Reiten

Es dauert eine ganze Weile, bis wir durch die Stadt nach draußen gelangen. Schließlich ist die Hauptstadt groß. Die Sonne brennt stark und heiß auf uns nieder, weshalb Sterling mir ein weißes Tuch gereicht hat, das ich mir um den Kopf gewickelt habe, genau wie der Prinz und Sterling selbst. Ein wenig hilft es zumindest.

Die Menschen auf den Straßen starren uns an, während wir vorbei reiten. Oder besser gesagt: sie starren den Prinzen an. Ich muss zugeben, dass er in seiner schwarzen Lederkleidung auf dem ebenso schwarzen Pferd eine beeindruckende Erscheinung abgibt. Wie ein Prinz aus der Hölle, der die Apokalypse einleitet.

Mein Pferd Aurelia trottet brav hinter dem Prinzen her, doch ich spüre ihre Unruhe. Sie rührt nicht von den Menschen um uns herum, nein, sondern von mir.
Trotzdem macht sie keinen Versuch, mich abzuschütteln. Ihr wurde wohl schon von früh an bedingungsloser Gehorsam eingeimpft. Sterling hat sich bereits kurz nach den Ställen hinter mich fallen lassen. Dabei musste er sich keine Sorgen machen, dass ich vom Pferd springen würde. Nein, hier in der Stadt würde mir eine Flucht nicht so gut helfen wie draußen in der Wildnis. Dort, wo ich mich auskenne und schneller als der Wind zurück zu meinem Königreich finden würde.

Es kommt mir vor, als dauert es Stunden, bis wir endlich das Stadttor erreichen. Die Wachen erkennen den Prinzen und lassen uns nickend vorbei. Innerlich bin ich ganz aufgeregt, während Aurelia gehorsam hinter dem Hengst des Prinzen hertrottet und mich der Freiheit immer näher bringt. Doch ich lasse mir von meiner Aufregung nichts anmerken, sondern blicke nur stoisch geradeaus. Ein Meter noch. Und dann...bin ich plötzlich durch das Tor hindurch. Obwohl es auch hier vor Menschen wimmelt, da das hier die Randstadt ist, fällt eine tonnenschwere Last von meinen Schultern.

Frei. Ich bin endlich frei. Tief atme ich die warme Luft ein und gestatte es mir sogar kurz, die Augen zu schließen und die Leichtigkeit in meinem Herzen zu genießen. Ich kann es gar nicht erwarten, endlich auch aus der Randstadt, aus dem ganzen Königreich nach draußen zu gelangen und endlich flüchten zu können. Das wird nicht weiter schwer sein. Schließlich kennen die beiden nicht mein Geheimnis.

Wir reiten schweigend weiter, während die Sonne über den blauen Himmel wandert. Ab und an machen wir eine kleine Pause, um die Pferde und auch uns selbst trinken zu lassen.
Während einer solchen Pause erwische ich den Prinzen dabei, wie er mich durchdringend anstarrt. Zwar sieht auch Sterling immer wieder zu mir her, aber wachsam, und nicht so intensiv wie der Prinz.
Ich tue so, als würde mich sein Blick nicht berühren, mich nicht im Inneren nervös werden lassen und hebe kühn eine Augenbraue.

"Habe ich was im Gesicht?", frage ich provozierend kalt.

Seine Lippen verziehen sich schmunzelnd.
"Du bist schon lange nicht geritten", sagt er.

Einzig mein Blinzeln verrät meine Überraschung über diesen Themenwechsel.
Vermutlich versucht er, Informationen aus mir herauszuholen, indem er mich überrumpelt. Ein kluger Schachzug bei einem anderen. Aber nicht bei mir.
Ich lasse ein sarkastisches Lächeln aufblitzen.

"Was ja ein solches Wunder ist angesichts des ganzen Jahres, das ich in der Arena verbracht habe und wo ich nicht einmal ein Pferd zu Gesicht bekommen habe."

Er ignoriert meinen Sarkasmus und legt lediglich den Kopf leicht schräg, während er mich nachdenklich mustert.

"Es ist mehr als das. Du machst nicht den Eindruck, dass du sehr oft geritten bist, so wie es die Nomaden tun."

Etwas in mir wird ruhig. Gefährlich ruhig. Ich sehe ihm in die Augen, die aus dieser Nähe so schwarz wie Obsidian aussehen, sodass man kaum Iris von Pupille unterscheiden kann. Sie scheinen jedes Detail in sich aufzusaugen, während er mich eindringlich mustert. Als wären sie nur schwarze Löcher, in denen alles verschwindet. Auch meine bestgehüteten Geheimnisse. Auf einmal wird mir bewusst, dass ich besser aufpassen muss. Auf keinen Fall darf ich ihn unterschätzen. Wenn er mich länger und öfter so intensiv betrachtet, kommt er wirklich noch hinter meine Geheimnisse. Und das darf er nicht. Nicht, bevor ich zumindest weit weg von ihm bin.
In dieser Zeit muss ich ihn auf eine falsche Fährte locken.

Denn er hat offensichtlich eine gute Beobachtungsgabe. Des Öfteren bin ich unbehaglich im Sattel herumgerutscht, zu lange ist es her. Die steifen Beverungen nach dem Absteigen kann man vielleicht auf das Jahr ohne jegliche Zeit zum Reiten schieben, aber die anfängliche Unsicherheit? Es hat gedauert, bis ich mich wieder an alles erinnert und gewöhnt habe. Bei einem Nomaden wäre das nicht der Fall gewesen.

"Nicht alle Nomaden sind so wohlhabend, dass sie genügend Reittiere haben."
Ich zucke nonchalant mit den Schultern, als würde ich diesem Gespräch keine Bedeutung beimessen, nicht wissen, dass es ein Verhör ist.
Langsam wandert sein dunkler Blick wieder zu meinem Gesicht und seine Mundwinkel verziehen sich leicht zu einem freudlosen Lächeln.

"Natürlich nicht. Aber Nomaden sind nicht egoistisch, sie leben in einer engen Gemeinschaft und teilen sich alles. Also selbst wenn eine Gruppe von Nomaden nur ein einziges Reittier hat, wird jeder es abwechselnd reiten dürfen."

Interessant. Woher weiß er das? Denn es stimmt. Ich bin öfters auf Nomaden gestoßen und kenne daher ihre Kultur. Sie sind besondere Menschen. Sie haben sich an ihre Umgebung angepasst, kommen daher mit wenig aus, haben gerade so viel, dass es zum Leben reicht. Obwohl manche in den Königreichen sie als Wilde sehen, weil sie in der Wildnis umherstreifen, sind sie das nicht. Nein, sie haben Werte und Traditionen, wie die Gastfreundschaft, der enge Zusammenhalt unter ihnen, ihre Hilfsbereitschaft….sie mögen in der Wildnis leben, aber sie sind nicht wilder als Stadtbewohner.
Tatsächlich kommt es mir eher so vor, als seien es die Zivilisten, die die Wilden sind. Man merkt es nur nicht, weil sie gelernt haben, ihre wilden Züge unter einer Fassade zu verstecken.

Deshalb schätze ich es dort draußen so sehr. Die Wildnis versteckt nicht ihr Wesen vor einem. Wenn ein Jaguar dich töten will, tut er dies nicht mit einem süßen Lächeln. Nein, er zeigt dir die Zähne. Er ist aufrichtig. Von vielen Menschen kann man dies nicht behaupten.
Aber wie kommt es, dass ein Zivilist - mehr noch, ein Prinz - von den Traditionen und den Werten der Nomaden weiß?
Ich habe das Gefühl, dass er meinen Geheimnissen immer näher kommt, während ich bei ihm im Dunkeln herumstochere und allmählich merke, dass diese Dunkelheit voller Geheimnisse noch weiter reicht als gedacht.

Ich schweige, während ich ihm nun genauso eindringlich in die schwarzen Augen blicke wie er mir. Einen Moment lang starren wir uns nur an. Alles andere ist vergessen: die Hitze, die Menschen um uns herum, die verschiedenen Gerüche nach Essen, Parfüm und Wüste. Es gibt nur ihn und mich und die Geheimnisse, die zwischen uns stehen und die wir unbedingt enthüllen wollen.

"Wie kommt es", frage ich langsam und gedehnt, "dass ein Prinz solche Dinge weiß?"

Er lächelt mich böse an, legt plötzlich die Feldflasche auf den Sattel seines Pferdes und macht einen Schritt auf mich zu. Etwas in mir will unwillkürlich zurückweichen. Da ist ein Funkeln in seinem Blick...ein Funkeln, das mir sagt, dass mit ihm gar nicht zu spaßen ist. Aber wenn man zurückweicht, signalisiert man Schwäche. Man macht sich zur Beute. Und ich bin keine Beute. Ich bin das Raubtier.

Also richte ich mich hoch auf, ziehe die Schultern zurück und recke das Kinn, während er die letzten paar Schritte zu mir zurücklegt, sodass er nun ganz nah ist. Ich kann seine Wärme spüren. Und so nah vor ihm, wird mir plötzlich bewusst, wie groß er eigentlich ist. Obwohl ich selbst stolze 1,76 Meter messe. Es gefällt mir nicht, das Kinn heben zu müssen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Dennoch tue ich es, damit er den Kampfgeist und den trotzigen Willen in meinen Augen sehen kann. Damit er weiß, dass er mich nicht einschüchtert.
Er betrachtet einen Moment lang den Ausdruck in meinen Augen, bevor sein einer Mundwinkel amüsiert zuckt.

Dann wird er wieder ernst und beugt sich leicht zu mir hinunter. Plötzlich sind sich unsere Gesichter so nah, dass ich seinen Atem auf den Lippen spüren kann. Ich beiße die Zähne zusammen. Er dringt für meinen Geschmack zu sehr in meinen persönlichen Raum ein. Dennoch stoße ich ihn nicht zurück. Ich kann selbst nicht genau sagen, warum.

"Warum ich über all das bescheid weiß?", fragt er nach, während er mir tief in die Augen schaut, und förmlich auf eine Reaktion wartet, als er sagt:
"Weil ich es bevorzuge, über meine Feinde bescheid zu wissen. Wie sagt man so schön? Sei deinen Freunden nah, doch deinen Feinden noch näher."

Oh, ich weiß, was er damit sagen will. Ich bin seine Feindin und er wird auch über mich alles erfahren. Zumindest glaubt er das. Aber er missachtet, dass ich keine gewöhnliche Feindin bin. Allerdings habe ich nicht vor, ihm das auf die Nase zu binden.
Also lächle ich nur zuckersüß und frage:

"Und wie nah wäre das?"
Ein spöttisches Lächeln bildet sich ganz leicht auf seinem Gesicht.
"Nah genug, um alles herauszufinden, was ich brauche."

"Und wer sagt, dass deine Feinde das zulassen?"

Sein einer Mundwinkel hebt sich arrogant.
"Ich kenne Mittel und Wege, um zu bekommen, was ich will."

Einen Moment lang betrachte ich ihn stumm. Dann lächele ich.

"Interessant", flüstere ich. "Ich nämlich auch."

Und damit drehe ich mich um, und gehe zu Aurelia zurück. Zeige ihm demonstrativ meinen Rücken, obwohl man seinem Feind nie den Rücken zukehrt. Aber vielleicht ist es an der Zeit, zu spielen. Und Risiken einzugehen, um am Ende als Sieger aus dem Spiel hervorzugehen.

Zwischen meinem Pferd und Stelluna steht Sterling und betrachtet uns beide wachsam. Ich frage mich, was er wohl zum Plan des Prinzen sagt. Ob er ihm dazu geraten hat? Wobei….nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass der Prinz auf andere hört. Er scheint mir der Typ zu sein, der seine Entscheidungen alleine trifft. Ohne sie vorher jemandem zu verraten. Ob ich es will oder nicht, wir scheinen uns in ein paar Dingen zu ähneln.

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