Der Aufbruch

Ich werde durch die dunklen Gänge des Palastes geführt, um mich für die Mission herzurichten. Unauffällig mustere ich die steinernen Wände, die kalt und abweisend dastehen. Doch das ist es nicht, was mich beunruhigt. Nein, was mich wirklich stört, ist diese Ahnung, dass etwas in diesen Wänden lauert, etwas, das mich beobachtet, mich mustert. Etwas Dunkles und Gefährliches, das wie ein Raubtier auf der Lauer liegt. Ich bin es nicht gewohnt, dieses Beutegefühl zu haben.

Normalerweise bin nämlich ich das Raubtier, das geduldig auf den richtigen Moment wartet, um zuzuschlagen.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als die Wache vor mir anhält und an eine Tür klopft. Kurz darauf macht auch schon eine Frau in einem schlichten Dienergewand aus einem weißen Rock und einer weißen Bluse auf. Sie hält den Blick gesenkt und macht einen Knicks.

"Wie kann ich Ihnen helfen?", fragt sie, während man hinter ihr die leisen Stimmen von anderen Frauen und sanftes Wasserrauschen hören kann.

"Badet diese Frau hier und kleidet sie ein. Sie soll praktische Reitklamotten tragen."
Der Wachmann klingt ausdruckslos, als er diesen Befehl von sich gibt. So, wie alle Wachen hier und vermutlich auch in den anderen Königreichen. Mir hat das noch nie gefallen. In meinem Königreich gibt es zwar auch eine Hierarchie, aber jeder  behandelt jeden mit Respekt und auf gleicher Ebene. Wir wissen, dass jede Aufgabe und scheint sie noch so nichtig zu sein, für alle wichtig ist und sie ausgeführt werden muss. In diesem Königreich hatte ich schon öfter das Gefühl, dass manche das vergessen.
Die Dienerin nickt, noch immer ohne den Blick zu heben. Ich bemerke, wie etwas in mir sie am liebsten auffordern würde, dem Wachmann ins Gesicht zu sehen, sich nicht so offensichtlich auf eine niedrige Stufe zu stellen. Doch ich unterlasse es. Alles hat eine richtige Zeit und den richtigen Ort. Das hier ist er nicht.

Das Mädchen macht eine Handbewegung und winkt mich in den Raum. Als ich eintrete, sehe ich mich neugierig um. Bequemlich aussehende Sofas sind aufgestellt, mit rotem Samt überzogen. Gemälde hängen an den Wänden und überall sind Sonnenflecken zu finden, dieses lichtspendende Gestein. In der Decke, in den Wänden und selbst im Boden, sodass der Raum hell und freundlich erleuchtet wird. Dennoch meine ich die Präsenz von etwas Dunklem zu spüren. Das Raubtier aus den Gängen, das mir folgt und mich bewacht.

Vielleicht hätte ich an meinem Bauchgefühl gezweifelt, hätte diese Ahnung, beobachtet zu werden, als bloße Einbildung abgetan, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich mich voll und ganz auf meine Instinkte verlassen kann. Zu oft haben sie mir das Leben gerettet.

Also bleibe ich weiterhin wachsam, während die Dienerin die Tür schließt, mir bedeutet, ihr zu folgen und mich durch den Durchgang an der Seite in einen anderen Raum führt. Während ich ihr folge, frage ich mich, ob der Prinz mir einen Spion auf den Hals gesetzt hat. Wahrscheinlich. Es ist offensichtlich, dass er mir nicht traut. Ich an seiner Stelle würde mich auch nicht unbeobachtet lassen. Doch was ist das für ein Raubtier, das mich taxiert und mir in den Raum voller aus dem Stein gehauenen Badewannen folgt? In manchen liegen Frauen, die sich von weiteren Dienerinnen die Kopfhaut massieren lassen. Die anderen sind nicht besetzt.

Und obwohl auch dieser Raum hell beleuchtet ist und das Ambiente durch die helle Einrichtung, durch das sanfte Wasserrauschen von einem Springbrunnen in der Mitte und durch das gelegentliche leise Lachen und die sanften Stimmen der Frauen recht positiv erscheint, kann ich mich nicht entspannen. Denn selbst hier schwindet das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht. Wie ein Schatten folgt es mir. Ich blicke mich um, kann jedoch nichts erkennen. Was auch immer mir folgt, mich taxiert, es bleibt unsichtbar.

Das Mädchen führt mich zu einer unbesetzten Badewanne und beginnt, sie mit dem Wasser aus dem Springbrunnen zu füllen. Eimer für Eimer füllt sie und gießt ihn in die Badewanne. Als diese schließlich recht gut gefüllt ist, deutet sie auf meine Klamotten.
"Bitte zieht Euch aus, damit ich Euch baden kann." Ihre Stimme klingt so unterwürfig, dass in mir der Drang empor kommt, sie zu schütteln, auch wenn ich weiß, dass es nicht ihre Schuld ist. Benimmt man sich nicht, wird man bestraft. Sie muss sich so verhalten, um zu überleben. Dieses Wissen lässt mich die Zähne zusammenbeißen, doch ich sage nichts, sondern leiste ihrer Bitte Folge.

Vielleicht sollte ich Schamgefühl haben. Doch ich bin in der Wildnis aufgewachsen und dort gibt es den Luxus von Schamgefühl nicht. Also steige ich in das Wasser, das eigenartigerweise warm ist. Angenehm, bin ich doch kaltes Wasser gewöhnt, von der Wildnis und der Arena. Genauso wie ich es gewohnt bin, mich um mich selbst zu kümmern. Deshalb behagt es mir gar nicht, als ich die schlanken Hände der Dienerin mein Haar berühren spüre.
Ruckartig drehe ich den Kopf herum.

"Das mache ich." Mein Ton ist scharf, duldet keinen Widerspruch. Das arme Mädchen zuckt erschrocken zusammen, aber das ist mir egal. Ich lasse aus gutem Grund niemanden nah an mich heran, habe es selbst früher in meinem Königreich nicht gerne getan. Nur, wenn es nötig war. Aber tatsächlich bekomme ich es gerade noch hin, mich selbst zu waschen. Ganz sicher werde ich nicht in meiner Wachsamkeit nachlassen, besonders nicht hier.

Das Mädchen schluckt schwer und einen Moment lang denke ich, dass sie etwas sagen will. Ihr Mund öffnet sich, doch dann flattert ihr Blick kurz zu mir auf, als spüre sie mein Starren. Ein Blinzeln später sieht sie wieder nach unten und murmelt ergeben: "Wie Ihr wünscht."

Diese kleine Meinungsverschiedenheit hat die Aufmerksamkeit der anderen Damen hier auf uns gezogen, doch das interessiert mich nicht. Stumm nehme ich die Seifen und Badeutensilien und wasche mich. Ich mag in einem anderen Königreich sein, aber das heißt nicht, dass ich mich an deren Gepflogenheiten anpassen muss. Ich bin noch immer Königin des Ghost Kingdoms und werde meine Herkunft nie vergessen. Und wenn es dabei nur um so kleine Dinge geht, wie sich um sich selbst zu kümmern.

Nachdem ich fertig bin, bringt das Mädchen mir ein großes weiches Badetuch und führt mich durch eine Tür in ein angrenzendes Zimmer, wo sie mich mit einem Blick prüfend mustert, als wolle sie meine Kleidergröße schätzen. Dann legt sie mir passende Reitklamotten aus Leder bereit. Ich trockne mich ab und ziehe die Klamotten an. Sie passen wie angegossen. Dieses Mädchen hat ein gutes Auge. Als ich fertig angezogen bin, reicht sie mir eine Bürste, anstatt sich selbst meinem Haar anzunehmen. Sie hat aus ihrer Lektion gelernt. Während ich mir das Haar brüste, lasse ich das Mädchen nicht aus den Augen. Mit vor den Bauch gefalteten Händen und gesenktem Blick wartet sie, bis ich fertig bin.

Danach reicht sie mir ein Lederband, mit dem ich mir mein Haar zusammenbinde. Die ganze Zeit reden wir nichts. Dabei hätte ich erwartet, dass man sie anweist, mich zum Reden zu bringen, etwas von mir zu erfahren. Aber nein.
Nachdem ich endgültig fertig bin, geleitet sie mich durch den Badebereich, wo die anderen Frauen mich neugierig betrachten. Während der ganzen Zeit ist das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht von mir gewichen. Unauffällig betrachte ich die Frauen, die Dienerinnen, die sich um sie kümmern. Aber mein Instinkt sagt mir, dass es nicht sie sind, die mich beobachten. Nein, wie auf dem Gang, scheinen die Wände selbst Augen zu haben. Geheimgänge? Aber ich kann keine Löcher erkennen...seltsam.

Die Dienerin öffnet die Tür für mich und ich trete nach draußen. Meine Wache betrachtet mich kurz, nickt und führt mich dann wieder durch die Gänge des Palastes. Und wieder folgen mir unsichtbare Augen, still und wachsam.
Ich habe mich schon vielen Gegnern stellen müssen. Jeder hat letztendlich eine Schwachstelle. Doch es ist erheblich schwerer, diese herauszufinden, wenn man nicht weiß, wer sein Gegner ist.
Nun denn. Mal sehen, ob dieser Gegner auch den Palast verlassen wird, um mir zu folgen. Mal sehen, ob er den Mut - oder die Dummheit - dazu besitzt.

Nicht viel später und ich befinde mich in einem Stall. Der Geruch von Pferd und Heu sowie Leder steigt mir in die Nase. Links und rechts stehen prachtvolle Pferde in ihren Boxen und dort vorne, neben einer offen stehenden Tür links, die Tageslicht hereinfallen lässt, stehen der Prinz und Sterling.
Hinter ihnen, an die letzte Box vor der Tür gebunden, stehen drei Pferde. Das eine schwarz wie die Nacht, das daneben so silbrig wie Mondlicht und das letzte golden wie die Sonne. Unterschiedlicher hätten sie nicht sein können.

Die dunklen Augen des Prinzen treffen hart und kühl auf meine.
"Endlich." Seine samtweiche Stimme ist ausdruckslos. "Jetzt, wo alles vorbereitet ist, können wir aufbrechen."

Vorbereitet. Als gehörte auch ich zu einer Sache, die man vorbereitet. Nicht zu einer Person, die entscheidend für diese Mission ist.
Anstatt mich jedoch von ihm provozieren zu lassen, schenke ich ihm nur ein zuckersüßes Lächeln und steuere auf die Pferde neben ihnen zu.
Sie tänzeln nervös mit den Hufen und schnauben, weichen aber nicht vor mir zurück. Es ist offensichtlich, dass sie das Raubtier in mir spüren, die Gefahr, die von mir ausgeht. Aber sie bleiben, wo sie sind. Dafür haben sie meinen Respekt verdient.
Nur wenige Zentimeter bleibe ich vor ihnen stehen. Sehe ihnen allen in die Augen.

Und was ich dort erkenne, gefällt mir: Mut und Kampfeswillen, Wachsamkeit und Intelligenz.
Ihre muskulösen Körper zeugen auch von Schnelligkeit. Es müssen die besten Pferde sein, die sie in den Stallungen hier haben.
Sie sind bereits gesattelt und Proviant, sowie Waffen sind an den Datteln befestigt.
Nun, zumindest an zwei Satteln. Das goldene Pferd trägt nichts. Ein Schmunzeln schleicht träge um meine Mundwinkel. Wäre auch zu einfach gewesen.

"Ich vermute, das goldene ist meins?", frage ich.
"Sie heißt Aurelia", antwortet mir Sterling.
"Die silberne ist Stelluna und der schwarze heißt Nocto."

Ich nicke. Ich brauche nicht zu fragen, wer welches Pferd reiten wird. Es scheint mir offensichtlich zu sein, dass der schwarze Hengst, der mich aus dunklen Augen anstarrt, zum Prinzen gehört.
Die Nacht selbst scheint ihn hervorgebracht zu haben. Anders als die zwei anderen Stuten scheint er nicht nervös zu sein. Als sei er schon ganz anderen Raubtieren begegnet. Ein beeindruckendes Tier.

"Nur damit das klar ist…" Ich habe gar nicht bemerkt, wie der Prinz nahe an mich herangetreten ist. Ruckartig drehe ich mich um und sehe mich ihm nur wenige Zentimeter entfernt. Wieso habe ich ihn nicht gehört? Er muss sich wie ein Schatten bewegt haben.
Seine dunklen Augen halten mich fest, während er mich mit leiser Stimme warnt:

"Du kannst versuchen zu fliehen, aber es wird dir nichts nützen. Die Tiere hören nicht auf dich, sondern nur auf diejenigen, die sie auch wirklich als Reiter akzeptieren."
Er und Sterling, keine Frage.
"Wir werden nur zu dritt reiten, um weniger aufzufallen. Du kannst jetzt aufsteigen."

Er nickte zu Aurelia hin.
Doch ich betrachte ihn noch einen Moment lang nachdenklich. Es ist ein Risiko für einen Prinzen, ohne Schutz auf eine solche Mission zu gehen.
Was verbergen er und Sterling, dass sie sich so etwas trauen?
Was es auch ist, ich nehme mir vor, es zu erfahren. Aber zuerst will ich aus diesem Königreich hinaus.
Also binde ich Aurelias Zügel vom Holz ab und schwinge mich in den Sattel. Es ist lange her, dass ich auf einem Pferd geritten bin, aber ich erinnere mich noch daran.

Als Sterling und der Prinz vorausreiten, folgt Aurelia ihnen, ohne dass ich etwas tun muss.
Helles Sonnenlicht blendet mich, als wir aus dem Stall reiten. Und als wir so auf den Pferden sitzen, gestatte ich mir ein kleines Lächeln. Bald werde ich wieder Freiheit schmecken können. Bald.

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