JACOB
Meine morgendliche Dosis Tabletten spüle ich mit einem kräftigen Schluck Wasser herunter.
Ich muss gar nicht mehr auf die Schachtel gucken, um zu überprüfen, was wofür ist: Die roten sind gegen Liebe, die grünen gegen Freundschaft und die blauen gegen Schmerzen jeder Art.
Da meine Eltern hochangesehene Wissenschaftler sind und die Tabletten mitentwickelt haben, bin ich mit den Wirkstoffen von kleinaufan bestens vertraut.
In der Schule zähle ich zu den Besten, meine Chancen auf einen Posten als Forscher oder Politiker stehen ziemlich gut. Nur noch wenige Wochen, dann werde ich meinen Schulabschluss machen, einen Beruf erlernen und eine Partnerin zugeteilt ekommen.
Bei dem Gedanken, bald zu heiraten, verspüre ich jedoch keine Aufregung oder Nervosität. Mein Interesse galt immer eher der Wissenschaft und den Büchern als den Mädchen. Ich denke mal, das ist ein gutes Zeichen. So sollte es sein.
Für einen Moment werde ich von der Erinnerung an Jasmin eingeholt, die mir wieder zeigt, wieso die Liebe so schädlich ist.
Jasmin.
Ich verspüre einen Stich, wenn ich an sie und ihr Schicksal denke.
Seit der Grundschule ging sie in meine Klasse. Auch wenn wir nicht befreundet waren, konnte ich Jasmin gut leiden. Sie kam aus einem ganz anderen, weniger vornehmen Teil der Stadt als ich und hatte wenig Interesse an guten schulischen Leistungen, was vermutlich auch der Grund war, wieso Mum und Dad mir immer gesagt haben, Jasmin sei kein guter Umgang für mich. Ich war eben in einer wohl behüteten Umgebung aufgewachsen und lebte sicher.
Bis vor kurzem habe ich nicht verstanden, wieso die Mütter besorgt ihre Kinder fester an sich drückten, wenn Jasmin vorbei ging oder warum die Väter verächtlich die Straßenseite wechselten, wenn sie Jasmin sahen. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, wenn nur mit gerunzelter Stirn tuschelnd und missbilligend über Jasmin gesprochen wurde.
Irgendwie hatte ich angenommen, es war, weil sie wenig Geld gehabt hatte und in einem armen Waisenhaus aufgewachsen war.
Bis ich schließlich den Grund dafür erfahren hatte.
Den Grund, warum Jasmin keine Eltern hatte und laut meinen eigenen kein guter Umgang für mich war.
Der Grund, warum auch ich mich von da an naserümpfend von ihr ferngehalten hatte.
Jasmin war ein uneheliches Kind, geboren von einer Frau, die meine Mutter mit zusammengebissenen Zähnen als Schlampe oder Flittchen bezeichnen würde und die eine Affäre mit einem unbekannten Mann gehabt hatte. Aus dieser Beziehung war dann Jasmin entstanden, und da ihre Mutter damals noch nicht vereheiratet gewesen war, war das Ganze schließlich aufgeflogen. Man hatte ihr das Urteil verkündet, was laut der Neuen Ordnung für verbotene Liebesbeziehungen gerecht war: Der Tod.
Damals war es ein Skandal gewesen. Kaum jemand verstieß gegen das oberste Gesetz.
Man hätte ja meinen können, Jasmin wäre klug genug gewesen, es anders zu machen. Besser. Aber nein. Sie hatte genau den gleichen Fehler wie ihre Mutter begangen und sich unsterblich in einen Mann verliebt, der sie jedoch an die Aufseher verraten hatte.
Unglücklich über ihre unerwiderte Liebe hatte sie den Freitod gewählt. Selbstmord. Erhangen an einem Strick in ihrem Zimmer im Waisenhaus. Nicht, weil ihr die Todesstrafe gedroht hatte.
Nein.
Weil ihre große Liebe sie nicht gewollt hatte.
Für so etwas hatte ich keinerlei Verständnis. Es war mir unbegreiflich, wie man so töricht sein und sein ganzes Leben wegen einem Mann wegwerfen konnte. Wahrscheinlich hatte Jasmin nichts anderes verdient. Gestorben wäre sie sowieso.
Ich hoffe sehr, dass meine Partnerin intelligenter und bedachter ist als Jasmin. Ungern würde ich sie den Aufsehern melden müssen und so riskieren, Schwierigkeiten zu bekommen.
Mit einem Räuspern erhebe ich mich und streiche mein glattes, blondes Haar zurecht, damit es ordentlich aussieht. Dann verschwinde ich in meinem Zimmer und vergrabe mich hinter meinen Lehrbüchern, um für den Test nächste Woche gründlich vorbereitet zu sein.
Wenige Sekunden später habe ich meinen Leibwächtern per Smartmail mitgeteilt, dass ich nicht gestört werden will. Meine Eltern werden den ganzen Tag auf einem Kongress in der Nähe von Bristol sein und erst morgen früh wiederkehren.
Bis dahin liegt die volle Verantwortung für das Anwesen und auch für mich bei Paulo und Jack, den Leibwächtern, die vor unserer Eingangstür positioniert sind.
Ja, wir haben Leibwächter. Bodyguards. Persönliche Aufseher.
Nennt es, wie ihr wollt.
Wie gesagt, ich lebe sicher.
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