LOGAN
Mit fest zusammen gepresstem Kiefer verschwinde ich hinter der grauen Steinmauer und ducke mich rasch.
Entspannt warte ich ab, bis die Aufseher fluchend an mir vorbei geeilt sind, dann schwinge ich mich lässig mit einer Hand über die Mauer und renne in die andere Richtung davon.
Ich schlage noch ein paar Haken und nehme einige Schleichwege, nur zu Sicherheit.
Zufrieden grinsend lasse ich mich in den kalten Schnee sinken und ziehe fröstelnd meinen Mantel enger um mich. Er ist mir etwas zu groß und schon etwas abgenutzt, ich habe ihn im letzten Frührjahr auf einem illegalen Markt erworben.
Ein illegaler Markt.
Von so einem bin ich gerade eben auch geflohen, da eine gefährliche Razzia die Händler beim Verkaufen überrascht hat. Nichts Weltbewegendes, ab und zu kriegen selbst die Trottel von der Polizei eine verschlüsselte Nachricht in ihre gierigen Finger und schicken ihre unfähigen Hunde los. Diesen Aufsehern bin ich schon hunderten von Malen entwischt.
Ohne diese illegalen Schwarzmärkte wäre es für jemanden wie mich jedoch nahezu unmöglich, sich auf den Straßen des heutigen Londons durchzuschlagen. Jemand wie ich lebt gefährlich. Zu jeder Zeit.
Aber das ist es wert, denke ich.
Schmunzelnd krame ich den Apfel hervor, den ich bei meiner Flucht von dem Schwarzmarkt habe mitgehen lassen. Er ist eiskalt und wahrscheinlich schon lange verfallen. Alles, was auf den Schwarzmärkten angeboten wird, ist gebraucht oder abgelaufen. Die Lebensmittel stammen größtenteils aus den Müllcontainern hinter den Supermärkten, wo die reichen Ladenbesitzer alles wegwerfen, was offiziell vom Datum her abgelaufen ist oder äußerliche Makel aufweist.
Eigentlich ist alles, was äußerlich nicht ganz stimmt, unerwünscht. Das ist sicherlich auch der Grund, weshalb ich so viele Tattoos, mehrere Ohrringe und einen Nasenpiercing habe.
Verbote gibt es viele, Freiheiten eher wenige.
Was man darf?
Nun, es ist einem erlaubt, sich nach Wünschen der Regierung zu verhalten und alle Paragraphe der Neuen Ordnung auswendig herunterzubeten.
Mein höhnisches Lachen klingt viel zu laut in der Stille und endet schließlich in einem amüsierten Glucksen. Als Widerstandskämpfer hat man nicht viel zu lachen, aber die bescheuerte Gesellschaft mit all ihren Normen und Regeln schafft es immer wieder, mir ein hochmütiges Lächeln abzuringen.
Es ist einfach zu lustig, wie jeder wie ein Hündchen den Vorschriften gehorcht, egal wie dumm sie auch sind.
Nimm jeden Morgen deine Tabletten.
Sei nicht nach 22:00 Uhr nachts auf der Straße.
Höre keine Musik.
Erlerne den Beruf, den die Regierung dir gütigerweise zuteilt.
Heirate den Partner, den die Behörden für dich aussuchen.
Gehe keine aufrichtigen Freundschaften ein.
Gib nicht deinen wahren Gefühlen nach.
Vertraue nicht deinem Bauchgefühl und deinem klaren Menschenverstand, sondern eher den Gesetzen der Neuen Ordnung.
Man muss nicht mehr selber denken, das übernimmt die Regierung freundlicherweise. Wie praktisch.
Wenn sie "Sitz!" sagen, tun die Leute es.
Wenn sie "Mach Platz!" sagen, befolgen die Leute die Anweisung.
Wenn sie "Spring aus dem Fenster!" sagen, gehorchen die Leute ohne zu zögern.
Wie treudoofe Hunde. Sie können einem beinahe Leid tun, doch sie sind selber Schuld. Ich hatte mich hingegen all dem entzogen und mich für ein Leben abseits von all den Gesetzen und Regeln entschieden.
Ich gehöre wie eine handvoll andere Leute zu der rebellischen Untergrundgruppe Music For The Real Heart und widersetze mich alldem. Was vor drei Jahren als leichtsinniger Spaß einer Gruppe unternehmungslustiger Jugendliche begonnen hatte, hatte sich zu etwas ziemlich Großem entwickelt. Damals hatten wir nur mit ein paar wilden Partys und verbotener Musik provozieren wollen, nun gehört es zu meinem Lebensinhalt, neue Mitglieder anzuwerben und waghalsige Aktionen zu organisieren.
Mit einem verwegenem Grinsen schmeiße ich das Gehäuse des Apfels weg und springe auf. Dabei verwuschele ich mein schwarzes Haar, sodass es noch ungezähmter und wilder aussieht als sonst. Das herausfordernde Funkeln in meinen eisblauen Augen sorgt dafür, dass die Leute rasch beiseite springen, als ich in eine gut besuchte Straße einbiege und an all den teuren Geschäften mit den ganzen bescheuerten Markenklamotten und zensierten Medien vorbei sprinte.
Bevor die Leute überhaupt auf den Gedanken kommen, die Aufseher zu verständigen, bin ich schon längst zwei Straßen weiter.
Wie gesagt, ich lebe gefährlich.
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