༻Nᴇᴜɴ༺

Make a little conversation
So long I've been waiting
So let go of myself and feel alive
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Durch einen leichten Windzug flattert der lange Vorhang wie ein Geist, der der Außenwelt verhüllt, wie wir gemeinsam in einem der kleinen Nebenräume sitzen. Der frühjährliche Vormittag ist sonnig, wie die letzten es auch waren, doch heute sitze ich nicht mit einem Buch oder einem leeren Notizbuch samt Stift verborgen auf meinem kleinen Balkon, sondern halte eine warme Tasse Tee in der Hand. Louis hat sie mir eben in die Hand gedrückt, nur um sich Sekunden danach seufzend aufs kleine Sofa zu werfen.

Nun liegt er bäuchlings auf dem grellroten Stoff und streckt sich genüsslich, ehe er sich eins der vielen Kissen schnappt und seinen Kopf darauf bettet und mit einem so typischen Funkeln in den ozeangleichen Augen und einem spöttischen Lächeln auf den Lippen witzelt er: „Keine Sorge, Harry. Ich hab da schon kein Gift rein getan".

Stumpf schüttle ich einfach nur den Kopf, doch Nialls schallendes Gelächter ertönt augenblicklich und ich blicke zu ihm. Der Ire sitzt mir gegenüber auf einem der bequemen Sessel und wippt unruhig mit seinen Füßen auf und ab.

Neben seiner Tasse steht ein weiterer unberührter Becher, mit dem heißen Gebräu, das Louis uns allen eingegossen hat. Die Becher dampfen und verströmen einen köstlichen Duft, der mich in Versuchungen bringt doch schon, trotz der enormen Hitze, einen kleinen Schluck zu wagen.

„Die gleiche Seife hat meine Mutter auch", informiert uns Liam unnötigerweise, während er an seinen Händen riechend die Tür gewissenhaft schließt und zu uns kommt.

Ein Grinsen schleicht sich auch mein Gesicht und vertieft sich nur, während Louis die Augen verdreht, bevor er sein Gesicht in dem Kissen vergräbt. Niall deutet lachend auf den Tee.

„Der ist für dich."

Der Angesprochene nickt dankbar, greift lächelnd nach der Tasse und setzt sich auf den letzten freien Sessel, der zwischen Niall und mir steht und unseren Kreis vervollständigt.

„Der richt köstlich, was ist das für einer?", verlangt Liam zu wissen, die Nase in den Dampf haltend.

„Keine Ahnung, Lou hat ihn gekocht", antworte ich wenig hilfreich.

Unser aller Blicke liegen auf Louis, der ausgestreckt auf dem schmalen Sofa liegt. Seine Füße ragen über die Lehne hinaus und das Kissen, in das er regelmäßig laut atmet, liegt auf der anderen.

Liam grinst und bedeutet Niall mit einem Kopfnicken unseren Freund wieder zu wecken. Kurz will ich protestieren, beiße mir jedoch auf die Zunge. Brummend zuckt der Braunhaarige und dreht sich schwerfällig von uns ab.

„Hallo? Louis", beginnt Niall vorsichtig.

„Louis jetzt mach keine Show, was ist das für ein Tee?", unterbricht Liam ihn ungeduldig.

„Dafür habt ihr mich gerade aus meinem wohlverdienten Schlaf gezerrt?", entrüstet er sich, richtet sich jedoch auf, streckt sich und reibt sich über die Augen.
Liam antworten sofort und ich merke plötzlich, wie sehr ich ihre kleinen Zankereien vermisst habe.

Ein wohliger Schauer durchläuft mich und Wärme breitet sich in mir aus angesichts der geballten Vertrautheit, die diesen Augenblick zeichnet. Glückselig erinner ich mich an die vielen Momente, die wir gemeinsam erlebt haben, die uns immer enger mit einander verbunden und immer wieder zusammengebracht haben.

„Harry, was denkst du?", werde ich unsanft aus meinem Tagtraum gerissen und fahre mir durch die Haare, die mir widerspenstig immer wieder in die Stirn fallen.

„Tut mir leid, worum gehts?", entschuldige ich mich, „Musste gerade an die ganzen Abende nach den Konzerten und all die Morgende, die ich von eurem Geplänkel im Tourbus geweckt worden bin, denken."

Liam grinst, Louis lächelt und Niall lacht mir entgegen, als ich mich ihnen erkläre und augenblicklich lassen sie das ursprüngliche Gesprächsthema fallen. Gemeinsam rufen wir uns jedes kleine Detail ins Gedächtnis, zeichnen die kostbaren Erinnerungen neu und zusammen hauchen wir ihnen erneut leuchtendes Leben ein.

Fröhliche Abende in viel zu kleinen Hotelzimmern, muffelige Vormittage im ruckelndem Tourbus, lustige Patzer im Tonstudio, ausgelassene Feiern bei Award-Vergaben, nervige Angewohnheiten der anderen, gemeinsame Spiele, die sich irgendwann eingeschlichen haben, und unvergessliche Bühnen.
Eine Gänsehaut jagt bei manchen Szenen über den Körper und eine schier unendliche Dankbarkeit überfällt mich.
Was durften wir alle gemeinsam durchleben? Wie bekamen wir alle das Privileg, ein Leben, wie dieses zu führen?

„Leute? Ist euch eigentlich bewusst, was für ein krasses Wunder das ist?", plappere ich frei heraus und schaue ihnen der Reihe nach in die unveränderten Augen, die mir irgendwann ein Zuhause geworden sind.

„Was?", verlangt Louis zu wissen und Niall nickt der Frage zustimmend. Statt mir antwortete ihnen Liam mit andächtiger Stimme: „Unser Leben. Unsere Erinnerungen. Unsere Vergangenheit. Alles".

Louis schnauft und verdreht die Augen, dann vergräbt er seinen braunen Wuschelkopf wieder in dem grauen Kissen vor ihm. Seine Frisur ist ungewohnt und trotzdem vertraut. Seine Haare sehen aus, wie bei unserem ersten Musikvideodreh am Strand. Meine Mundwinkel wandern einige Millimeter hinauf.
Welche Erinnerungen und Emotionen in kleinen Details versteckt sein können, ist immer noch unbegreiflich für mich und wird vermutlich auch nie anders sein.

„Louis, wirklich?", zieht Liam unseren Freund auf, „das war dir wohl schon zu viel". Doch Niall nickt zustimmend und streicht sich gedankenverloren über die mit Bartstoppeln übersähte Wange.

Der Schatten auf seiner Haut irritiert mich immer wieder und das erschreckt mich. Früher haben wir uns fast jeden Tag gesehen, wenn es anders kam, war es eine Ausnahme. Die Veränderungen bei den anderen bekam man so mit, als wären es die eigenen: vieles zieht an einem vorbei, ohne dass man es überhaupt zu realisieren vermag, und doch findet man immer irgendwelche Punkte, die einem jedes Mal ins Auge springen, wenn man ihnen einmal mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Die Tatsache, das mir eine solche Veränderung aufgefallen ist, beruhigt mich auf der einen Seite, auf der anderen zeigt sie mir schmerzlich vor Augen, was in den letzten Jahren anderes war, wie wir anders waren, das wir uns weiterentwickelt haben und schon lange nicht mehr so vertraut waren, wie jetzt endlich wieder. Vereint und beisammen. Trotzdem fühlt sich der Gedanke komisch an, dass wir fünf Jahre alle unser eigenes Leben gelebt haben, ohne viel mit den anderen gemacht zu haben. Wie wir uns verändert haben. Ob es trotzdem wieder so werden kann wie vorher?

Die Tasse glüht heiß in meiner Hand und ich wechsle sie in die andere, bevor ich vorsichtig an ihr zu nippen beginne und mich trotzdem augenblicklich verbrenne.

„Ich geh eine Rauchen, kommt jemand mit?", murrt Louis und zieht fragen die Augenbraue hinauf, als ich die Stirn runzle, den Becher aber trotzdem abstelle und aufstehe.
„Ich."

Er nickt. Niall und Liam lassen sich zurückfallen in ihre Sessel. Wir anderen haben es nie gut geheißen, dass Zayn und Louis ihren Körper mit Nikotin zerstören, aber wirklich ändern konnten wir noch nie etwas daran. So hat sich irgendwann eine stille Übereinkunft gebildet, die beiden möglichst nicht alleine gehen zu lassen, und sie so in besonders stressigen Zeiten am „Frustrauchen" zu hindern, wie wir es relativ schnell getauft hatten.

Noch so eine Angewohnheit, die es gut tut, wieder zu erkennen. Etwas, das uns immer zusammengehalten hat und offensichtlich auch immer noch tut: die einfache Tatsache, dass wir auf einander achtgeben.

Mit der Schachtel Zigaretten und dem Feuerzeug in der Hand marschiert Louis an mir vorbei zur Tür, durch die Liam eben kam und die uns hinaus in den hohen Flur bringt.

Stillschweigend gehen wir nebeneinander die Treppe hinunter in den kleinen, engen Hinterhof, der ebenso uneinsehbar wie ungepflegt ist. Auf einer steinernen Fensterbank steht ein schon gut gefüllter Aschenbecher und einige Kippenreste liegen auf dem dreckigen Boden.

„Du bist müde", spreche ich aus, was mir schon die ganze Zeit auf der Zunge lag, jedoch nie zu passen schien.
„Ja", nuschelt Louis, eine Zigarette zwischen den Lippen und die flackernde Flamme an das kleine Röllchen haltend.

„War die letzten Tage bei Freddie und Briana, da hab ich einfach wenig geschlafen. Ich hatte nicht viel Zeit und dann mussten wir die wenige so gut wie möglich ausnutzen."

Ein kritisches Stirnrunzeln von mir bringt ihn dazu weiterzusprechen, denn wir wissen beide, dass eine solch umfassende Müdigkeit nicht von nur zwei, drei Nächten mit zu wenig Schlaf kommt. Da haben wir schon extremeres durchgemacht und nicht ansatzweise solche Anzeichen gehabt, dass die anderen es nach Jahren des Abstands auf der Stelle erkennen können.

Wahrheitsgemäß antwortet er also: „Kann nicht schlafen, wenn ich sollte. Bin müde, wenn es nicht passt. Chaos beschreibt es ganz gut. Ich weiß nicht warum".

Ich weiß, dass er die Wahrheit sagt, auch ohne seinen Blick zu suchen und lehne mich ausgelaugt gegen den abblätternden Putz.

„Geht mir auch so. Aber dann reguliert sich das wieder alles von alleine. Meistens zumindest."

Louis zieht tief an der Zigarette und ich unterdrücke mühsam den Drang, ihm die Droge aus der Hand zu nehmen. Aber ich bin nicht mit ihm mitgekommen, um eine aussichtslose Diskussion zu führen, wie schon tausende Male zuvor.

„Wie geht es dir abgesehen davon?"
„Gut", reagiert er etwas zu schnell, als dass es die ganze Wahrheit ist, also vertraue ich mich ihm stattdessen an: „Es fühlt sich gleichzeitig so komisch, ungewohnt, vertraut, ersehnt und trotzdem noch wie ein Traum an. Das alles hier— Ich weiß nicht. Die Tatsache, das wir jetzt hier sind und ... naja, du weißt schon ..., das macht mich glücklich und ich kann es kaum erwarten, aber ich hab irgendwie Angst davor, weil ich nicht einschätzen kann, wie es wird. Was ist, wenn alles ganz anders wird? Weil wir uns verändert haben, anders sind. Was, wenn wir den Erwartungen nicht gerechnet werden können, weil das nicht mehr wir sind?"

Beißender Rauch umhüllt uns und ich unterdrücke den Reizhusten. Vielleicht sollte das nächste Mal doch einer der anderen mitgehen.

„Geht es uns nicht allen so? Ich meine, wir wissen nicht, wie es wird, was auf uns zu kommt, was von uns erwartet wird, und ob wir den Vorstellungen überhaupt jemals entsprochen haben oder es je wieder tun werden. Damit müssen wir uns, glaub ich, anfreunden."

Er führt seine Hand ein weiteres Mal zu seinen Lippen und ich wende meinen Blick ab. Während er weiterspricht, inspiziere ich die zugezogenen Fenster der ebenso heruntergekommenen Fassaden der angrenzenden Häuser.

„Aber ich denke mir, wenn wir das nicht tun, um irgendjemandem etwas zu beweisen, irgendwelchen Erwartungen gerecht zu werden oder verrückte Leute zufriedenzustellen. Sondern all dies tun, in der Überzeugung, es für uns zu tun, weil wir es so wollen, all das wieder aufleben zu lassen, nicht einfach abzuschließen, sondern weiterzuschreiben, für uns. Und uns egal ist, wie es ankommt, ob es den Menschen gefällt oder eben nicht, sondern wir einfach wir sind, das tun, was uns Freude macht und begeistert, dann kann nichts schlief gehen."

Nickend blicke ich ihm entgegen und zeige ihm mit einem zaghaftem Lächeln, welch einen Stein er mir eben vom Herzen genommen hat.
„Wird uns das gelingen?"

„Ich weiß es nicht. Niemand tut das, aber wir werden es  sonst wohl nie erfahren. Probieren geht über studieren, oder was meinst du?"

Mit den Worte drückt er die Kippe aus und bedeutet mir das Haus zu betreten, welches abgesehen vom Hinterhof wunderschön und gut erhalten ist.
Grübelnd steige ich neben Louis, der in einem Fort redet und mit inhaltlosen Sätzen um sich wirft, die Treppe hinauf. Nur Wortfetzen gelangen durch meinen Gedankenwirbel.

Wie wird es werden? Die Ungewissheit macht ich fertig, trotz der Sicherheit, die wir uns gegenseitig geben können. Denn obwohl die anderen mir noch vertraut sind und alles den Anschein hat, dass sich nichts verändert hat, werde ich das Gefühl der Fremde nicht los, das in der Luft liegt. Was wenn wir uns alle soweit verändert haben, dass die gemeinsame Vergangenheit nicht mehr genügt, um uns zusammen die Zukunft schreiben zu lassen? Was, wenn wir der Welt nicht bieten können, was sie verlangt? Was, wenn wir wieder in den Sog geraten, der uns damals schon fast zerstört hätte. Jeden einzelnen von uns?

Und was, wenn die Réunion nur ein Verzerren nach dem Geschehenen ist? Eine Illusion, ein Wunschgedanke, ein Traumgespinst, dass uns durch die Finger rinnt, wenn wir es zu greifen versuchen. Ein unbestimmter Dunst aus Erinnerungen und Sehnsüchten, den wir biegen können, wie wir wollen, der jedoch vergänglich ist und uns mit nichts mehr als einem ungenauen Schatten, leeren Händen und weiteren Narben zurücklässt. Was dann?
Will ich dann immer noch, das es so kommt?

Im zweiten Stock angekommen, in dem die beiden anderen auf uns warten, hält Lou mich zurück.
Nialls Gekicher klingt durch die schwere Wohnungstür zu uns heraus und Liams kehliges Lachen vermischt sich mit diesem.
Seine Hand liegt auf meiner Schulter und bestimmt zeiht er an ihr, ehe ich mich unwillig zu ihm drehe.

„Ich weiß, dass du Angst hast, Harry. Ich auch", gesteht er komplett offen.
„Aber fühlst du nicht auch diese Kribbeln? Die Möglichkeit all diese Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, die Chance wieder mit euch gemeinsam Musik zu machen und einen Teil des alten Lebens zurück zu bekommen, all das lässt mich diese Sorge und Zweifel in den Hintergrund schieben und auf das Gute fokussieren. Du kannst das auch. Lass dir davon nicht alles kaputt machen, okay?"

Nervös wippt er auf seinen Fußballen auf und ab.

„Wie weit ist es denn gekommen, dass mir so eine Ansprache gehalten werden muss", witzle ich als Antwort darauf, um meine Verlegenheit zu überspielen, die zusammen mit einem neuen Schub Motivation die Unschlüssigkeit verscheucht.

„Ha! Da ist der Harry, den ich kenne, wieder."

Die Augen des Wuschelkopfes funkeln und das breite Grinsen ist zurück auf seine Lippen gekehrt. Es steckt mich an. Schon immer.

Mein langjähriger Freund klopft mir herzlich auf die Schulter, bevor er die Tür aufschließt und sie geräuschlos ausschwingt.

Von nun an bin ich ganz bei ihnen und beteilige mich angeregt an den Gesprächen, scherze und lache laut.
Ich vergesse mich selbst und bin mir trotzdem so nah, trotzdem ganz ich, wie schon lange nicht mehr. Ich lebe. So lange, habe ich darauf gewartet, so lange danach gesehnt und so lange nicht gefühlt.

Hier bin ich zuhause.

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