele Dinge nachgedacht die mir sonst nie auffallen würden. Habe bemerkt, dass ich zu schlecht mit meinen Mitmenschen umging und, dass ich die ganze Zeit Fehler machte.
Nach einer Weile voller Nichtstun bog aufeinmal ein Auto auf dem Hof ein. Da die Sonne mich blendete musste ich mir meine noch immer zittrige Hand an die Stirn heben um zu erkennen wer hier gerade angekommen ist. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich zu erkennen wer sich auf der Fahrerseite aufhielt und nach einer Weile konnte ich die mir allzu bekannten Locken erkennen. Es war Jason.
Grinsend öffnete er die Autotüre und kam in meine Richtung. Ohne weiter Nachzudenken rannte ich in seine Richtung los und stoppte direkt vor ihm.
"Du warst ja noch nie so glücklich darüber mich zu sehen. Nein warte. Du warst noch nie glücklich mich zu sehen", witzelte er ohne sein Grinsen abzulegen. Lächelnd schloss ich meine Arme um seinen Hals. Das er verwirrt war erkennte ich daran, dass er erst einige Sekunden später auf meine Geste antwortete. Er strich mir liebevoll über den Rücken, weswegen sich mein ganzer Körper mit Wärme füllte. Das war es was mir die ganzen Jahre fehlte, die Liebe von Menschen die mich schätzten.
Nach einer Weile die sich für mich nur wie Sekunden anfühlten, löste sich Jason wieder von mir.
"Ich weiß nicht was in dich geritten ist, aber deine Eltern warten auf dich. Sie wollen mit dir reden und ich denke, dass das nicht gerade gut ausfallen wird", teilte er mir mit und ich nickte. Freundlich öffnete er mir die Autotüre worauf ich in seinen Wagen stieg.
Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker, ich hatte Angst vor der Rede meiner Eltern und Angst, dass sie mich absofort noch weniger mochten. Nervös tippte ich auf dem Armaturenbrett herum und beobachtete gleichzeitig den Sekundenzeiger auf Jasons Armbanduhr.
"Nervös?", fragte er schließlich und brach damit die Stille. Laut seuftze ich auf.
"Mehr als das", gab ich leise zu. "J-jason habe ich einen Fehler gemacht, hätte ich diese Aktion gar nicht durchführen sollen? War das nur ein riesiger Fehler?", stammelte ich vor mich hin. Vom ganzem Herzen hoffte ich, dass er mir nicht zustimmte und mir sagte, dass ich alles Richtig machte.
"N-naja", begann er zu reden. "Irgendwie war ich an der ganzen Sache Schuld, ich habe dir ja gesagt, dass du Seline zeichnen solltest. Und irgendwie war Seline auch Schuld, denn sie hat gesagt, dass du die Veränderung sein sollst und du hast es so aufgeschnappt. Um deine Frage zu beantworten, nein, es war kein Fehler, denn du hast auf dein Herz gehört und bist dabei nicht gestorben. Und das sind die beiden wichtigen Dinge bei einer Handlung", sagte er.
Ohne Worte grinste ich in mich selber hinein. Wie schaffte er es in einer schlechten Situation immer nur das Beste zu sehen? Er hätte mir tausende Vorwürfe machen können, aber stattdessen redete er alle meine Handlungen gut. Macht das einen Freund aus?
Der Rest der Fahrt verlief still, keiner von uns beiden redete ein Wort, denn uns beiden war bewusst, dass das baldige Aufeinandertreffen mit meinen Eltern kein Zuckerschlecken wird.
"Bereit?", fragte mich Jason während er gerade den Motor abschaltete.
"Bereit", wiederholte ich seine Worte, doch mir war bewusst, dass ich genau das Gegenteil davon war. Ich war ängstlich, unvorbereitet und unwissend.
Mit winzig kleinen Schritten lief ich über unseren Hof und immer weiter in Richtung Türe. Jeder Schritt den ich tätigte ließ meinen Herzschlag noch einen Takt höher schlagen und meine Hände fingen wieder an zu zittern. Wieso war ich so aufgeregt? Es hatte mich noch nie interessiert was meine Eltern von mir dachten.
Nachdem ich noch einen letzten Atemzug nahm, klopfte ich behutsam an unserer hölzernen Türe die sofort aufgerissen wurde. Vor mir stand meine Mutter. Doch auf ihrem Gesicht lag nicht der mir allzubekannte strenge Blick, nein ich konnte ein kleines Lächeln erkennen. Unerwartet drückte sie mich fest an ihren Körper was mich auch zum Schmunzeln brachte.
Kurze Zeit später entfernte sie sich wieder von mir.
"Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht Celia, ich hätte nicht auch noch meine zweite Tochter verlieren können. Es tut mir so leid wie ich dich dein ganzes Leben lang behandelt habe. Alles werde ich wieder gutmachen ich verspreche es dir, keine langen Arbeitszeiten mehr, wir werden auf Familienausflüge gehen. Wir werden eine ganz normale Familie werden, hast du gehört mein Schatz", versprach sie mir während sie mich und Jason hysterisch in die Küche zog.
Gemeinsam nahmen wir nebeneinander Platz und ließen uns von meiner Mutter einen heißen Tee servieren.
"Wir könnten vielleicht erst einmal damit anfangen miteinander zu reden ohne im Streit zu enden", schlug ich vor, während ich vorsichtig an meiner Tasse nippte.
"Genau, reden, ja, richtig", stammelte sie vor sich hin und ich lächelte ihr aufmunternd zu. Ich war wohl nicht die einzige die durch diesen Vorfall erkannte, dass sie einiges falsch gemacht hatte.
Doch im nächsten Moment verdüsterte sich die Stimmung im Raum wieder. Mein Vater betrat den Raum und lief zielstrebig auf mich zu. Auf seinen Lippen lag kein einziges Anzeichen von einem Lächeln, sein Gesicht sah bitterböse aus und ich bekam es mit der Angst zu tun.
Langsam stand ich von meinem Stuhl auf und im nächsten Moment stand er direkt vor mir. Blitzschnell packte er mich am Kragen und schleuderte mich gegen die Wand die hinter mir lag. Vor Schmerzen schrie ich laut auf.
"Charles", schrie meine Mutter verzweifelt, doch mein Vater hörte nicht auf.
"Du kleines Miststück, du bist so ein kleines Flittchen, eine Schande für die Familie", brüllte er. Mit jedem Wort, das er sagte zerbröselte mein Herz in weitere Kleinteile, mit jedem Wort verlor ich ein Dutzen Tränen und mit jedem Wort verlor ich die guten Vorsätze die ich gegenüber meiner Familie hatte.
"Ich will dich nie wieder hier sehen, nie wieder", brüllte er.
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