1 | Rubinrot
DER RUBINROTE EINBAND fühlt sich angenehm in meinen Händen an. Langsam fahre ich mit meinen Fingern über den samtenen Buchrücken, spüre jede einzelne Letter des gold geprägten Buchtitels. Ein leises Seufzen schleicht über meine Lippen und obwohl ich diesen Monat bereits knapp bei Kasse bin, beschließe ich das Buch zu kaufen.
Eigentlich sollte man es mir verbieten den kleinen Buchladen, der seit einigen Jahren in unserer Straße steht, zu besuchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn noch nie ohne ein neues Buch verlassen habe.
Mit einem etwas schuldbewussten Lächeln senke ich meinen Blick und marschiere zur Kasse.
"Hey Jewel, alles klar bei dir?" der gold schimmernde Zopf der Kassiererin, Caitlyn Pearson, hüpft bei der Arbeit fröhlich auf und ab. Wir kennen uns aus der Schule. Sie ist eine der wenigen Menschen, die sich ab und zu aus freien Stücken mir mit unterhält.
"Ja." zaghaft nicke ich. "Klar. Und bei dir?"
"Natürlich." ihr darauffolgendes Lachen ist melodisch und feminin. Mein Blick begegnet für den Bruchteil einer Sekunde ihrem. Ich beneide sie. Ihre offene, liebenswürdige Art, ihr immer freundliches Strahlen. Dann wende ich meinen Blick hastig ab.
Dankend nehme ich meine Tüte entgegen und verabschiede mich von ihr. Draußen prasselt der kalte Regen auf mein Gesicht hinab wie tausend kleine Meteoriten. Ich ziehe mir die Kapuze meiner knallroten Jacke über und mache mich im Schnellschritt auf den Weg nach Hause.
Obwohl es wirklich keine weite Strecke ist, bin ich komplett durchnässt als ich die kleine Wohnung betreten, in der ich gemeinsam mit Mum wohne. Vorsichtig ziehe ich meine, leider nur angeblich wasserfesten Schuhe aus und hänge meine Jacke auf einen Kleiderhaken.
"Na, mein Schatz. Hast du etwas Schönes gefunden?" grüßt Mum mich, sobald ich das Wohnzimmer betrete. Mit ihrem Laptop auf den Beinen hat sie es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht.
"Was für eine Frage!" während ich mich neben sie auf das Sofa setze, hole ich das Buch aus der Tüte.
Mum wendet ihren Blick von dem Bildschirm ab und lässt ihn zum Buch in meinen Händen gleiten. "Das sieht aber schön aus."
"Ja, nicht wahr?" völlig in Gedanken versunken drehe ich es in meinen Händen in und her, frage mich, welche wundersamen Geschichten es wohl für mich bereit hält und wünsche mir, ich könne sofort mit dem Lesen beginnen. Aber ein flüchtiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich gleich schon zur Arbeit muss.
"Wann musst du los?" fragt Mum mich, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
"In einer halben Stunde."
"Soll ich dich vorbeifahren? Der Regen ist grausam und ich muss sowieso bald mal los."
"Ach ja." ich lächle Mum verschwörerisch zu. "London."
"Ja. - London."
Auch wenn ich in ihren Augen die Unsicherheit und Angst aufblitzen sehe, die sie schon seit Jahren verfolgt, spüre ich wie ich von einem freudigem Gefühl überrumpelt werde. Seit ich denken kann, arbeitet Mum im Roosevelt, einem kleinen Restaurant, in dem ich ebenfalls seit einigen Monaten jobbe. Nie hat sie eine Sekunde damit verschwendet sich zu beschweren wie anstrengend und banal ihre Aufgaben seien, aber ich merkte wie sie sich nach etwas Neuem sehnte - nach einer Herausforderung, nach Abwechslung. Irgendwann hatte ich sie zu einer Fortbildung überredet, die sie - wie nicht anders zu erwarten war - mit Brillanz absolvierte. Jetzt hatte sie endlich ihr erstes Vorstellungsgespräch, und das in der vermutlich aufregendsten Stadt Englands.
"Vorbeifahren klingt gut." in einer einzigen Bewegung drücke ich Mum einen flüchtigen Kuss auf die Wange und stehe vom Sofa auf. "Ich mache mich nur noch schnell fertig."
Keine zehn Minuten später stehe ich wieder im Wohnzimmer, meine Haare zu einem festen Zopf gebunden und eine Gürteltasche in meiner Hand. Ein Grinsen dominiert mein Gesicht, sobald ich bemerkte wie Mum voller Hast von einer Stelle zur Anderen läuft. Mit ihren Augen durchsucht sie jeden noch so winzigen Winkel, um ja nichts zu vergessen. Ohne etwas zu sagen, schaue ich ihr bei ihrem Tun zu - einerseits, weil ich es ein wenig amüsant finde; andererseits, weil ich wirklich noch nicht zur Arbeit will.
"Okay." Mum pustet nur halbwegs bereit einen Schwall Luft aus. "Ich glaube ich habe alles."
"Schlüssel? Portmonee? Handy?"
Sie antwortet mit einem Nicken. "Hast du deinen Hausschlüssel?"
"Na klar." um trotzdem sicher zu gehen, greife ich in meine Hosentasche. Sofort spüre ich das kühle Metall an meinen Fingern.
"Dann los." nach einem letzten prüfenden Blick durchs Zimmer schreitet Mum durch die Tür. Schnellen Schrittes folge ich ihr, nehme im Vorbeigehen meine noch immer tropfnasse Jacke vom Haken. Glücklicherweise steht das Auto heute ausnahmsweise in der Tiefgarage, sodass wir uns nicht einmal kurz dem unerbittlichen Regen aussetzen müssen.
"Wie lange musst du heute arbeiten?" fragt Mum mich, als wir im Auto sitzen.
"Weiß ich noch nicht, je nachdem wie voll es wird. Aber ich glaube nicht so lange, ist ja Dienstag."
"Schreib mir bitte, wenn du fertig bist."
"Mache ich."
"Und vergiss es nicht, sonst mache ich mir Sorgen."
"Du machst dir einfach viel zu viele Sorgen!"
Für den Bruchteil einer Sekunde erfüllt Mums zaghaftes, melodisches Lachen das Auto. "Wahrscheinlich."
"Du schaffst das." aufmunternd lächle ich ihr von der Seite zu. Sie krallt sich mit ihren Händen am Lenkrad fest. "Alles wird gut laufen und bald sind wir raus aus diesem Dorf."
Die Gebäude ziehen an uns vorbei, immer näher kommt das kleine, mir so vertraute, Restaurant, in dem ich die meiste Zeit meiner Kindheit verbrachte und dessen Küche die köstlichsten Gerichte zubereitet. Auch jetzt bin ich gerne hier - zumindest, wenn ich nicht arbeiten muss. Da das heute allerdings der Fall ist, wünsche ich mir klammheimlich ich könnte einfach wieder nach Hause gehen. Doch bevor ich überhaupt die Gelegenheit dazu bekomme, hält das Auto an.
"Danke, Mum." ich umarme sie - so gut es im Auto nun mal geht. "Viel Spaß! Du wirst alle vom Hocker hauen."
"Mal schauen."
Einen Weile sitzen wir da, lächeln einander sacht zu. Es fühlt sich an wie einer dieser Momente, den man am liebsten in einem Glas einfangen und für immer behalten will. Eine seltene Ruhe scheint das Auto zu erfüllen, aber mit dem lauten Hupen des Autos hinter uns wird mir bewusst, dass es lediglich die bekannte Ruhe vor dem Sturm ist. Wie vom Blitz getroffen öffne ich die Tür, rufe Mum ein "Tschüss" zu und eile ins Roosevelt. Sobald sich die schwere Tür hinter mir schließt, höre ich auch schon wie jemand meinen Namen ruft.
"Hey, Ella." grüße ich am Tresen angekommen die junge Frau, die gerade einige Gläser abwäscht.
"Alles klar bei dir?"
"Wie immer. Bei dir?" genervt spüre ich wie sich bereits einige Strähnen aus meinem Zopf gelöst haben und versuche sie verzweifelt hinters Ohr zu stecken.
"Ebenso. Und deine Mutter ist jetzt in London?"
"Auf dem Weg dorthin, ja. Sie hat mich noch vorbei gebracht."
"Ich kann's immer noch nicht glauben" sie schüttelt den Kopf, wobei ihr die kurzen Haare immer wieder ins Gesicht fallen. "Ich meine, wie lange hat sie jetzt schon hier gearbeitet?"
"Sechzehn Jahre." antworte ich schulterzuckend.
"Und jetzt soll sie einfach weg sein - ich weiß nicht, wie lange wir es ohne sie aushalten!" Ein Lachen entwischt ihr. "Aber ich freue mich für sie. Sie hat es verdient."
"Solange alles klappt, wie es soll."
"Bestimmt!" versichert sie mir, während sie sich ihre Hände an ihrer Schürze abtrocknet. "Ich glaube, du kannst dich erstmal entspannt hinsetzen. Es ist überhaupt nichts los."
"Alles klar." mit einem Ruck setze ich mich auf einen der hohen Tresenstühle und lege sowohl meine Gürteltasche als auch mein Handy vor mir ab.
"Und, was machen deine A-Levels?"
"Ach, nichts Besonderes. Ich bin froh wenn die vorbei sind." stöhne ich.
"Wie lange noch?"
"Fünf Monate."
"Das ist doch nichts mehr!"
"Entschuldigung." Erschrocken fahre ich zusammen, als plötzlich jemand mit tiefer Stimme neben mir zu sprechen beginnt. Mit einer Schnelligkeit, die sich anfühlt wie Lichtgeschwindigkeit, drehe ich mich zur Seite und erblicke einen jungen Mann, der sich mit seinen Armen lässig am Tresen abstützt. Er trägt einen Sakko und eine locker sitzende Krawatte, was für unsere Kundschaft sehr ungewöhnlich ist. Sein Blick ist allerdings starr auf Ella gerichtet, was mich kaum etwas seines Gesichtes sehen lässt. Dennoch vermute ich er sieht nicht schlecht aus, denn seine Wangenknochen sind überaus markant. Wer steht heutzutage nicht auf tolle Wangenknochen? "Wir würden gerne zahlen."
"Ich bin sofort bei Ihnen." kaum merklich nickt Ella mir zu, um mir mitzuteilen, dass sie gleich wieder da ist, und verschwindet dann. Ein letzter, rascher Blick auf den Mann bestätigt meine Vermutung - er sieht tatsächlich gut aus. Ziemlich gut sogar. So gut, dass meine Gedanken eine Weile bei ihm hängen bleiben - genauer gesagt bei seinen Wangenknochen und seinen hellen Augen, die im letzten Moment noch kurz meinen begegneten. Vermutlich wären sie dort noch viel länger verweilen, doch irgendwann kommt Ella wieder und reißt mich aus meinen Gedanken.
"Ich hab grad noch mit Meghan geredet, wir kommen ohne dich super zurecht. Mach dir heute 'nen schönen Abend." sie strahlt mir entgegen, wohl wissend wie gerne ich diese Nachricht höre.
"Sicher?" hake ich dennoch nach, denn ich möchte nicht allzu begeistert rüberkommen.
"Definitiv! Wann bist du das nächste Mal hier?" gekonnt stellt einige Gläser, die sie gerade abgeräumt hat, von ihrem Tablett neben das Spülbecken.
"Sonntag. Sehen wir uns?"
"Jap, ich bin ab zwölf hier."
"Dann bis dann." frohen Mutes springe ich vom Stuhl auf und winke ihr gleichzeitig zu. Meine Gedanken, die vorhin noch bei dem Jungen festzukleben zu schienen, drehen sich jetzt allein um die Chips die ich gleich genüsslich verschlingen werde und die zahlreichen Seiten meines neuen Buches, die ich bis tief in die Nacht lesen werde. Vielleicht sollte ich mich schlecht fühlen, wahrscheinlich sogar - aber das Faultier in mir, welches ich vor Jahren als mein Totemtier auserkoren hatte, gewinnt, wie in den meisten Fällen, die Oberhand und so schlendere ich enthusiastisch zum Ausgang.
Zu enthusiastisch.
Gerade erkenne ich Meghan an mir vorbeilaufen, folge ihr mit meinem Blick, winke ihr zu und dann - boom, bang, kapoof - stoße ich mit jemandem zusammen, jemandem sehr männlichem und sehr großem. Ein bisschen wie in so einem dämlichen Hollywood-Streifen, nur dass ich keinen Kaffee in der Hand halte, der ihm über das Shirt läuft. Und auch kein Eis, das ich mir beim Aufprall ins Gesicht schmiere. Und auf den Boden falle ich auch nicht. Ein ganz einfacher Zusammenstoß - und trotzdem laufe ich knallrot an, was vermutlich daran liegt, dass mein Kollisionspartner aussieht wie Adonis höchstpersönlich, und selbst das war eine Untertreibung. Mir fehlt jegliche Kraft irgendwas anderes zu tun, als ihn anzustarren.
Irgendwann öffnet mein Mund sich wie von selbst, will sich entschuldigen, während mein Gehirn immer noch damit beschäftigt ist zu sabbern, jedoch ist der Junge verschwunden ehe ein Wort meine Lippen verlässt. Ohne auch nur ein Wort zu sagen. Perplex von seiner Unhöflichkeit drehe ich mich zu ihm um und stelle mir innerlich vor wie ich ihm einen Knigge vor die Brust haue und er mir daraufhin seine Handynummer gibt. Von meinen eigenen pubertären Gedanken verärgert, rolle ich mit den Augen.
Nur nebenbei bemerke ich, wie er sich zu dem Mann, der vorhin am Tresen war, gesellt. Ich hätte es mir doch denken können - ein Schönling kommt selten allein.
Seufzend wende ich mich wieder ab und marschiere schnurstracks, voller Vorfreude auf mein Buch, aus der Tür hinaus. Hoffentlich ist es eines dieser Bücher, in denen ein Zusammenstoß mit einem Kerl das Selbe bedeutet wie ein Heiratsantrag.
--
[A/N]
A-Levels ist übrigens das Abitur in England. Normalerweise belegen die Schüler dann nur noch 4-5 Fächer, wodurch sie nur noch viel seltener zur Schule gehen.
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