2 | Senfgelb
Ein Monat später.
MUMS SENFGELBES AUTO steht wie bestellt und nicht abgeholt in der Straße. Zu Hause in Keswick war es immer wegen seiner außergewöhnlichen Farbe aufgefallen - hier in London fällt es viel mehr dadurch auf, dass es neben den ganzen teuren Karosserien geradezu nach einer Schrottkiste aussieht. Es passt einfach nicht hierher.
Insgeheim bete ich es wird mir nicht ebenso ergehen.
Vor einigen Wochen war Mum geradezu nach Hause geflogen und hatte mir den Brief in die Hand gedrückt. Den einen Brief, der alles verändern würde - zumindest hofften wir das. Denn Mum hatte eine Zusage aus London bekommen. Sie wollten sie am liebsten sofort einstellen, wir nahmen uns aber noch ein wenig Zeit, um den Umzug vorzubereiten und uns von unserer vertrauten Heimat zu verabschieden. Anfangs war ich fest davon überzeugt es würde mir leichter fallen als der alltägliche Klogang, doch als wir dann tatsächlich vor dem Roosevelt standen und die Tür ein letztes Mal ins Schloss fallen hörten, spürte ich eine Träne meine Wange hinunter laufen. Immerhin hatte ich meine gesamte Kindheit in dieser winzigen Kneipe verbracht.
Und jetzt sind wir hier. Besser gesagt: jetzt bin ich hier. In der kleinen Straße stehe ich, einen schönen Rock tragend, und beiße unschlüssig auf meiner Unterlippe herum. Und das bestimmt schon seit geschlagenen zehn Minuten. Das wird sicher einen einprägsamen ersten Eindruck bei meinen Mitschülern hinterlassen: die Neue mit der blutigen Lippe -und ohne Uhr.
In einer Sekunde des Mutes schlucke ich meine Nervosität herunter und steige in das Auto. Da Mum zu Fuß zur Arbeit geht, beschloss sie es mir für eine Weile zu borgen. Ich kann ihr dafür nicht dankbarer sein. Das Letzte was ich jetzt tun will, ist Bus fahren. Sicher ist Auto fahren in einer Großstadt tausend mal anstrengender als Busfahren, aber alles ist besser als die gelangweilten Gesichter und die viel zu lauten Gespräche ertragen zu müssen.
Die Navigation meines Handys weiß längst wo ich lang muss und zeigt mir die genaue Route an. Ich drehe die Lautstärke der Musik ein wenig herunter, um mich besser auf die Straße zu konzentrieren, und fahre langsam, vorsichtig aus der seitlichen Parklücke heraus. Na toll - und da werde ich nachher wieder einparken müssen. Es ist ja nicht so, dass ich mich vor seitlichem Einparken fürchte wie die Maus vor der Katze.
Doch, genau so ist es.
Seufzend raffe ich mich wieder zusammen und fahre los. Glücklicherweise befindet sich meine neue Schule in einem Viertel etwas außerhalb der Innenstadt. Ich muss also nicht durch die viel zu vollen, viel zu chaotischen Straßen.
Eine Weile fahre ich mit Zwanzig Tausend Volt Spannung in meinem Körper, entspanne mich jedoch mit jeder Sekunde mehr und mehr. Die Straßen sind ziemlich frei und gut gekennzeichnet, außerdem muss ich fast nur geradeaus fahren. Ich müsste ziemlich blöd sein, wenn ich das nicht hinbekommen würde. Ein selbstkritisches Lachen entfährt meinen Lippen.
Gerade will ich die Musik ein wenig lauter drehen, da lässt ein Hupen meinen Körper erschrocken zusammenfahren. Kerzengerade sitze ich da, starre in den Rückspiegel und frage mich, was ich möglicherweise falsch gemacht haben könnte. Doch bevor mir überhaupt etwas einfallen kann, sehe ich ihn rechts an mir vorbeiflitzen.
Echt jetzt? Ich war ihm zu langsam? Ein Blick auf mein Tacho verrät mir, dass ich weder zu schnell noch zu langsam fahre. Genau 50. Am liebsten würde ich losfluchen wie nichts Gutes - was bildet der sich ein?- aber stattdessen schaue ich dem schicken silbernem Mercedes einfach hinterher. Da hat es aber jemand ganz schön eilig. Früher oder später wird der sowieso an einer Ampel stehen bleiben müssen.
Keine zwei Minuten später rollt mein kleines Auto auf den riesigen Parkplatz der Schule. Obwohl hier nicht allzu viele Autos stehen, sticht meins wieder neben all den Prollautos hervor. Zögerlich nehme ich den Platz neben einem BMW und einem Porsche ein.
Ja, ein Porsche. Ich habe zwei Mal auf das verdammte Logo geschaut, um sicher zu gehen. Mir leuchtet zwar nicht ein, wie und warum um alles in der Welt ein Schüler einen Porsche besitzen kann, aber ich nehme es für den Moment so hin. Wenn ich ehrlich bin, habe ich einfach keinen Nerv dafür übrig, den Gedanken zu vertiefen. Auf brutalste Art und Weise pocht mein Herz gegen meine Brust, mein Atem ist flacher denn je.
In Keswick war ich immer die Außenseiterin. Es gab kaum jemanden, der mich auf dem Flur grüßte oder sich kurz mit mir unterhielt. Vermutlich war ich für die meisten irgendwie unsichtbar gewesen. Zugegebenermaßen, ich verbrachte die Pausen auch lieber alleine mit einem guten Buch.
Ich hatte wirklich keinen Grund Angst zu haben. Es waren letztendlich nur noch vier Monate. Kein Weltuntergang. Nichts was mit ein paar Büchern nicht zu überstehen wäre.
Und dennoch - dennoch stehe ich nun mit zitternden Knien vor der Glastür der neuen Schule. Dennoch fühle ich die Angst durch mein Blut fließen wir purer Alkohol. Dennoch merke ich wie ich mir erneut auf die Lippe beiße.
Verdammt.
Obwohl ich am liebsten auf dem Absatz kehrt machen würde, setzte ich zögerlich einen Fuß vor den anderen und betrete das Gebäude.
Sowohl von außen als auch von innen ist es um einiges moderner als die Schule in Keswick. Die Wände bestehen zum größten Teil aus Glas, der Boden aus blank polierten Fliesen. Es dringt viel mehr natürliches Licht durch die riesigen Räume, zahlreiche Pflanzen schmücken die Gänge und gekonnt gezeichnete Bilder hängen an jeder Ecke.
Etwas ratlos bleibe ich in der Foyer stehen und blicke mich um. Wahrscheinlich sollte ich zuerst ins Sekretariat - bleibt nur noch die Frage wo das ist. Wenigstens einen Lageplan der Schule hätte mir der Schulleiter in seiner enthusiastischen Willkommens-Mail mitschicken können.
Immer wieder eilen Schüler an mir vorbei, ihre Blicke treffen mich nicht einmal flüchtig. Auch hier scheint mich niemand wahrzunehmen. Entrüstet nehme ich Luft, um kurz darauf einen Seufzer auszustoßen. Just in dem Moment streifen meine Augen ein kleines Schild an der Wand, eine Art Wegweiser.
Eine kleine Welle der Erleichterung schwappt über mich, bevor ich mich auf den Weg Richtung Sekretariat mache. Es ist nicht einmal weit entfernt und so finde ich mich keine zwei Minuten später vor einer Dame mit Hornbrille wieder.
Wow stereotypisch!
Mit einem grimmig erzwungenem Lächeln drückt sie mir einen Stundenplan in die Hand. Sie hat offensichtlich keinen Spaß mehr an ihrer Arbeit und ich will ihr nicht weiter auf die Nerven einprügeln. Ihrem Aussehen nach müssen die ohnehin schon einige Jahrhunderte miterlebt haben.
Rasch frage ich noch nach einem Raumplan und verschwinde dann wieder. Hoffentlich werde ich die nächsten Monate nicht oft in diesem Büro sein müssen.
Draußen werfe ich gleich einen Blick auf meinen Stundenplan. Englische Literatur war also das Fach, das ich als erstes haben würde. Ein ehrliches Lächeln erhellt mein Gesicht - mein Lieblingsfach und vermutlich das einzige Fach, in dem ich meinen Mund auf bekomme.
Ein wenig motivierter richte ich die Träger meiner Tasche und mache mich auf den Weg zum Raum. Die minimalistische Einrichtung des Schulgebäudes macht es mir um einiges leichter mich zurechtzufinden und innerhalb weniger Minuten stehe ich vor der richtigen Tür. Während mein Blick immer wieder das kleinen Nummernschilder streift, merke ich wie mein Herz wilder zu klopfen beginnt.
Möglichst ruhig atme ich ein. Meine Gedanken schweifen zu all den Büchern, die in meinem Zimmer rumliegen - natürlich waren sie das erste, was ich aus Keswick mitnehmen musste -, zu all meinen liebsten Charakteren. Viele von ihnen waren genau so unscheinbar, so ängstlich wie ich und mussten sich in neuen Schulen einleben. Wenn sie es konnten, dann musste ich es doch auch können?
Langsam platziere ich meine Hand auf der silbernen Türklinke, die schon lange nicht mehr so strahlend funkelt wie sie ursprünglich wahrscheinlich mal tat.
Jetzt ist es also so weit.
Es gibt keinen Ausweg mehr.
Ich muss es durchziehen.
Ohne Vorwarnung wird die Tür von innen aufgerissen. Mit brutaler Wucht schleudert sie mich nach hinten zurück und lässt mich auf meinen Allerwertesten fallen.
Vielen Dank an meinen Gleichgewichtssinn.
Verwirrt blinzle ich mit den Augen, versuche zu verstehen, was gerade vor sich geht. Der Schmerz in meinem Po zwingt mich allerdings regelrecht dazu erst einmal aufzustehen und mich zu strecken. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich tatsächlich zu spät dran war. Das lag sicher an der gemütlichen Sekretärin.
"Ist alles in Ordnung?"erst als die junge Frau in der Tür besorgt zu mir spricht, bemerke ich sie wirklich. Von der Situation völlig überfordert ziehe ich meinen rechten Mundwinkel nach oben und lächle.
"Ja." Das ist eine Lüge. Mein Herz springt schmerzhaft geradewegs aus meiner Brust heraus, meine Hände schwitzen als würden sie einen ganzen Ozean festhalten und mein Po - von dem fange ich am besten gar nicht an. "Ähm, ist hier der Literatur Unterricht von -" schnell schaue ich auf meinen Zettel. "- Mrs. Alcot?"
Von einer Sekunde auf die Andere hellt sich das Gesicht der Dame auf: "Du bist sicher Jewel. Ich bin Mrs. Alcot." Sie reicht mir ihre Hand, die ich zögerlich ergreife. Ihr plötzlicher Enthusiasmus kommt ein wenig unerwartet. "Ich habe heute noch nicht mit dir gerechnet. Komm doch rein."
Nur nebenbei bemerke ich wie meine Knie zu zittern beginnen, als ich den Raum betrete. Viel zu sehr bin ich mit meinen Gedanken beschäftigt. Gedanken, die sich hauptsächlich darum drehen wie meine Mitschüler wohl sein werden und was sie von mir denken werden. Sicherlich würden sie sich meinen Auftritt für eine Ewigkeit merken.
"Hey." in der Mitte des Raumes angekommen, hebe ich meinte Hand vorsichtig, beinahe so als wolle ich winken. "Ich bin neu hier. Ich - äh - mein Name ist Jewel." Ein Raunen geht durch den Raum, natürlich. Ich kann geradezu die Worte 'Was ist das denn für ein Name?' hin und her fliegen hören. Wieder einmal verfluche ich meine Mutter, die sich damals dafür entschieden hat mich nicht Hannah oder Caitlyn zu nennen. Nein, sie hat mich wortwörtlich mit meinem Namen schmücken wollen.
Ohne ein weiteres Wort und mit hochrotem Kopf lasse ich mich auf dem erstbesten Platz fallen. Nur aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass neben mir ein Junge sitzt. Okay, vielleicht ist es auch ein Mädchen mit kurzem Haar. Heutzutage ist ja alles möglich.
Mrs. Alcot nickt mir zu, in ihrem Lächeln erkenne ich immer noch eine kleine Entschuldigung, dann fährt sie mit dem Unterricht fort: "Ihr habt alle den dritten Akt aus Julius Caesar beendet?"
Neben mir vernehme ich ein leises, höhnisches Lachen. Aha - er oder sie hat das Buch also glasklar nicht gelesen. Nächste Stunde suche ich mir definitiv einen anderen Platz. Was zur Hölle macht man im Literatur Kurs, wenn man nicht einmal einen Akt lesen kann?
"Gut, das nehme ich als ein 'Ja'. Heute wollen wir uns nämlich näher mit der Zweiten Szene dieses Aktes beschäftigen. Schlagt das Buch bitte dort auf."
Sofort erfüllt das Rascheln von Papier meine Ohren. Eine der vielen Dinge, die ich am Literaturunterricht liebe. Es dauert eine Weile bis ich realisiere, dass ich das Buch nicht besitze. Erschrocken richte ich meinen Körper auf, so gerade wie einfach kein normaler Mensch in der Schule sitzt. Schüchtern blicke ich zu meinem Sitznachbarn.
Ein Junge mit strahlendem Lächeln blickt mir entgegen. Sein helles Haar strahlt in dem Sonnenlicht, beinahe als wäre er ein Engel. Okay, das war vielleicht übertrieben - aber in Büchern wurden diese Beschreibungen oft benutzt, warum sollte ich es nicht auch tun.
"Kann ich bei - dir - mit reinschauen?" bringe ich mit mehr Sicherheit als erwartet hervor. Er nickt mir stumm zu und schiebt das Buch zum Teil zu mir herüber. Sogar die richtige Seite hat er bereits aufgeschlagen.
Schnell wende ich mich ab, um die rötliche Verfärbung meiner Wangen zu verstecken. Er kommt mir komischerweise bekannt vor, aber ich weiß nicht woher und einen zweiten Blick zu ihm wage ich nicht. Starr betrachte ich das Buch vor meiner Nase, lese immer wieder den gleichen Satz und verstehe ihn doch nicht.
Buch, Buch, Buch.
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