prolog | ↠ but these days I don't even know myself

       

prolog | but these days I don't even know myself

08. August 2017 | Paris


Manche Momente werden einen bis an dein Lebensende jagen. Sie erinnerten einen daran, wie vergänglich die Ewigkeit ist und das eine bestimmte Sekunde eine Ewigkeit dauern kann.

Während ich in seine blauen Augen sah, so fremd und dennoch so vertraut, vermisste ich vergangene Momente. Momente, die ich bereits vergessen hatte und die mein Herz dennoch nie loslassen würde.

Seine Stimme, in meiner Erinnerung omnipräsent, war der Soundtrack meines Lebens und gleichzeitig mein Untergang.

„Eleanor, möchtest du noch etwas Wein?", fragt er lächelnd und nickte in Richtung des teuren Getränks, das wahrscheinlich die Hälfte meiner Miete kostete.

Ich hasste diesen Namen, doch auf eine Weise liebte ich ihn zugleich. Er erinnerte mich daran, dass ich kein kleines Mädchen mehr war. Er rief mir in Erinnerung, dass ich gewachsen war. Ich hatte Stolpersteine der Vergangenheit hinter mir gelassen und war in eine glücklichere Zukunft gestartet.

Ich war erwachsen geworden. Auch wenn ich das nie gewollt hatte.

„Sehr gerne."

Ein sanftes Lächeln legte sich auf meine Lippen, während ich ihm dabei zusah, wie er die Karaffe anhob, die bestimmt ebenfalls ein Vermögen kostete und mein Glas nachfüllte. Es war bereits mein viertes am heutigen Abend, dennoch war das mulmige Gefühl in meinem Bauch nicht geringer geworden. Als ahnte ich unbewusst bereits, dass er alles andere als gewöhnlich war.

„Vielen Dank", meinte ich, als er mir das Glas reichte und nahm einen großen Schluck. Der Wein schmeckte seltsam bitter auf meiner Zunge, aber ich hatte mir sagen lassen, dass das durchaus gewollt war. Vielleicht passte das Getränk auch deswegen so gut.

Außer uns beiden befanden sich nicht viele andere Gäste in dem Raum, weswegen uns die volle Aufmerksamkeit der Kellner zuteilwurde, die sprangen, sobald wir auch nur einen Finger hoben.

Es wunderte mich, dass er mir überhaupt hatte einschenken können, bevor ihm einer der Bedienungen die Karaffe aus der Hand reißen konnte.

„Der Ausblick ist wunderschön, oder?", meinte er und nahm lächelnd meine Hand in seine. Sein Daumen strich sanft über meine Haut und jagte mir eine Gänsehaut über den Arm.

Mein Blick glitt aus den bodenhohen Fenstern des Restaurants, in das er mich heute Abend ausgeführt hatte. Wir befanden uns über den Dächern Paris, nicht weit vom Eifelturm entfernt. Ich konnte das Licht der Stadt der Liebe beobachten, das so hell strahlte, als wollte es alle Sorgen der Welt vertreiben. Einzelne Autolichter bewegten sich tanzend durch die Nacht, als wollten sie für Glühwürmer gehalten werden.

Hier über den Dächern Paris kam mir die Stadt unendlich weit weg vor und dennoch so nah, als würde ich nur die Fingerspitzen gegen das kühle Glas legen müssen, um all seine Liebe in mir aufnehmen zu können.

Ich wusste, wie es sich anfühlte, jemandem mehr zu lieben als sich selbst. Wie wunderschön und qualvoll es war, sein Herz an eine andere Person zu verlieren. Stets die Angst, für immer zerstört zu werden und die Hoffnung, endlich die Bestimmung des Lebens gefunden zu haben.

Paris erinnerte mich an diese alleszerreißende, alles überstrahlende Liebe, die man nur einmal im Leben spüren würde.

Louis liebte Paris, weswegen sich die Stadt im Laufe der Zeit ebenfalls in mein Herz geschlichen hatte.

Meine Finger zuckten in Richtung der Glasscheibe, doch ich wagte es nicht, sie wirklich zu berühren. Denn eine Berührung könnte mir die grausame Wirklichkeit wieder vor Augen führen und Illusionen platzen lassen. Käfigtüren schließen und mein Herz einsperren, welches so dringend, so verzweifelt lieben wollte.

„Wirklich wunderschön", wisperte ich lächelnd, ohne meinen Blick von dem Wunder vor meinen Augen abzuwenden. Paris leuchtete und ich strahlte mit ihr.

„So wie du, Eleanor", meinte er mit sanfter Stimme. Noch immer liebkosten seine Finger meine Handfläche und ich wusste, dass er ein Lächeln auf den Lippen trug, auch ohne ihn ansehen zu müssen.

Dieses Lächeln in seinem Gesicht wäre fast zu perfekt und ich wollte nicht, dass es das wunderbare Kribbeln in meinem Bauch zerstörte, in dem ganze Schmetterlinge einen Marathon flogen. Als würden sie mich zum Fliegen animieren wollen. Hoch in den Himmel sollte ich starten, meine Flügel ausbreiten und die Luft in meinen Haaren spüren, während ich die Endlichkeit lebte.

Meine Schmetterlinge glaubten noch an die Illusion, während mein Verstand schon vor langem die Wirklichkeit erkannt hatte.

„Schmeckt dir der Wein?", fragte er nicht zum ersten Mal heute Abend. Ich hatte ihn noch nie so nervös gesehen und es machte mir Angst.

„Ja, er ist wirklich lecker", wiederholte ich mit einem sanften Lächeln und nahm einen weiteren Schluck.

Leichter Regen begann, gegen die Fensterscheiben zu tropfen. So leise, dass man ihn nur hören konnte, wenn man sich darauf konzentrierte und den Rest der Welt ausblendete. Wenn man sich darauf einließ, auch die kleinsten Momente zu schätzen zu wissen und zu genießen.

Ich liebte Regen, doch auf seiner Stirn bildeten sich sorgenvolle Falten.

„Alles in Ordnung?" Fragend sah ich in seine blauen Augen, die ein Stück ihres Strahlens verloren hatten.

„Alles bestens", versicherte er mir eilig. So hastig, dass sich ein Grinsen in meinem Gesicht bildete, denn ich erkannte die Lüge.

„Willst du mir erzählen, was wirklich los ist?"

Er schüttelte so vehement den Kopf, dass er beinahe gegen die Wand stieß und erinnerte mich damit so schmerzlich an den Louis, den ich vor langer Zeit einmal kannte.

Mit einem traurigen Lächeln strich ich ihm durch die Haare, woraufhin er die Augen schloss und sich meiner Berührung hingab.

„Du lässt mich Dinge fühlen, die kein anderer je in mir hervorgerufen hat. Weißt du das eigentlich, Eleanor?", flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.

Mein Herz klopfte wie verrückt, als wollte es sich in den strömenden Regen stürzen und die Schmetterlinge dazu ermuntern, mich doch zum Abheben zu bewegen. Doch ich blieb auf diesem teuren Stuhl in dem luxuriösen Restaurant in Paris sitzen und bewegte mich keinen Zentimeter.

Vorsichtig nahm ich seine Hand in seine und klammerte mich an ihn, als wäre er meine Rettungsleine in dieser hellen Nacht, die immer dunkler wurde. Doch je mehr Regen vom Himmel viel, desto befreiter fühlte ich mich. Als würden die nassen Tropfen die schwere meines Herzens auslöschen, bis irgendwann nur noch eine Wiese strahlender Gänseblümchen über blieb.

Es gab Zeiten, da hatte ich jeden Monat eine dieser Blumen auf meinem Nachtisch vorgefunden, weil ich sie so liebte. Diese Zeiten waren längst vergangen.

Statt eines liebvollen gepflückten Straußes nach dem Aufwachen, begrüßte mich nun Morgens ein unangenehmes Schnarchen und das Gefühl, der Person neben mir nie wirklich nahe kommen zu können.

„Wie hast du dieses Restaurant entdeckt?", fragte ich ihn, um Konversation zu betreiben. Ich konnte die Stille nicht mehr ertragen, die schon den ganzen Tag zwischen uns herrschte.

Er dachte, die Reise nach Paris sei eine gute Idee, um uns ganz auf unsere Beziehung zu konzentrieren und den Rest der Welt zu vergessen. Doch ich realisierte schon nach den ersten zwei Stunden in der Stadt der Liebe, dass man manchmal aufhören sollte, etwas an die Oberfläche zu holen, was nie existieren würde.

Jede Minute redeten wir weniger, jede Stunde wurden wir uns fremder, jeder Tag hauchte mir ein bisschen mehr Leben aus.

Mittlerweile hatten wir bereits fünf Tage unseres wöchentlichen Trips hinter uns gebracht und ich fühlte mich, als würden mich nur noch Zentimeter vom Abgrund trennen. Doch vielleicht war der tiefe Fall sogar die bessere Alternative, wenn ich dadurch seinen Blicken entkommen könnte.

„Das Restaurant wurde in jeglichen der Ratgeber als das Beste der Stadt ausgezeichnet", erzählte er mir und runzelte dann die Stirn. „Eleanor, hast du die Bücher denn gar nicht gelesen? Ich hatte sie dir extra auf deinen Nachtisch gelegt."

„Entschuldige", murmelte ich. „Ich musste Überstunden machen."

Ich hatte wirklich viel Stress gehabt, doch das war nicht der Grund, warum ich keinen Blick in die Bücher geworfen hatte. Es hatte mich schlichtweg nicht interessiert. Ich war kein Mädchen der Planung. Das Abenteuer suchte mich und ich suchte das Abenteuer.

Er runzelte erneut die Stirn. „Du weißt doch, dass du kürzer treten kannst. Ich will nicht, dass du dich überarbeitest, Eleanor. Ich habe ohnehin genug Geld für uns beide."

Kurz sah ich in die blauen Augen, die ganze Welten halten konnten, jedoch nicht meine Welt.

„Und du weißt, dass ich mich nie von einem Mann abhängig machen werde. Außerdem macht mir die Arbeit Spaß." Meine Stimme klang nicht wütend, sie klang bloß noch hohl. Die Wut war schon vor langer Zeit verschwunden und irgendwie machte es das nur noch schlimmer.

Die Schmetterlinge in meinem Bauch flogen wieder, flehten mich an, zu fliegen und dennoch entschied ich mich, am Boden zu bleiben.

Der Boden war sicher, er war verlässlich und er verhinderte einen tiefen Fall. Denn jeder Flug fand irgendwann sein Ende. Und wenn man dann fiel, dann konnte man nur hoffen, jemanden zu finden, der einen auffangen würde.

Mein leiser Tonfall schien ihn zu besänftigen, denn er schenkte mir ein Lächeln. Ich erwiderte es, doch meines erreichte nie meine Augen. Schon lange nicht mehr.

„Auf jeden Fall ist dieses Restaurant mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden", griff er unsere vorherige Unterhaltung wieder auf. „Es ist wundervoll, nicht wahr?"

Ich nickte stumm, denn wenn ich ehrlich war, dann war wundervoll nie im Leben eines der Worte, mit denen ich dieses Restaurant assoziieren würde. Steif, langweilig und überteuert standen als allererstes auf dieser Liste.

Doch vielleicht hatte ich auch einfach keine Ahnung vom Leben.

Vielleicht sollte es genauso sein und bloß mein Herz hatte es noch nicht begriffen.

Vielleicht sorgten die Erinnerungen, die ich verdrängte und dennoch willkommen hieß, immer wieder dafür, dass ich mich in die Illusion flüchtete.

Vielleicht war das hier das wahre Leben.

Womöglich stand Steif für Beständigkeit, Langweilig für Erwachsenwerden, und Überteuert für das Privileg, sich keine Gedanken um Geld machen zu müssen.

„Ja, es ist wirklich wundervoll", murmelte ich und zwang ein weiteres Lächeln auf meine Lippen.

Seine blauen Augen funkelten, als er seinen Blick zu meinen Lippen wandern ließ und ich beugte mich in seine Richtung.

„Küss mich", flüsterte ich. „Küsse mich, als hättest du nie etwas anderes im Leben gewolt."

Nur zu gerne kam er meiner Anweisung nach. Seine Hand umfasste vorsichtig meine Wange, während er seinen Mund sanft auf meinen legte.

Doch das reicht mir nicht. Ich wollte mehr. Zumindest für heute Abend.

Also schloss ich die Augen und ließ meine Zunge über seine Lippen fahren, bis er mir Einlass gewährte. Eine Sekunde lang folgte er mir, dann löste er sich und sah mich lächelnd an.

„Später, Eleanor." Er zwinkerte mir zu. „Später werde ich dich küssen, bis du an nichts anderes mehr denken kannst."

Ich hoffte, dass seine Worte wahr werden würden. Ich hoffte so sehr, dass ich beinahe anfing zu weinen.

„Bist du bereit? Ich habe bereits bezahlt." Seine Hand umfasste meine, während er mich vom Stuhl hochzog. „Wir sollten losgehen. Der Abend ist noch nicht zu Ende und ich habe noch einiges geplant."

Er half mir in meinen Mantel, so verführerisch rot, dass er meinem Lippenstift Konkurrenz machen könnte und ich bedankte mich lächelnd. Als Antwort drückte er meine Hand und ich strich mit meinem Daumen über seinen. Er grinste, als unsere Finger miteinander spielten und führte mich aus dem Restaurant.

Einer der Angestellten zauberte einen Regenschirm hervor, bevor wir durch den Eingang schritten und nur zu gerne nahmen wir diesen entgegen.

„Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen noch", meinte der Mitarbeiter mit einem professionellen Lächeln.

Wir erwiderten seine Wünsche und dann schritten wir hinaus in den mittlerweile prasselnden Regen. Der Schirm konnte nicht alle Tropfen abfangen und mit jedem einzelnen, der sich auf meine Kleidung irrte, meine Schuhe durchnässte und meinen Mantel dunkler färbte, fühlte ich mich ein Stück lebendiger. Als würde mich die Nässe, der sonst von allen so ungeliebte Regen, zurück ins Leben führen. Er ließ mich fühlen, als stände ich unter Strom. Er ließ mich Welt spüren, ließ sie mich sehen, auf eine Art und Weise, wie man es nur konnte, wenn in einem Erwachsenen immer noch das Herz eines kleinen Mädchens schlug. Mein inneres Kind war nie gestorben.

Ein Umstand, den der Mann an meiner Seite nie verstanden hatte. Anstatt mich den Regen genießen zu lassen, rückte er den Schirm zurecht, bis mich nur noch einzelne Tropfen erreichten und legte mich in Fesseln, während der Zauber nur eine Handbewegung von mir entfernt tobte. Die Magie war so greifbar nah, doch ich streckte meine Hände nicht hinaus. Aus Angst, Träume unter meinen Fingerspitzen fühlen zu können, die ich längst vergessen hatte.

„Wo gehen wir hin?" Fragend sah ich in seine blauen Augen, die heute eher dem grauen Himmel ähnelten. Dabei sollten sie strahlen wie das Meer, erwachen und sprühen vor Freude. Denn es regnete und wir lebten und wenn man die Augen schloss, dann war das Leben für einen Moment lang so wunderschön, dass es beinahe wehtat.

„Nicht weit." Er bedachte mich mit einem Lächeln.

Wir schwiegen, während wir durch die Straße der Stadt der Liebe liefen. Als hätte sie alle Liebe der Welt in sich aufgesaugt und keine mehr für uns übrig gelassen.

Wir gingen nicht weit, denn er hatte nicht gelogen. Natürlich hatte er das nicht. Eine Lüge war nie über seine Lippen geglitten, jedenfalls nicht, wenn es um mich ging.

Vor dem Eifelturm kamen wir zum Stehen und er räusperte sich, während er sich unsicher durch die dunkelblonden Haare fuhr.

„Kannst du vielleicht den Schirm mal kurz halten, Eleanor?"

Ich nickte stirnrunzelnd und nahm den Gegenstand von ihm entgegen. Nun war ich es, die uns beiden Schutz vor dem prasselnden Regen bot und diese Verantwortung ließ mein Herz ein Stück weiter sinken.

Als er vor mir auf die Knie ging, während die Pariser Nacht nur durch das Strahlen des Eifelturms vor uns erleuchtet wurde, wusste ich Bescheid. Er würde mir einen Antrag machen, wie er im Buche stand. Romantisch und auf eine Art, die tausenden von Mädchen das Herz höher schlagen lassen würde.

Es war zu klischeehaft, zu kitschig und überhaupt nicht ich.

Ich war das Mädchen, das im Winter Eis löffelte, während mir die Finger abfroren.

Ich war das Mädchen, das aus Spaß nackt durch die Straße rannte und dem die Blicke der Nachbarn vollkommen egal waren.

Ich war das Mädchen spontaner Entscheidungen, nicht das Resultat geplanter Ereignisse.

Ein Heiratsantrag in Paris passte nicht zu Eleanor Calder.

Dennoch lächelte ich zögerlich, als der Junge mit den strahlendblauen Augen zu mir hochsah und sich auf die Unterlippe biss, bevor er die ersten Worte in die Freiheit entließ. Sie kämpften, als wären sie lieber für immer ungesagt geblieben.

Doch der Junge gewann und die Worte flogen und ich weinte.

„Seit dem ersten Tag, an dem ich dir begegnet bin, habe ich gewusst, dass du die Liebe meines Lebens bist. Ich will jeden Morgen neben dir aufwachen und jeden Abend neben dir Einschlafen. Du bist diejenige, der mein Herz gehört." Er räusperte sich erneut, viel zu laut drang der Laut durch die Stille, die uns in den letzten Tagen umhüllte. „Willst du mich heiraten, Eleanor Calder?"

Ich zögerte nicht, denn plötzlich war ich mir sicher. Als hätte der Regen all die Unsicherheit weggewischt und mein Leben in bunte Farben gehüllt.

Die Worte kamen flüsternd über meine Lippen und mit solch einer Kraft, dass sie jedem Gewitter Konkurrenz hätten machen können. „Es tut mir leid, aber ich kann nicht."

Die Worte zerstörten sein Herz, während meines wieder atmen konnte.

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