JACOB

Ein leichter Groll überkommt mich, als ich bereits zum dritten Mal klingele und weder Paulo, noch Jack kommen.

Ich mag die beiden echt gerne, sie erfüllen ihre Aufgaben stets zuverlässig und gewissenhaft, sie gewährleisten mir die nötige Sicherheit. Aber auch nur dafür sind sie da: Um mich und meine Eltern zu beschützen. Vor den Rebellen, den Gegnern der Neuen Ordnung.

Die Schauergeschichten meiner Amme haben davon gehandelt, von den Barbaren, die die Tabletteneinnahme verweigern, willkürlich morden und es Gerechtigkeit nennen, Frauen vergewaltigen und es als Liebe bezeichnen.

Selbst habe ich noch nie einen dieser hirnlosen Armleuchter getroffen, die sich tatsächlich einbilden, besser als die Regierung und die Wissenschaftler beurteilen zu können, was gut für die Gesellschaft ist.

Dämlich.

Ich bete, dass ich nie auf einen von ihnen treffen werde.

Genervt quäle ich mich von meinem Bett hoch und stapfe zur Tür. Ein letzter Versuch, meine Leibwächter per Smartmail anzutexten. Keine Reaktion.

So etwas macht mich furchtbar wütend. Wenn ich etwas hasse, dann ist es Unpünktlichkeit und Unzuverlässlichkeit. Und wenn ich aufgrund von meinen inkompetenten Mitmenschen gezwungen werde, von der Routine abzuweichen. So wie jetzt.

Ich brauche Ordnung in meinem Leben. Dieses Gefühl, wenn am Abend alles erledigt ist und alles an seinem gewohnten Platz steht, beruhigt mich enorm. Ist dies nicht der Fall, kann ich nicht einschlafen. So wie jetzt.

Tatsache ist, dass mein Rollo nicht mehr funktioniert. Es geht nicht runter, sodass ich von meinem Bett aus den optimalen Blick auf das leerstehende Fabrikgelände hinter unserer Villa habe. Grässlich!

Auch das verabscheue ich: Wenn etwas kaputt ist. Nicht länger funktioniert.

So wie jetzt mein Rollo.

So wie jetzt meine Leibwächter.

Mit einem düsteren Blick in meinen bernsteinfarbenen Augen stapfe ich die Treppe herunter. Meine Eltern sind nicht da, und so wirkt die Villa noch unbewohnter und stiller als sonst. Meine Schritte klingen viel zu laut in dem langen Flur mit all den Skulpturen aus Mamor und Gemälden von Leuten, die ich nicht kenne.

Zugegeben, auch sonst, wenn wir alle drei zu Hause sind, hat man nicht selten das Gefühl, in einem fremden Haus zu sein. Kaum persönliche Gegenstände haben hier Platz, Fotos von uns gibt es gar keine.

Jeder von uns bleibt dann in seinem Zimmer, arbeitet still vor sich hin. Funktioniert  lediglich. Niemand interessiert sich dafür, wie es dem anderen geht, so lange er nur seine Aufgaben erledigt.

Auf einmal fühle ich mich ganz klein, wie ich da alleine in unserer großen Villa stehe. Verwundert stelle ich fest, dass mich das Bedürfnis nach Nähe überkommt. Ich will umarmt werden, am liebsten von meinen Eltern. Meine Beine zittern und drohen einzuknicken, in der nächsten Sekunde ergreift die blanke Panik von mir Besitz.

Verdammt, was ist hier los?

Dieses Mal benutze ich weder den Knopf in meinem Zimmer, noch die Smartmailbox, stattdessen schreie ich nach Paulo und Jack. Schreie laut und verzweifelt, wie ein hilfloses Kind.

Doch genau das bin ich: Ein hilfloses Kind, das nicht weiß, wie ihm geschieht.

Das ist doch nicht möglich, das kann nicht sein! Ich habe meine Tabletten heute Morgen genommen, wie jeden Tag. Wenn ich es vergessen oder verweigert hätte, wäre sowieso der Alarm losgegangen. Mit hämmerndem Herzen versuche ich, meine Gedanken zu ordnen und zu verstehen, was hier passiert.

Auch das ist komplett abwegig: Ich sollte kein Herzklopfen haben, keine Panik verspüren.

Ich sollte keine Gefühle  haben.

Aber genau das ist hier der Fall. Zum ersten Mal überhaupt erlebe ich - aus welchem Grund auch immer - die intensive Wucht von Gefühlen. Und das missfällt mir sehr. Ich habe die Kontrolle verloren, jede Routine ist dahin.

So viel habe ich bisher schon über Gefühle gelesen und gelernt. Über Liebe, Freundschaft, Angst, Hass, Trauer - die ganze Bandbreite an Gefühlen!

Aber nie, wirklich nie habe ich erwartet, selbst einmal zu fühlen. Die Tabletten würden mich davor bewahren, das habe ich immer gedacht.

Tja, falsch gedacht.

Blind vor Angst renne ich zur Haustür und reiße sie auf, in der Hoffnung, der vertraute Anblick von Paulo und Jack würde mich beruhigen, doch was ich stattdessen erblicke, lässt mich tatsächlich an meinem sonst so einwandfrei funktionierendem Verstand zweifeln.

Vor mir liegen meine Leibwächter, beide mit leblosen, weit aufgerissenen Augen und blutverschmierten Gesichtern.

Mein Mund formt sich zu einem stillen Schrei, ich spüre, wie meine Hände taub werden und meine Knie zittern. Der Boden unter meinen Füßen scheint wegzubrechen, für einen Moment wird mir schwarz vor Augen.

Das waren die Rebellen.

Der Gedanke schießt wie ein Blitz durch meinen Kopf und bringt mich zur Besinnung. Ich muss mich in Sicherheit bringen, jetzt, sofort. Vielleicht sind sie noch in der Nähe. Mit einem letzten Blick auf Paulo und Jack wende ich mich ab und schließe rasch die Tür, dann sprinte ich keuchend wieder nach oben in mein Zimmer, verriegle die Tür von innen und schmeiße mich auf mein Bett.

Noch nie habe ich um mein Leben fürchten müssen. Ich bin Jacob Hanson, der Sohn von Dr und Dr Hanson - niemand tut mir etwas an. Das würde keiner wagen.

Ich denke an meine starken, muskulösen Leibwächter und ihre Schlagstöcker und Pistolen - und ihre toten Körper, die jetzt vor unserer Haustür liegen.

Dann denke ich an meinen eigenen, schlaksigen Körper, der kaum Kraft für den Schulsport hat, und presse mich noch etwas dichter an die Wand.

Mit zitternden Fingern tippe ich eine Smartmail an die Behördern, doch ich habe keinen Empfang. Die Schweine müssen irgendetwas blockiert haben. Ziemlich clever . . .

Wenn ich so darüber nachdenke, ist an den Ammenmärchen von früher viel mehr Wahres dran, als ich bisher angenommen habe. Sie sind so barbarisch, so animalisch, so kaltherzig! Schon der Gedanke, überhaupt einen Menschen zu töten, verursacht in mir Übelkeit. Die Rebellen haben Paulo und Jack jedoch geradezu abgeschlachtet, wie die Tiere.

Genau dazu machen Gefühle und Emotionen uns nämlich: Zu Tieren, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich zum Spaß die Schädel einzuhauen.

Genau deshalb brauchen wir die Tabletten: Um das Tier in uns in Schach zu halten.

Gerade, als ich überlege, bei einem der Nachbarhäuser zu klingeln, ertönt laute, wummernde Musik von draußen. Mit weit aufgerissenen Augen setze ich mich kerzengerade auf und trotz allem ist mein erster Gedanke: Das ist verbotene Musik!

Die Neue Ordnung wurde mir praktisch auf die Haut tattowiert.

Unter normalen Umständen würde ich vernünftig sein, würde in meinem Bett bleiben.

Doch die Neugier treibt mich voran, näher an das Fenster heranzutreten. Durch das kaputte Rollo habe ich gar keine andere Wahl, als einen Blick auf das Treiben auf dem verlassenen Gelände zu werfen.

Was ich sehe, lässt mich unwillkürlich staunen.

Aus den kleinen, quadratischen Fenstern scheint buntes Licht, es wechselt immer wieder die Farbe.

Rot.

Grün.

Blau.

Lila.

Gelb.

Und wieder von vorne.

Immer mehr Menschen strömen auf das Haus zu, rufen und tanzen ausgelassen. Sie spüren und leben auch, ihre Gefühle sind ebenfalls echt. Ein harter Ausdruck schleicht sich auf mein Gesicht. Das sind genau die Leute, vor denen meine Eltern und alle Lehrer mich immer gewarnt haben.

Sie kämpfen gegen die Neue Ordnung, verweigern die Tabletten, die meine Eltern erfunden haben.

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