3 - Gedankenspiele

Als wir mittags in der Schulcafeteria an unserem Stammplatz saßen, bekam ich keinen Bissen herunter. Sofia redete ununterbrochen von ihrem dreiwöchigen Wellnessurlaub auf den Bahamas und Quil und Jayden unterhielten sich über irgendeinen Fußballspieler, dessen Namen ich nicht kannte. Melanie hing wie gebannt an Sofias Lippen, während sie abwesend die ekelige, kalte Championsuppe in sich hinein schaufelte. Ich jedoch konnte mich nur auf den Nachbartisch konzentrieren, denn dort saßen sie, die Zapateros. Mir fiel auf, dass sie alle schwarz gekleidet waren, einer dunkler als der andere, und sie hatten irgendetwas, das sie alle verband, aber sie sahen sich weder im Gesicht besonders ähnlich, noch hatten sie die gleiche Hautfarbe. Sie alle waren dunkel, ja, aber es handelte sich um verschiedene Brauntöne. Der sechzehnjährige Javier, der in meinem Politikkurs war, war der dunkelste von ihnen. Seine Haut war beinahe schwarz, und er blickte durchgängig so grimmig drein, als wolle er jeden, der ihn nur ansah, auf der Stelle mit seinen Augen töten. Er sah älter aus als sechzehn, was nicht zuletzt an seiner Körpergröße lag: Er übertraf selbst den Kapitän der Basketballmannschaft, Austin Denver, um einen Kopf. Und das musste erst mal einer schaffen. Aber nicht nur das: Er sah aus wie eine Kampfmaschine, über und über mit Muskeln bepackt. Dazu die tiefe Stimme, die ich nur ein einziges Mal hörte und schon nach diesem Mal fürchtete. Alles, was er in Politik gesagt hatte, waren sein Name und sein Alter. Er hatte weder über seine Herkunft, noch über seinen aktuellen Stand auch nur ein Sterbenswörtchen verloren, und da er so bullig und beängstigend wirkte, traute sich keiner nachzufragen. Den Rest der Stunde hatte er still schweigend in der letzten Reihe gesessen, die langen Beine von sich gestreckt und hin und wieder demonstrativ gegähnt. Nein, diesem Javier wollte ich nachts keineswegs über den Weg laufen. Ich wollte ihm überhaupt nicht wieder über den Weg laufen, auch wenn ich gleichzeitig nicht anders konnte, als ihn und seine Geschwister anzustarren, sobald sie in der Nähe waren.

Ainhoa, seine ältere Schwester und generell die Älteste von ihnen, war mindestens genau so abweisend und verschwiegen. Sie war es gewesen, die ihre jüngere Schwester heute morgen vor meinen neugierigen Blicken hatte schützen wollen. Ich hatte sie in der dritten Stunde im Mathekurs kennengelernt und zu allem Überfluss saß sie direkt neben mir. Ainhoa Zapatero war tatsächlich schon neunzehn Jahre alt, holte aber ihren Abschluss nach, den sie beim ersten Versuch nicht geschafft hatte. Neben ihr zu sitzen fühlte sich an, als säße man neben einem hungrigen Raubtier. Sie sonderte einen ganz eigenartigen Geruch ab, der roch wie Blut, den sie aber mit einem schrecklich süßen Parfüm überdecken wollte. Obwohl die Heizung aufgedreht war, hatte ich die ganze Mathestunde gefroren.

Sara war da ganz anders. Sie war Javiers Zwillingsschwester und das Mädchen, das mich in der Aula angelächelt hatte. Sie schien sich überhaupt stark von Javier und Ainhoa zu unterscheiden, sie war freundlich und irgendwie ging die Sonne auf, wenn sie den Raum betrat. Ich hatte sie in der sechsten Stunde kennengelernt, in Spanisch. Sie beherrschte die Sprache fließend und weil die Zapateros so südländische Namen hatten, schloss ich, dass sie wohl dort gelebt haben mussten. Sämtliche Jungs hatten bei ihrem Anblick beinahe gesabbert, was ich gut verstehen konnte: Sara war perfekt. Und es verpasste mir keinen Stich wie bei Lisa, es machte sie symphatisch. Und jetzt, wo ich schon bei Lisa war, wanderten meine Gedanken zu ihr. Seit ihrer überstürzten Flucht in der Aula am Morgen hatte sie sich nicht mehr blicken lassen. Das Ganze war mehr als komisch und irgendwie gab es da ein Gefühl in mir, das sagte, dass sie die Zapateros kannte. Oder zumindest etwas über diese Familie wusste, was niemand sonst wusste. Lisa wohnte direkt am Cimmen Park, wo Margaret Templeton getötet wurde. Konnte es sein, dass sie mehr wusste, als sie zugab? War Lisa vielleicht Zeugin, wie einer von diesen... nein. So weit durfte ich nicht denken. Es war nicht fair von mir, voreilig Schlüsse zu ziehen, schon gar nicht, wenn ich nichts über die Zapateros wusste. "Hey, Träumerchen!" Sofia stieß mir unsanft in die Seite und ich fuhr auf. "Ja?", krächzte ich zurück. Sofia kicherte vergnügt. "Wo warst du denn mit deinen Gedanken?" Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg. Was sollte ich sagen? Dass ich nur noch an die Zapateros denken konnte? Dass ich mich vor ihnen fürchtete und gleichzeitig ganz nah bei ihnen sein wollte? Zu peinlich. Sofia würde mich auslachen und sich das Maul über mich zerreißen. "Ich hab an das Training heute Nachmittag gedacht", sagte ich lächelnd und nahm einen Löffel Championsuppe. Sie schmeckte furchtbar und hinterließ einen ekelhaften Nachgeschmack. "Tennis oder Feldhockey?", fragte Sofia. "Feldhockey", gab ich zurück, inzwischen hatte ich mich etwas beruhigt. "Davon bekomme ich immer schreckliche Rückenschmerzen." Ich schob meinen Teller weg und nahm mir stattdessen einen Bagel. Der schmeckte zwar auch nicht fantastisch, aber immerhin besser als diese scheußliche Suppe. Sofia warf ihren braunen Zopf zurück. "Dann schwänz das Training doch einfach", sagte sie grinsend, "und fahr stattdessen mit mir in die Mall." Ich lächelte matt, während ich den Kopf schüttelte. "Das geht nicht. Ich habe mich nun mal dazu entschieden, Feldhockey auch noch zu machen. Da kann ich nicht einfach fehlen. Außerdem komme ich nie in die Auswahlmannschaft, wenn ich schwänze." "Streberin", schoss Sofia zurück und das versetzte mir einen Stich. Aber es war nicht das erste Mal, dass sie mich beleidigte, deswegen machte es mir längst nicht so viel aus wie früher. Das war einfach ihre Art. Die anderen waren inzwischen verstummt und lauschten unserem Gespräch. "Sorry", sagte ich ehrlich und berührte Sofias Arm, aber sie schien mir schon nicht mehr böse zu sein. "Egal. Dann fahr ich einfach zu Lisa und frage sie, was diese coole Aktion heute Morgen sollte." Sie lachte vergnügt. Sofia liebte verbotene Sachen, weswegen sie uns ständig zu irgendwelchen Straftaten animierte. Und wenn einer von uns sich daneben benahm - so wie Lisa - fand sie das ziemlich cool. Ich glaubte, Sofia nahm das Leben nicht so ernst, wie sie es nehmen sollte. Alles war für sie ein Riesenspaß, und wenn sie andere dabei verletzte, machte ihr das nicht groß etwas aus. "Kommst jemand von euch mit?", fragte sie in die Runde. Jayden schüttelte entschuldigend den Kopf. "Schwimmtraining." "Ich komme mit", bot Quil an und küsste Sofia auf die Wange. Ihre Augen glühten vor Freude, sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie liebte Quil aufrichtig und innig und er war der einzige Mensch, bei dem sie sich auch traute, schwach zu sein. Wenn sie weinte - was selten vorkam - dann in seinen Armen. Auch Melanie bestätigte, dass sie mit zu Lisa kommen würde und Sofia versprach mir, dass sie mich gleich danach anrufen würde. "Samstag gebe ich eine kleine Pyjamaparty zum Schulanfang. Ihr kommt alle. Jody, Thomas ist auch eingeladen", sagte Sofia und räkelte sich auf ihrem Stuhl. Die Mittagspause war fast vorbei, manche Schüler machten sich schon auf den Weg zum Unterricht. Ich lachte auf. "Der kommt doch eh nicht." Sofia grinste verschmitzt. "Bring ihn mit. Mir ist aufgefallen, dass ich ihn mit Melanie verkuppeln sollte." Melanie verschluckte sich an einem Stück Champion, dass sie gerade im Mund hatte. Jayden zog eine Augenbraue in die Höhe, während er Melanie unbeholfen auf den Rücken klopfte. Lisa und ich ahnten, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnte, und nun kam Sofia und wollte Melanie mit meinem Bruder verkuppeln! "Das ist eine dumme Idee", sprang ich meiner Freundin zur Hilfe. Melanie griff unter dem Tisch dankbar nach meiner Hand und lächelte mich kaum merkbar an. "Es ist eine tolle Idee", widersprach Sofia und ließ ihre Finger knacken. "Ich finde nichts an Thomas", entgegnete Melanie abwehrend, wobei sie Jayden einen raschen Blick zu warf. "Schätzchen, bloß keine Hemmungen." Sofia lächelte zuckersüß. "Thomas ist einer der best aussehendsten Jungen der Schule. Und auch du bist sehr hübsch, Melanie. Ihr wärt das  Paar - nach Quil und mir natürlich. Also hab dich nicht so. Jody - mach ihn für Samstag klar." Sie klimperte schnippisch mit den Wimpern, während sie aufstand. Als ich mich seufzend umblickte, waren sogar die Zapateros verschwunden. Es wurde also höchste Zeit, dass wir zurück zum Unterricht kamen, vor allem, da ich nun Englisch bei Mrs Saragoudas hatte. Sie interpretierte mit uns bestimmt wieder irgendwelche Tennyson-Gedichte, und wenn man den Unterricht nicht von Anfang an verfolgte, hatte man verloren. "Jody!", sagte Sofia und blickte mich abwartend an. Alle sahen mich so an. "Ich frage ihn mal", räumte ich ein, "aber versprechen kann ich nichts."

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Es ist zwar nichts grandioses passiert, aber ich freue mich trotzdem über Rückmeldungen ♥

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