4 - Erschütternde Neuigkeiten
Vom Training bekam ich tatsächlich schreckliche Rückenschmerzen. Nachdem ich abends mit dem Bus nach Hause gefahren war - wegen Quil hatte ich ja kein Auto an der Schule -, machte ich mir erst mal einen Tee. Dad würde vor acht nicht aus der Kanzlei zurückkehren und Thomas hatte eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen:
Bin Joggen. Gegen halb acht zurück. Thomas.
Seufzend warf ich einen Blick aus dem Fenster. Es regnete immer noch und ich konnte nicht verstehen, wie mein Bruder so vernarrt in diesen Sport war, dass er bei solch einem Mistwetter joggen ging. Schließlich wanderte mein Blick zur Uhr: fünf vor sieben. Um zwanzig vor acht würde ich mit kochen anfangen, also hatte ich vorher genug Zeit für eine Dusche. Doch als ich mich auf meinem Zimmer meiner Klamotten entledigte, klingelte das Telefon. Ich erinnerte mich an das, was Sofia in der Cafeteria zu mir gesagt hatte: "Ich ruf dich an." Sicher war sie das und sicher hatte sie brennende Neuigkeiten, was Lisa betraf. Trotzdem... Ich wollte mich gerade für ein paar Minuten entspannen. Ich starrte auf das Telefon, das im Flur in der Station stand. Sollte ich es einfach klingeln lassen? Oder.. - ich eilte aus meinem Zimmer und ging ran. Noch bevor ich meinen Namen nennen konnte, sprudelte Sofia los: "Also, Schätzchen, pass auf. Du hast so unglaublich viel verpasst, das glaubst du gar nicht! Melanie und ich haben uns bei Johannas Palace in der Mall die Nägel machen lassen und haben danach schön unsere Kreditkarten missbraucht - ich brauchte unbedingt ein neues Outfit für die Pyjamaparty am Samstag. Und Quil hat mir Rosen geklaut, ist das nicht süß?" Ich hielt den Hörer von meinen Ohren weg, weil Sofia die letzten Worte furchtbar laut quietschte. Seufzend rollte ich die Augen. "Das ist doch super." Ich versuchte, meine Stimme enthusiastisch klingen zu lassen, aber irgendwie wollte mir das nicht so recht gelingen. Ich hatte keine Zeit für Gespräche über Belangloses, ich brauchte Fakten. "Was ist mit Lisa?", fragte ich deswegen schnell, bevor Sofia weiterreden konnte. Kurz herrschte Schweigen an der anderen Seite der Leitung. "Sofia!" Ich tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden und kräuselte verärgert die Lippen. Sofia holte Luft. "Sie ist nicht da. Ihre ganze Familie ist nicht da. Vor dem Shoppen sind wir bei ihr vorbei gefahren, weil wir sie ja mitnehmen wollten, aber da war keiner Zuhause." Na toll. "Und weiter?", fragte ich atemlos. "Dann habe ich bei ihr auf dem Handy angerufen", berichtete Sofia. "Und?" Sie seufzte. "Ging sofort die Mailbox an. Übrigens ist der Cimmen Park immer noch mit Flatterband abgesperrt und da rannten lauter Menschen mit weißen Papieranzügen rum, aber das interessiert dich wahrscheinlich nicht - Cindy, lass das! - Sorry, meine Katze denkt, mein großer Zeh sei ein Wollknäuel. Aua!" Im Hintergrund knallte eine Tür und dann hörte ich das Plätschern einer Dachrinne. "Also", sagte Sofia und atmete tief durch. "Ich bin jetzt im Badezimmer. Auf jeden Fall sind wir dann in die Mall gegangen und haben geshoppt. Auf dem Rückweg haben wir es nochmal bei Lisa versucht. Keiner da. Ich hab ihr mindestens vier Mailboxnachrichten hinterlassen." Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Es kam öfter vor, dass Lisa und ihre Familie plötzlich verschwanden und zwei Tage später wieder auftauchten, aber diesmal war es anders. Lisa war noch nie so überstürzt aus der Schule geflohen. Ich hatte die leise Ahnung, dass der Mord im Cimmen Park etwas damit zu tun hatte, sicher war ich jedoch nicht. "Jody? Bist du noch dran?", bellte Sofia in den Hörer. Ich fuhr auf. "Klar", sagte ich schnell und hielt die Luft an. "Sofia?" "Hm?" "Ich mache mir Sorgen." Ich wartete auf das Donnerwetter von Vorwürfen und Auslachen, doch es herrschte Stille in der Leitung. "Es ist in der Tat alles sehr eigenartig. Aber das wird schon wieder. Mach dir keinen Kopf. Ich habe übrigens schon ein Konzept für Samstagabend ausgeklügelt und eins kann ich dir verraten: Es wird gefährlich! Apropos Samstag. Hast du Thomas gefragt?" Sofias Worte waren ein einziger Wasserschwall. Das plötzliche Verschwinden der Passios schien sie nicht wirklich zu stören. "Der ist noch nicht Zuhause", erklärte ich geduldig und schloss die Augen. "Sofia, ich muss jetzt Schluss machen. Wir reden morgen." Bevor sie protestieren konnte, drückte ich den roten Knopf und stellte das Telefon zurück in die Station. Schließlich ging ich ins Bad, um mir meine verdiente Schaumdusche zu genehmigen.
"Gibt es Neuigkeiten von Margaret Templeton?", fragte ich und nahm einen Schluck Wasser. Da mein Vater Anwalt war, bekam er oft sehr früh Zugang zu Informationen, die alle anderen eher spät erfuhren. Außerdem war seine Kanzlei direkt am Cimmen Park, es konnte also sein, dass er etwas von dem, was dort vor sich ging, mitbekommen hatte. Dad kaute ein Stück Hühnchen, schluckte und sagte: "Es war auf jeden Fall kein Tier." Das sagte einiges aus: Margaret war auf brutalste Art und Weise von Menschenhand getötet worden. Von jemandem aus Miahill. Wieder fragte ich mich, wie jemand so etwas über sich bringen konnte. Miahill war nicht groß, nur eine Vorstadt. Was, wenn ich den Täter gut kannte? Wenn ich ihn einst zu den Menschen gezählt hatte, die ich gern hatte? Wer auch immer es war, er war mitten unter uns, und es gab nur eine Familie, die bis jetzt niemand kannte: Die Zapateros. Draußen zuckte ein Blitz, als ich an die dunklen, überirdisch schönen Geschwister dachte. "Allerdings konnte die Polizei nichts finden, das auf einen Mensch hinweist", fügte Dad gedankenverloren hinzu und stocherte in seinem Salat herum. Ich linste zu Thomas, der unseren Vater aufmerksam ansah. Sofia sagte, er sei einer der schönsten Jungen der Schule. Konnte das hinkommen? Mein Bruder hatte kinnlange, glatte hellbraune Haare, grün-blaue Augen und einen Dreitagebart. Ich stand zwar nicht drauf, aber immerhin sah er wirklich gut aus. Und männlich. Und stark. "Wenn es kein Tier war, kann es nur ein Mensch gewesen war", schloss Thomas logischerweise. "Ja, ja", nickte Dad, "aber sie konnten an der Leiche nichts finden, womit sie hätten arbeiten können. Das sie nach DNA untersuchen könnten. Kein Hautpartikel, keine Faser, kein Haar, nichts. Sie konnten nicht einmal feststellen, womit Margaret Templeton zerstückelt wurde. Es ist, als sei die alte Frau von selbst in kleine Stücke zerfallen." Eine sehr gruselige Vorstellung, wie ich fand. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Thomas hingegen schob die Schuld auf die Polizei. "Tolle Cops haben wir da", brummte er kopfschüttelnd, ehe er sein Hühnchen aß, bevor es kalt wurde. "Und was ist mit den Teilen von Margaret, die fehlen?", fragte ich vorsichtig, denn ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wissen wollte. Aber die Frage war gestellt. "Die sind spurlos verschwunden", antwortete Dad. "Es fehlen Magen, Herz, Schulterfleisch und die Ohren." Ich schmeckte Galle und spülte eilig mit Wasser meinen Mund aus. Das war ja grauenhaft! Der, der die Leiche gefunden und die Polizei gerufen hatte, würde wohl bis ans Ende seines Lebens in seinen Träumen von diesem schrecklichen Bild heimgesucht werden. Bestimmt brauchte er nun einen Seelsorger oder so was. Dad schien den selben Gedanken zu folgen wie ich. "Ekelig, was? Mein Mandant, Brian Claiden, hat sie beim Zeitung austragen gefunden. Er ist noch nicht ansprechbar und wird im Krankenhaus behandelt. Sowas liegt einem bestimmt wochenlang im Magen." Allerdings. Es lag ja sogar mir im Magen, dabei hatte ich Margarets Leiche nicht einmal gesehen. Ich hatte kein Recht darauf, traurig zu sein und doch bildete sich ein seltsam schwerer Kloß in meinem Hals, der nicht verschwinden wollte, sooft ich auch schluckte. "Glaubst du, sie musste lange leiden?", krächzte ich. Das einzige, was ich jetzt noch hoffen konnte, war, dass Mrs Templeton einen schnellen Tod gefunden hatte. Dad wiegte seinen Kopf hin und her. "Keine Ahnung", sagte er ehrlich. "Wie gesagt, die Cops stehen völlig auf dem Schlauch. Wir können nur hoffen, dass der Täter sie erst umgebracht und dann zerstückelt hat." Ich nickte und schluckte schwer. Thomas berührte seufzend meinen Arm. "Lasst uns das Thema wechseln." Erleichtert, nicht weiter über diesen Mord reden zu müssen, atmete ich auf. "Sofia gibt Samstag eine Pyjamaparty", erläuterte ich, nachdem ich einen großen Schluck Wasser getrunken hatte. "Aha." Dad schaute konzentriert auf sein Handy, das eine SMS anzeigte. "Du bist auch eingeladen", sagte ich leise an Thomas gewandt. Er sah überrascht auf und verzog irritiert das Gesicht. "Was soll ich auf Sofia Wolfehams Pyjamaparty? Mir die Nägel lackieren, Schokopopcorn essen und über Bethany Igglefield lästern, die immer dicker wird?" Ich lächelte matt. "Ich hab mir schon gedacht, dass du kein Interesse hast. Macht auch nichts. Ich denke auch nicht, dass du was von Melanie Baker willst, oder?", fügte ich vorsichtshalber hinzu. Man konnte ja nie wissen. "Wie bitte?" Thomas verschluckte sich an dem Stück Hühnchen, das er sich gerade in den Mund geschoben hatte. "Frag gar nicht erst", wehrte ich ab und hob die Hände. "Ich sag Sofia einfach Bescheid, dass du nicht kommst und sie die Sache vergessen kann." Schließlich stand ich auf und unterdrückte ein Gähnen. Mir schmerzte nicht nur der Rücken, sondern vom Hockeytraining war ich auch schrecklich müde. Außerdem wollte ich, feige wie ich war, diesen schockierenden Neuigkeiten über den Mord im Cimmen Park für ein paar Stunden entfliehen. "Ich geh schlafen", verkündete ich. Dad sah auf und musterte mich durch seine Brille. "Geht es dir gut, Jody? Du bist so blass." Ich fasste meinen Rücken und winkte ab. "Ich bin nur müde. Ich bin okay, Dad, wirklich." Er grummelte etwas unverständliches, während er sein Handy in seine Hosentasche steckte. "Na gut. Schlaf gut." "Danke, Dad, du auch", erwiderte ich sanft und drückte ihm einen Kuss auf's Haar. "Gute Nacht, Thomas." Ich lächelte ihn an, was er herzlich erwiderte. Doch als ich die Treppe hinauf ging, spürte ich seinen nachdenklichen Blick in meinem Rücken.
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Halli Hallo, meine lieben Leser. Da die Kommentare im letzten Kapitel recht karg ausgefallen sind, freue ich mich natürlich jetzt doppelt auf Rückmeldungen. ❤ Haut in die Tasten! ♣
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