14 - Gespräche
Als ich am Montagmorgen die Treppe hinunter trabte, erwartete Dad mich bereits an deren Fuß. Es wunderte mich, dass er schon aufgestanden war, denn ich war wirklich früh dran und normalerweise kostete er jede Minute, die er länger im Bett bleiben konnte, voll aus. Mein Blick fiel auf das Fieberthermometer in seiner linken Hand. "Dad." Ich schnitt ihm eine Grimasse, dann versuchte ich, mich an ihm vorbei in die Küche zu drängen. Vergebens. "Ich mache mir Sorgen um dich, Jody", sagte er bestimmt. "Du hast das Haus weder Samstag noch Sonntag verlassen und die meiste Zeit auf dem Sofa gelegen. Du bist krank. Du hast dir irgendetwas eingefangen." Er legte seine große Pranke an meine Stirn. Na super. Ich war frisch geschminkt - hoffentlich blieb mein Make-Up nicht an seiner Handinnenfläche kleben. Dad nickte gewichtig. "Du glühst, Jody. Leg dich wieder ins Bett, hm? Ruh' dich einen Tag aus. Die Schule steht auch morgen noch." "Mir geht's gut", entgegnete ich gelassen. Und das war noch nicht einmal gelogen - die Wut in meinem Bauch war so groß, dass ich mich nahezu auf die Schule freute. Ich sehnte den Augenblick herbei, in dem ich Javier packen und zur Rede stellen konnte. Ich war so heiß darauf, dass ich nicht einmal Angst hatte - geschweige denn, mich krank fühlte. Warum tat Dad jetzt einen auf besorgt? Er merkte doch auch sonst nichts, wenn es mir schlecht ging. Warum jetzt? "Ich meine es ernst, Jody", mahnte er mit gerunzelter Stirn. Ich blinzelte. "Ich auch, Dad. Und jetzt lass' mich bitte durch, ich habe ein Rendez-vous mit der Kaffeemaschine." Da seufzte er und ließ mich passieren.
Mit einem Aufatmen verschwand ich in die offenen Küche. Thomas saß bereits in seinen Laufklamotten am Tisch, aber angesichts der Tatsache, dass es nach Schweiß und Deo roch, ging ich davon aus, dass er sein Training schon hinter sich hatte. Dem Blick nach zu urteilen, den er mir jetzt zuwarf, hatte er das Gespräch zwischen mir und Dad gehört. Ich tat, als bemerke ich das nicht und stellte pfeifend die Kaffeemaschine an. Ich musste mich so gutmütig und normal wie möglich verhalten. Wenn einer der beiden bemerkte, dass etwas mit mir nicht ganz richtig war, würden sie mich erst recht nicht gehen lassen.
Dad wuschelte mir durch die frisch gewaschenen Haare. "Mein kleines, fleißiges Mädchen, du!" Er stieß sein dröhnendes Lachen aus. "Willst unbedingt zur Schule gehen. Ich hätte damals alles dafür getan, um mich vor dem Unterricht drücken zu können." Er zwinkerte mir zu, dann schnappte er sich seine Autoschlüssel von der Anrichte. Sie lagen direkt neben der Todesanzeige von Isaac Stanley und ich musste schlucken. "Bis dann!", rief Dad und wankte zur Tür. "Jetzt schon?", fragte ich laut, während ich den frisch aufgebrühten Kaffee in einen henkellosen Becher goss. Dad zog sich bereits die Jacke über. "Ja, leider." Er seufzte schwer. "Seit den beiden Morden ist bei mir in der Kanzlei der Teufel los. Ach - und nehmt euch Regenschirme mit, Kinder! Es gewittert." Und damit knallte die Haustür hinter ihm ins Schloss. Ich hörte seine schweren Schritte, dann die Autotür. Leise summend entfernte sich sein Auto von unserer Auffahrt. "Tja", war alles, was mir dazu einfiel. Thomas durchbohrte mich mit seinem undurchdringlichen Blick. "Was ist los mit dir, Jody?" Mir fiel fast der Kaffeebecher aus der Hand. "Nichts", sagte ich trotzdem und sah meinen Bruder mit Unschuldsmiene an. Er ging nicht wirklich darauf ein. "Komm schon. Du kannst vielleicht Dad verarschen, aber nicht mich. Du bist doch sonst nicht so scharf auf Schule." "Hallo?", entrüstete ich mich und nahm einen Schluck meines Kaffees. Er schmeckte zu bitter. "Ich habe einfach keine Lust, hier den ganzen Tag alleine rumzuhocken", startete ich einen neuen Versuch - da war sogar was Wahres dran. Seit das am Freitag passiert war, fühlte ich mich nicht einmal mehr in Häusern sicher. Und wenn ich alleine war, dann erst recht nicht. "Wenn es daran liegt", Thomas warf mir ein warmes Lächeln zu, "kann ich auch gerne hierbleiben." "Nein", entgegnete ich schärfer als nötig. Mein Bruder zog überrascht den Kopf ein. "Okay!" Er hob beide Hände. "War nur ein Angebot." "Ich weiß", räumte ich eilig ein und versuchte ein Lächeln. "Das ist auch wirklich super nett von dir, aber ich fühle mich wieder fit." Thomas runzelte die Stirn. Ich wusste, dass er sich verantwortlich für mich fühlte, aber weder er noch Dad hatten die Eigenschaft, mich erziehen zu können. Dafür war der Zug abgefahren. "Zum Training gehst du aber nicht, oder?", hakte er nach. Ich brauchte meine Zeit, bis ich verstanden hatte, worauf er hinauswollte. Feldhockey! Das hätte ich beinahe selber vergessen... "Doch", widersprach ich zögernd. "Warum?" "Weil es regnet und du gestern noch Schüttelfrost hattest!" Thomas warf die Arme in die Luft, während er aufstand. Sein T-Shirt klebte an seiner schlanken, stählernen Brust. "Das wird schon gehen", winkte ich ab und fügte, bevor er noch etwas sagen konnte, hinzu: "Und jetzt unter die Dusche! Du stinktst."
Während mein Bruder sich ins Bad zurückzog, trank ich meinen Kaffee aus und aß schnell einen kleinen, sauren Apfel. Nicht mal mehr das Obst schmeckte gut! Dann musste das Wetter wirklich beschissen sein. Ohne, dass ich mich wirklich dagegen wehren konnte, schweiften meine Gedanken zu den Zapateros und ich fragte mich abermals, wie viel sie mit der ganzen Sache zu tun hatten. Seit der Nacht, in der sie hergezogen waren, herrschte nur noch Unwetter und es wurden Menschen auf brutalste Art und Weise zerstückelt. Und hatte nicht Frankie ihr Baby verloren, nachdem diese finstere Familie hergezogen war? Das war alles mehr als nur komisch. Irgendwie beeinflussten diese Leute Miahill immens - sie passten überhaupt nicht in diese friedliche Vorstadt-Idylle. Es musste einen Zusammenhang zwischen ihnen und den Unglücken geben, die in letzter Zeit die Runde machten. Das konnte alles kein Zufall mehr sein.
"Jody?" Es war Thomas' Stimme, die mich aus den Gedanken riss. Ich drehte mich zu ihm um. "Komme!", rief ich und beeilte mich, meine leere Kaffeetasse in die Spülmaschine zu räumen. Thomas wartete bereits an der Tür. Die Spitzen seiner braunen Haare waren noch nass, aber ansonsten war er fertig. Wie schaffte er das immer so schnell? Als ich näher kam, wurde ich von seiner Parfümwolke umhüllt und ich konnte mir nicht helfen, ich verstand, was all die Mädchen an ihm liebten. Thomas war so unerreichbar, so distanziert und so desinteressiert, und trotzdem bezirzte er mit seinem groben Charme die halbe Schülerschaft. "Was guckst du so?", fragte er, ehe er seinen Autoschlüssel aus der linken Tasche seiner Lederjacke nahm. Ich langte nach meinem gelben Regencape. "Stört es dich überhaupt nicht, dass Sofia Wolfeham dich mit Melanie verkuppeln wollte?" Die Frage war mir einfach so rausgerutscht, aber falls sie meinen Bruder überrumpelte, ließ er sich das zumindest nicht anmerken. "Nö." Er zuckte mit den Schultern, dann pustete er sich eine hellbraune Strähne aus dem Gesicht. Ich nickte nur - was sollte ich dem auch noch hinzufügen? Was Mädchen anbelangte, war Thomas offenbar noch immer ein ziemlicher Autist. Prima. "Ist noch was?", fragte er mich, als ich mich immer noch nicht vom Fleck bewegte. "Nein." Ich strahlte ihn an. "Gehen wir."
Die Autofahrt über war ich ziemlich entspannt, doch sobald Thomas seinen alten, kleinen Geländewagen auf den Parkplatz lenkte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Thomas fuhr gerade auf eine kleine Parklücke zu, als urplötzlich die Zapateros auftauchten und um Haaresbreite vor dem Auto herliefen, um dem Regen zu entkommen. "Alter!", rief mein Bruder aufgebracht. "Könnt ihr nicht aufpassen, ihr Arschlöcher? Scheiße noch mal!" Er ließ seine geballte Faust auf die Hupe krachen, was die Geschwister allerdings nicht im geringsten störte. Mit überirdischer Anmut und unnormaler Geschwindigkeit liefen sie am Auto vorbei. Die Jungs trugen wieder einmal ihre militärsähnliche Finster-Kluft, während die Mädchen in atemberaubende Kleider gehüllt waren. Ohne dass ich es bemerkte, klappte mir die Kinnlade runter. Caria Zapatero war die letzte, die an Thomas' Wagen vorbeitänzelte. Ihre leichten, hüpfenden Schritte erinnerten mich an die eines Vogels, und als sie sich noch einmal umdrehte, warf sie mir einen nahezu verzweifelt entschuldigenden Blick zu. Ich brachte es nicht zustande, ihn zu erwidern. Am liebsten hätte ich mich gekniffen. War das gerade wirklich passiert? Mir fiel auf, dass ich die Luft angehalten hatte und atmete jetzt scharf ein. "Was war das denn?", fragte ich mit zittriger Stimme. "Keine Ahnung", sagte Thomas laut, ehe endgültig einparkte. Die Sehnen an seinen Unterarmen spannten sich vor Wut und ich schluckte trocken. "Diese Emos denken wohl, sie könnten sich alles erlauben!" Thomas wandte sich mir zu, wobei er seine verzerrten Züge entblößte. "Das wäre beinahe schief gegangen, Jody." Er langte nach meiner Schulter und krallte sich darin fest. "Die sind in deiner Stufe, oder?" Seine Stimme war atemlos, als hätte er einen Marathon gelaufen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. "Drei von ihnen", erwiderte ich und nickte zögernd. Thomas schien zu merken, dass er mir wehtat, denn er lockerte seinen Griff ein wenig. Seine Miene glättete sich, ebenso wie seine Stimme, als er jetzt sprach. "Versprich mir, dass du dich von denen fern hältst. Jody, versprich es mir! Diese Leute sind geisteskrank." Jetzt verstärkte sich sein Griff wieder, und weil ich keine Lust hatte, mit ihm eine Diskussion anzufangen, nickte ich ergeben. "Gut." Thomas seufzte tief. Dann schnallte er sich ab und stieg aus dem Auto, nur um mir wenig später die Tür zu öffnen. "Komm", sagte er nahezu sanft. "Der Unterricht fängt gleich an." Wieder konnte ich nur nicken. Wenn das mal kein böses Omen für die Woche war, dann wusste ich auch nicht...
Thomas eilte zum Schulgebäude, sobald ich ausgestiegen war und er die Tür zuknallen und den Wagen verriegeln konnte. Ich jedoch blieb noch ein paar Sekunden in der Mitte vom Schulhof stehen, um mich zu sammeln. Als hinter den Wipfeln der Tannen, die das Schulgelände umgaben, ein unheilverkündender Donner grollte, atmete ich tief ein und rannte los.
Ich erwischte Javier Zapatero, als er gerade sein Schließfach öffnete, um seine durchnässte Lederjacke darin aufzuhängen. Ohne Vorwarnung warf ich mich gegen ihn und drückte ihn gegen die Wand - und es war mir sowas von egal, ob das jetzt jemand sah. Die meisten Schüler saßen ohnehin schon in den Klassen. Javier schlug zumindest überrascht die Augen auf, und das verpasste mir einen weiteren Adrenalinschub. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, aber nicht weil ich Angst hatte, sondern weil ich endlich das abladen musste, was sich das Wochenende über in mir aufgestaut hatte. "Du!", stieß ich atemlos hervor. Danach legte sich eine Stille über uns, in der wir nichts anderes hörten als den Regen auf dem Schuldach. Täuschte ich mich, oder prasselte er in diesem Augenblick noch aggressiver? "Was?", fauchte Javier und machte sich gewaltsam von mir los. Meine Handgelenke brannten von seinem schmerzhaften Griff, doch das hinderte mich nicht daran, ihn erneut mit meinem ganzen Körpergewicht vor die Wand zu drücken. Nicht mal ein Blatt hätte zwischen uns gepasst. Sein heftiger Atem streifte meine Kopfhaut und als ich aufsah, bemerkte ich, dass seine Nasenlöcher gebläht waren. Seine Augen waren seltsam und durchdringend schwarz, sodass ich den Übergang zwischen Pupille und Iris gar nicht erkennen konnte. Aber deswegen war ich nicht hier - und er auch nicht. "Ich weiß, dass du das warst", zischte ich, und Javier schloss kurz die Augen. Seine Lider flatterten, als er um Selbstbeherrschung rang. Ich fuhr unbeirrt fort. "Ich habe dich gesehen, Freitagabend. Und weißt du was? Ich kann sogar verstehen, was dich dazu getrieben hat, diese krumme Sache zu drehen. Du hasst Sofia und ich weiß, dass sie euch das Leben zur Hölle macht. Du hasst sie und du willst, dass es aufhört. Ist es nicht so?" Ich blickte ihn kurz mit gefletschten Zähnen an, gab ihm jedoch nicht die Chance, meine Frage zu beantworten. Stattdessen übernahm ich das selbst. "Ja, genau so ist es. Diese Tortur im Haus von Logan und Abby hat einzig allein dazu gedient, uns endlich das zu geben, was wir verdient haben - Rache. Ich habe dein hübsches Briefchen gefunden. Oder hast du das gar nicht geschrieben? Vielleicht jemand von deinen Geschwistern? Sag es mir doch, Javier." Ich hatte mich in ein kaltblütiges Wesen verwandelt. Es machte mir beinahe sogar Spaß, so überlegen mit Javier zu reden. Aber nur beinahe. Der restliche Teil von mir hatte tatsächlich Angst - immerhin stand vor mir der Junge, der ein Baby entführt und uns alle in einem Kinderzimmer eingesperrt hatte. Ein Täter. Javier sah auf mich herab, entschied sich jedoch dafür, nichts zu sagen. Ob er sich grämte, dass ich ihn erkannt hatte? Ich presste meinen Körper noch ein bisschen fester gegen seinen. "Kann sein, dass Sofia es verdient hat, einen ordentlichen Dämpfer verpasst zu bekommen, Javier. Aber so etwas wünsche ich keinem. Und weißt du was? Sofia war nicht alleine in diesem Haus. Dass ihr auch etwas gegen Lisa habt, ist mir inzwischen aufgefallen, und dass Melanie und ich dazu gehören, ist klar. Aber soll ich dir mal was sagen? Ich habe euch immer in Schutz genommen. Ich habe immer versucht, euch normal zu behandeln. Ich habe immer wieder versucht, euch anzusprechen, damit ihr euch wenigstens ein bisschen willkommen fühlt. Verdammt, ich habe euch sogar nach Hause gefahren, als es geregnet hat! Was habe ich getan, damit ich so etwas verdiene?" Jetzt schrie ich. Meine Stimme überschlug sich, weil alle Wut und alle Ungerechtigkeit aus mir herausbrachen. Niemand war mehr auf dem Gang und meine Worte hallten von den Wänden wider. Javier sagte noch immer nichts. Seine Augen ruhten bedrohlich lässig auf meinen und mir war, als blicke er auf den Grund meiner Seele. "Und jetzt will ich, dass du mir sagst, wer dir bei deinen Spielchen geholfen hat", sagte ich, jetzt wieder ruhig. "Ich kann das auch allein herausfinden, Javier", fügte ich hinzu, als er immer noch schwieg. Seine Lippen teilten sich zu einer Antwort. "Lass mich los." Seine Stimme war kratzig und angeraut, weit männlicher als die der anderen Jungen aus meinem Jahrgang. Reflexartig ließ ich von ihm ab. Hä? Javier warf mir einen langen Blick zu, ehe er sich von der Wand abstieß, seine Tasche vom Boden hob und mit langsamen, schweren Schritten davon lief. Ich konnte nicht anders, als ihm hinterherzustarren. Was sollte das? Mein Atem wurde heftiger und Tränen schossen mir in die Augen. Ich ballte die Hände zu Fäusten. "Antworte mir endlich, du Arsch!" Mein Schrei brachte nichts. Die einzige Antwort, die ich bekam, war das leise Klappen der Tür, als sie hinter Javier ins Schloss fiel. Ich war einsam - und so fühlte ich mich auch.
"Ach, Jody!", sagte Mrs Saragoudas gespielt beiläufig, als ich den Klassenraum zehn Minuten später betrat. "Hast du es auch endlich mal geschafft, herzukommen?" Ich nickte, ohne ihr eine Antwort zu geben. Der Streit mit Javier hatte mir jegliche Kraft geraubt, und nachdem ich auf den Toilettenräumen unter Tränen mehrere Minuten lang um Beherrschung gerungen hatte, fühlte ich mich wie eine Marionette, die man von den Schnüren geschnitten hatte. Von der kaltblütigen, zornigen Jody war nichts geblieben. Stattdessen war ich einfach nur noch müde und erschöpft. Mrs Saragoudas schien das jedoch nicht zu merken, denn sie deutete auf meinen Platz. "Setz dich. Und schreib dir das Buch auf, das ich dir jetzt nenne. Ich habe dem Kurs gerade schon gesagt, dass ich mich in diesem Jahr weniger den Gedichten widmen möchte, sondern stattdessen der Lektüre von Weltliteratur. Aber bevor wir uns Charles Dickens und Jane Austen zuwenden, möchte ich mit euch erst mal etwas anderes lesen. Der Roman heißt Rebecca von Daphne du Maurier. Schreibst du dir das bitte auf?" Mrs Saragoudas' Stimme schmerzte in meinen Ohren. "Ja, ja", brummte ich missmutig, während ich in meiner Tasche nach Block und Stift kramte. Als ich beides auf den Tich gelegt hatte, machte ich mir ein paar Notizen. Dann ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte fallen und die Englischstunde an mir vorbeiziehen.
"Was war denn mit dir los?" Melanie zupfte an meinem Ärmel und zog mich damit aus dem oberflächlichen Schlaf. Sie war im gleichen Englischkurs wie ich, saß aber am anderen Ende des Raumes. Jetzt stand sie vor mir, einen Stapel Bücher im Arm haltend. Sie sah frisch aus in ihrer beige-farbenen Jeans, die sie mit einer geblümten Bluse und einem weißen Blazer kombiniert hatte. Ganz anders, als ich mich fühlte. Gähnend erhob ich mich von meinem Stuhl, wischte den Block und meine Mappe in meine Tasche und stellte mich neben sie. Melanie machte große Augen. Vom Regen waren ihre weizenblonden Löckchen noch mehr explodiert, aber den Kommentar verkniff ich mir. "Bist du krank?" Melanie legte mir besorgt einen Arm um die Schulter. "Nein." Ich schüttelte den Kopf, ohne ihr jedoch zu erklären, warum ich zu spät gekommen war. Zum Glück war Melanie Freundin genug, um nicht nachzufragen. Ich gähnte erneut, aber alles in allem fühlte ich mich nach meinem Nickerchen schon wieder etwas besser. "Okay", sagte Melanie, während sie mich aus dem Raum bugsierte. "Ich dachte, ich gehe mal in die Bibliothek, um nachzusehen, ob sie da das Buch haben, das wir jetzt für Englisch brauchen. Damit ich es mir nicht kaufen muss." Sie zwinkerte mir zu. Auf mich wirkte dieses Zwinkern unheimlich aufmunternd und stärkend. "Ich komme mit", bot ich mich an und versuchte ein Lächeln. Es gelang mir ganz gut. "Cool!" Melanie strahlte mich glücklich an, während sie den Weg zur Bibliothek einschlug. "Aber von Rebecca haben sie dort bestimmt nicht so viele Ausgaben und ich bin sicherlich nicht die einzige, die auf die Idee gekommen ist..." "Schon gut", winkte ich ab. "Ich kaufe mir Rebecca einfach selber." "Okay." Melanie hakte sich bei mir unter und gemeinsam liefen wir zur Bibliothek. Auf den Gängen war es laut und wimmelte nur so von Schülern, die sich gegenseitig von ihren Wochenenden in Kenntnis setzten, was es mir nur umso schwerer machte, daran zu glauben, dass das, was heute Morgen vorgefallen war, real war.
Doch kaum hatten wir die Bibliothek betreten, wurde es schlagartig ruhig. Ich hatte diesen Raum schon immer geliebt. Die Bibliothekarin war eine kleine, rundliche Frau von etwa fünfzig Jahren, die eine rote Lesebrille auf der Nase trug und immer las. Auch jetzt war sie in ein Buch vertieft und merkte nicht einmal, dass wir eingetreten waren. Die Wände waren in einem hellen, verblichenen gelben Ton gestrichen, zwischen den hohen Fenstern hing eine Flagge der Vereinigten Staaten und die Regale waren vor Kurzem neu überstrichen worden, sodass es nach Farbe roch. Hinter den Scheiben war es so dunkel, dass man meinen konnte, es sei schon Abend - dabei war es zehn Uhr morgens. Die Büsche wurden vom Wind hin und hergezerrte, Blitze elektrisierten die Welt. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, wo sie sich des Regenwassers entluden. Unfassbar, dass es überhaupt so viel Niederschlag gab. Wir waren hier immerhin in Indiana und nicht in Lousiana oder Florida. Ich seufzte nur und widmete mich dann den Büchern, während Melanie die Bibliothekarin nach Daphne du Maurier fragte. Ich schlenderte durch die vielen Regale, ließ meine Fingerspitze über die verstaubten Buchrücken gleiten. Der Geruch von frischer Farbe vermischte sich mit dem der alten Buchseiten, je mehr Regale ich hinter mir ließ. Doch irgendwann ließ mich eine Stimme aufhorchen. Es handelte sich um ein Geflüster, das nervös klang. "... erkannt", hörte ich eine nur allzu bekannte Stimme sagen: Lisa. "Und sie auch." Sie? Dicht an das Regal gepresst schlich ich mich zu dessen Ende, um dahinter sehen zu können - und staunte nicht schlecht. Da waren Javier, Ainhoa und tatsächlich Lisa. Die beiden Geschwister hatten sich drohend vor meiner Freundin aufgebaut, aber anstatt ihr zur Hilfe zu springen, drückte ich mich schnellstmöglich hinter mein Regal zurück. Ein Instinkt sagte mir, dass die drei besser nicht von meiner Anwesenheit wussten. Offenbar war dieses Gespräch nicht für meine Ohren bestimmt. "Ich weiß", zischelte Javier, der eigenartig unglücklich klang. "Sie hat mich heute Morgen darauf angesprochen." Jetzt wusste ich, über wen sie sprachen - mich. Ich spitzte die Ohren. "Ihr seid solche Miststücke", sagte Lisa mit gedämpfter Stimme. "Es ist besser, ihr verlasst die Stadt. Miahill ist zu klein und zerbrechlich für euch Naturgewalten!" Ihre Stimme klang so hasserfüllt wie noch nie zuvor. Ich erschrak richtig. "Vergiss es, Weiße." Jetzt hatte sich auch Ainhoa eingemischt. "Jody ist intelligent - und neugierig. Sie wird euch auf die Schliche kommen." Jetzt klang Lisa viel mehr verzweifelt als zornig. Auf die Schliche kommen? Ich runzelte angestrengt die Stirn. "Freitagabend war ein Fehler", fuhr Lisa fort. Ainhoa ließ ein spöttisches Kichern hören. "Was willst du von uns? Uns helfen? Wohl kaum. Wir hassen uns, schon vergessen?" "Niemals könnte ich das vergessen", gab Lisa zurück. "Alles, was ich versuche, ist, meine Freunde und die Stadt vor euch zu beschützen. Ihr seid durch und durch bösartig und falsch - im Gegensatz zu uns." Ihre Stimme bekam wieder einen arroganten, wütenden Unterton. Auf meinen Armen breitete sich eine prickelnde Gänsehaut aus. War es schon die ganze Zeit so kalt gewesen? Von wem sprach Lisa da, verdammt noch mal? "Wir -", setzte Javier an, verstummte jedoch, als Schritte näher kamen. "Das müsste hier hinten irgendwo stehen", sagte die Bibliothekarin. "Du hast Glück, weißt du? Du bekommst die letzte Ausgabe." Sie ließ ein Lachen hören, das nicht in die Atmosphäre des Raumes passte. Und im nächsten Moment erschienen sie und Melanie in meiner Regalreihe. "Hier bist du!", sagte meine Freundin und lachte. Ich zuckte zusammen - was, wenn sie mich dadurch verraten hatte? Besorgt schielte ich um die Ecke.
Von Lisa und den Zapateros fehlte jede Spur.
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Hey ihr Lieben! In Jodies Leben wird weiterhin viel passieren - es hat immerhin gerade erst angefangen. :-) Was haltete ihr davon, dass sie Javier drauf angesprochen hat? Und was vermutet ihr hinter dem Gespräch von Lisa und den Zapateros? Eure Meinung zählt! :-)
Also hinterlasst einen Kommi und werdet Teil der Geschichte. xx
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