Bild & Kaffee 1 [Markson]


Marks Zungenspitze ragte aus seinem Mundwinkel heraus, als er konzentriert versuchte, diesen einen Pinselstrich nicht zu vermasseln. Diesen einen Pinselstrich, der das Bild, an dem er jetzt schon seit zweieinhalb Monaten saß, beendete. Und irgendwie behagte es ihm nicht, dieses Projekt zu vollenden, denn er hatte es zu sehr in sein Herz geschlossen, wollte sich nicht von der Arbeit trennen, von der Routine, die er zum Malen dieses Bildes entwickelt hatte. Er wollte nicht seine Abende wieder allein auf der Couch verbringen, mit seinen Kunstkatalogen in der Hand, auf der Suche nach der nächsten Idee, diese wieder ausplanen, unendlich viele Skizzen zeichnen, auf der Suche nach der Perfektion des Motivs, das er malen wollte. Er wusste nicht, ob seine zukünftigen Arbeiten an diese hier heranreichen würden, denn in seinen Augen war das Bild, die Ausführung, die Komposition bis zur Perfektion ausgereizt.

Auf der Leinwand war ein junger Mann zu sehen, braune Haare, braune Augen, helle Haut, eine gerade Nase und hohe Wangenknochen, der am Betrachter vorbei sah. Er saß auf einem alten Holzstuhl, ein roter Teppich im Hintergrund, der an einer ansonsten weißen Wand hinab hing. Erst bei genauerem Betrachten erkannte man, dass die Verzierungen in dem alten Stuhl sich zusammenkrümmende Leiber darstellten und dass sich dünne Drähte um die Gliedmaßen des Mannes windete, die alle hinter den Teppich verliefen und rote Striemen in seine ebenmäßige Haut schnitten.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete Mark sein Kunstwerk noch einmal, verfolgte jede Achse in dem Bild, ob er doch etwas vergessen hatte, wie den Schatten des Stuhles oder die herabhängenden, losen Fäden des Teppichs, aber es war alles da, alles erkennbar. Als er sich sicher war, dass er nun, nach dem fünften Abend des Überarbeitens, tatsächlich fertig war, legte er seinen Pinsel zu seinen Acrylfarben und ließ sich auf den Ohrensessel seiner Oma plumpsen, den sie ihm vermacht hatte, als sie nicht mehr alleine zu Hause wohnen konnte und stattdessen in ein Altersheim gebracht wurde. An dem mit Rosen bedeckten Bezug des Sessels war ebenfalls schon Kunst entstanden, durch die Fingerabdrücke, die Mark immer auf den Armstützen hinterließ.

Wenige Minuten später war er vor Erschöpfung eingeschlafen.

***

Frustriert warf Mark ein Couchkissen durch die Gegend und zerriss gleich darauf das Papier, das schon durch feste Bleistiftstriche beschädigt war.

Er war verzweifelt. Seine Befürchtungen hatten sich bestätigt, nichts fühlte sich mehr gut genug an, nichts reichte in seinen Augen an sein vorheriges Bild heran, das er vor drei Wochen beendet hatte. Und egal wie oft Yugyeom ihm sagte, dass seine Ideen und Skizzen mindestens genauso gut waren, wie Der Rote Teppich es gewesen war – Mark wusste, dass das nicht stimmte. Alle seine Ideen waren minderwertig, zu wenig, zu banal im Vergleich zu Der Rote Teppich, ihre Ausführung zu schlecht um sich überhaupt Kunst nennen zu dürfen. Wie viele Skizzen hatte er schon wie die vorherige unkenntlich gemacht und zerrissen, nur damit er kein Zeuge seiner eigenen Unzulänglichkeit werden musste? Wie viele Tassen waren schon bei einem seiner aus Verzweiflung geborenen Wutausbrüche zu Bruch gegangen? Mittlerweile trank er selbst seinen Tee aus extra dafür angeschafften Plastikbechern und er ließ diese auch nicht mehr auf dem gleichen Tisch stehen, auf dem er ebenfalls zeichnete, nachdem er es leid geworden war, die heiße Flüssigkeit von den fleckigen Dielen zu wischen.

Mark fühlte sich absolut hilflos. Er war in eine Schaffenskrise geraten, aber das war er schon oft. Bisher war jedoch keine so schlimm gewesen wie diese, in der Mark sich selbst klarmachte, dass dieses Werk seinen Höhepunkt markierte und es danach nur noch bergab gehen konnte – dass es faktisch unmöglich für ihn war, dieses Bild in Bedeutung, in Komposition und in Ausführung zu übertreffen. Er war gelähmt, seine Gedanken nicht in der Lage gegen diesen niederschmetternden Druck anzukommen, sich von ihm zu befreien, wie er es bisher immer gekonnt hatte.

Um den einengenden Wänden seiner Wohnung zu entkommen, lief Mark in seinen Flur, warf sich seine Übergangsjacke über, schlüpfte in seine etwas dickeren Turnschuhe und war mit dumpfen Schritten zur Tür hinaus, das Klacken des Schlosses das einzige, was in seiner nun ruhigen Wohnung zu hören war. In seinem Wohnzimmer saugte sich das von ihm geworfene Kissen mit Tee voll.

***

Mark hatte das Malen schon fast aufgegeben, als Yugyeom ihn zu einem letzten Versuch animierte, aus seinem Tief heraus zu kommen. Mark hatte sein Schlafzimmer, in dessen Ecke er sein ehemaliges Atelier installiert hatte, seit Wochen nicht mehr betreten, und er war kaum noch Zuhause – meist schlief er bei Yugyeom und seinem Mitbewohner BamBam auf der Couch.

"Das ist auch nicht anders als in meiner Wohnung", hatte er mal gesagt, als Yugyeom ihn gefragt hatte, warum er lieber bei dem Jüngeren und seinem chaotischen, thailändischen Freund schlief als bei sich selbst im Bett. Yugyeom hatte sich vor den Kopf gestoßen gefühlt und seitdem alles daran gelegt Mark auf andere Gedanken zu bringen. Noch mehr als zuvor.

Hatte er sich zuvor täglich wenigstens ein paar Stunden von Mark und seinen Problemen entfernt, so war er über die Wochen, die Mark bei ihm im Wohnzimmer geschlafen hatte, nur noch dabei, den Älteren zu bespaßen. Er hatte sein soziales Leben vollständig vernachlässigt und BamBam täglich höchstens einmal gesehen, obwohl das in einer gemeinsamen Wohnung faktisch unmöglich sein sollte. Sein gesamter Tagesplan war auf Marks Bedürfnisse abgestimmt worden.

In einem der raren längeren Momente, die Yugyeom sich tatsächlich von Mark hatte lösen können, war BamBam auf ihn zugegangen und hatte ihm klargemacht, dass der Jüngere so nicht weiter machen konnte, dass er aufhören musste sich wie eine überfürsorgliche Glucke um Mark zu kümmern und sein eigenes Leben wieder auf die Reihe bekommen sollte. Yugyeom hatte sich zu BamBams Überraschung sehr einsichtig gezeigt, hatte jedoch darauf beharrt, noch einen letzten Versuch zu starten, noch einen letzten Nachmittag für Mark aufzuopfern, den er eigentlich zum Nachbereiten des Stoffes nutzen sollte, den er in diesen Wochen verpasst hatte.

So also lief er mit Mark den Bürgersteig von einer Bushaltestelle in der Nähe zu der nahegelegen Fußgängerzone entlang und erhielt ein sehr einseitiges Gespräch aufrecht, in dem er Mark von dem erzählte, was er in den letzten Wochen in seinem Freundeskreis verpasst hatte.

Mark wusste nicht, ob Yugyeom das tat, damit er sich schlecht fühlte, denn das tat er absolut nicht. Es war Yugyeoms eigene Entscheidung gewesen, ihm um jede Uhrzeit zur Verfügung stehen zu wollen, Mark hatte und hätte ihn niemals um eine solche Aufopferung gebeten. Weder bevor er zu einen gefühlslosen Eisklotz mutiert war noch danach, jedoch aus komplett unterschiedlichen Gründen. Zuvor hätte er sich schlecht dafür gefühlt, seinem Kumpel so viele Gedanken zu bereiten, sich bei ihm einzunisten und nicht wieder gehen zu wollen, weil er wusste, dass Yugyeom ebenfalls noch ein Privatleben neben seiner Freundschaft zu Mark hatte zusätzlich zu seinem Eventmarketing Studium. Jetzt war es ihm schlichtweg egal, wie Yugyeom sich fühlte. Solange er Mark nicht rauswarf, würde Mark nicht gehen.

Yugyeom hingegen hatte das Gefühl, dass er sich um Mark kümmern musste, dass er ihm in dieser schweren Zeit ein guter Freund sein musste, dass er ihm zur Seite stehen und ihn unterstützen musste, bis Mark seinen Weg aus dieser Krise gefunden hatte. Er würde Mark unter keinen Umständen etwas verweigern. Zum Glück war BamBam gut im sich bedeckt halten.

"Und Youngjae hat sich endlich für einen Hund entschieden. Ich werd ihn irgendwann nächste Woche mal besuchen und mir seine Coco anschauen. Selbst über Line schwärmt er nur noch von ihr und wenn man auf ein anderes Thema umlenken will, fängt er nur wieder eine neue Lobeshymne an und erzählt ausführlich darüber, wie süß Coco ist, dass sie fast schon stubenrein ist und schon Sitz und Platz machen kann!", erklärte er Mark, der mit undurchdringlicher Miene geradeaus starrte.

Der Bürgersteig war sehr belebt, Mark ging geradeaus und alle entgegenkommenden Passanten wichen ihm aus Reflex aus. Er war zu dem Zeitpunkt niemand, mit dem man sich anlegen wollte.

"Ahh, hyung. Hier gleich rechts ist es", sagte Yugyeom auf einmal, fasste Mark an der Schulter und dirigierte ihn durch eine Tür in ein sehr familiär wirkendes Café.

Ihnen gegenüber war die Theke, in deren Auslage lecker aussehende Muffins, Donuts und andere Gebäckwaren lagen. Über den Tresen lächelte sie ein Mann mit spitzen Gesichtszügen an, dessen verwuschelten braun-blonden Locken ihm gescheitelt auf dem Kopf lagen.

"Willkommen im Café Marshmallow!", rief er enthusiastisch und mit klingender Stimme aus. "Wir feiern Neueröffnung, weshalb Sie Rabatte auf alle Getränke bekommen, bis auf Bubbletea,Tee und Espresso. Haben sich die Damen schon entschieden?" Er zwinkerte Yugyeom und Mark frech an, wartete einen Moment. Als aber keiner der beiden etwas sagte, legte er einen Finger an sein Kinn und schaute einen kurzen Augenblick überlegend an die Decke, die aus dunklen Holzdielen gefertigt war. Seine Augen schienen von allein zu lächeln. "Wenn ich Ihnen beiden einen Getränkevorschlag machen darf..." Als hätte er eine Erkenntnis, die die gesamte Menschheitsgeschichte verändern sollte, wandte er sich Mark zu. „Sie würde ich als den klassischen Teetrinker einschätzen, hmm, vielleicht einen Earl Grey? Der scheint mir sehr passend. Und für Sie-", diesmal war Yugyeom an der Reihe, dessen Mund leicht offen stand. Er hatte nicht erwartet, dass man Menschen wirklich ansehen konnte, was sie gerne trinken würden, aber diesem Mann schien das ein Leichtes zu sein. "-würde ich eine weiße heiße Schokolade empfehlen. Meine Frau besteht gerne auf die namensgebenden Marshmallows, also seien Sie nicht allzu verwundert, wenn Sie statt Kekse diese kleinen, weichen Köstlichkeiten vorfinden."

"Hey, wen nennst du hier Frau, Frau?", ertönte eine doch sehr männliche Stimme hinter Mark und Yugyeom. Verwundert drehte der Jüngere sich um, während Mark nur gelangweilt auf die Karte hinter dem seltsamen Kauz starrte, der sie so denkwürdig empfangen hatte. Denkwürdig zumindest für Yugyeom. Mark war davon überzeugt, dass es nichts Trivialeres gab als einen einfachen Cafébesuch.

"Dich natürlich, Frau", kam die prompte Antwort des Baristas hinter der Theke, während Yugyeom noch immer den etwas kleineren Mann anstarrte, der mit einer in die Hüfte gestemmten Hand und einem Tablett in der anderen vor ihm stand und den Mann hinter der Theke skeptisch musterte.

Mit einigen Schritten war er zwischen Mark und Yugyeom hindurchgeschritten und knallte einen Zettel auf die Oberfläche. "Tisch drei", sagte er noch, bevor er sich wieder zu den Gästen begab.

Für ein neueröffnetes Café war es hier ziemlich gut besucht, hauptsächlich von jungen Leuten, wahrscheinlich Studenten wie Yugyeom, die zwischen ihren Vorlesungen nichts zu tun hatten.

"Also, seid ihr zwei mit meinen Vorschlägen einverstanden?", fragte der Barista, auf dessen Namensschild, das an seiner schwarzen Schürze befestigt war, ‚Jongdae' stand.

Noch ein bisschen neben der Spur stimmte Yugyeom schnell zu, obwohl er eher zu Bitterschokolade als zu weißer tendierte, und Mark nickte nur abweisend.

"Dann wollen wir doch hoffen, dass der Tee dein Date wenigstens so weit auftaut, dass er mit dir spricht!", sagte Jongdae und zwinkerte Yugyeom zu. Er schien viel zu zwinkern.

"Ich bin nicht sein Date", sprach Mark seine ersten Worte an diesem Nachmittag, seine Stimme desinteressiert, seine Augen im Sitzbereich auf der Suche nach einem gemütlichen Fensterplatz. Gleich darauf machte er sich auf den Weg und setzte sich auf eine bequem aussehende beige Couch, die mit einer zweiten und einem niedrigen, hölzernen Tisch ein sehr einladendes Bild abgab.

Währenddessen wies Yugyeom alles Mitleid von Jongdae ab, dass er so ein unleidliches Date hatte, knickte aber ein, als Jongdae ihm als Entschädigung ein Stück lecker aussehender Obsttorte aufs Auge drückte.

Bevor der Barista es sich doch noch anders überlegen konnte, bezahlte er und folgte Mark eilends.

Als beide saßen, herrschte eine drückende Stille zwischen ihnen, die auf Yugyeoms Gemüt lastete, den Älteren der beiden aber offensichtlich nicht zu stören schien. Verzweifelt versuchte Yugyeom ein Gesprächsthema zu finden, bei dem er keinen stundenlangen Monolog halten musste, sah aber ein, dass Mark ihm nicht antworten würde, egal was er ansprach. So war er zutiefst erleichtert, als endlich seine heiße Schokolade und die gesponserte Obsttorte kamen, hinter der er sich nur allzu gut verstecken konnte.

Mark hingegen achtete gar nicht auf den heißen Tee, der vor ihm abgestellt wurde. Stattdessen starrte er Jackson an, wie das Namensschild ihm verraten hatte, der sich jetzt mit einem leisen Lächeln verbeugte und sich wieder hinter die Theke neben Jongdae stellte.

Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass sein Meisterwerk zum Leben erwacht war und sich gerade lachend mit dem seltsamen Barista unterhielt.


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Jemand bestand darauf, dass ich Chen und Xiumin in die Geschichte einbauen soll, und da ich schon immer mal etwas über Chen schreiben wollte, sind beide jetzt ein fester Bestandteil der Geschichte.

Ich hoffe es hat euch soweit gefallen. Ich weiß, nicht viel Markson Action, deswegen wollte ich fragen, ob ihr Interesse an einem "zweiten Teil" hierzu habt, in dem sich Mark und Jackson dann doch ein bisschen näher kommen. Schreibt es mir einfach in die Kommentare und ich schau mal, was ich damit mache.

Danke fürs Lesen, auch wenn es Jahre gebraucht hat, bis ich einen neuen Oneshot geschrieben hab, und ich wünsch euch was!

Nachtrag: Das Bild oben, so fern Wattpad es euch sehen lässt, hat mir eine Freundin zum Geburtstag geschenkt. Danke PHLiFee, dass du dir da so Mühe gegeben hast.

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