Prolog - Rambo 2.0 bei Licht.
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Warum ließ ich mich jedes Mal bequatschen?
Wieso konnte ich nicht einmal meinen Kopf durchsetzten?
Und warum hatte ich nur das untrügliche Gefühl, dass man uns jeden Moment aus dem Kino jagen würde, wie zur Zeit der Hexenverfolgung?
Angestrengt sah ich auf die Leinwand. Der komplette Kinosaal war bis auf den letzten Platz belegt. Wieso auch nicht, immerhin wurde 'Dschungel im Dicklicht' als der neue Indiana Jones gefeiert.
Vor mir kämpfte der wirklich sexy Beau, Scott Eastwood, gegen irgendwelche Volltrottel mit Maschinengewehren. Dabei irrte der Pulk wie Rambo durch den Dschungel und wälzten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte.
Mit an Scott Eastwoods Seite war seit knapp vierzig Minuten eine blonde Tussi, die ich aus unzähligen Werbungen kannte. Gigi-irgendwas. Die Puppe war mir nicht ganz geheuer. Was war sie im Film, Bond Girl für Rambo? Ständig öffnete sie den Schmollmund und sah aus, als hätte sie sich im Film-Genre geirrt.
Action war eben ein Safe-Porno.
Überhaupt, ich begriff nicht ganz genau, worauf der Film nun hinaus laufen sollte. Bislang verstand ich, dass Scott Eastwood die Puppe, Tochter eines reichen Sackgesichts, retten sollte. Doch das dürre Gestell war bei Kung Fu Panda in die Lehre gegangen. Hätte die sich nicht selbst retten können? Wieso hatten diese Spinner in den grünen Tarnanzügen sie überhaupt entführt?
Vage hatte ich das Gefühl in den ersten vierzig Minuten ein wichtiges Gespräch verpasst zu haben. Doch bei dem Tempo kam ich sowieso kaum mit.
In der einen Minute war Scott Eastwood ein billiger James Bond und dann plötzlich eine Killermaschine, die sich nie Gedanken darüber machen musste, ob die Munition reichte. Nebenbei hatte er noch zehn Kugeln in der Brust, aber keine störte ihn besonders.
Die Puppe und Rambo 2.0 versteckten sich in irgendeiner Höhle und nachdem er kurz davor war sie durchzunagen – zumindest ging ich davon aus, dass er das vor hatte – kroch plötzlich irgendeine gruselige Tante mit bunten Tüchern und einem Glasauge aus der Dunkelheit.
Ah.
Und wer war das jetzt?
Neben mir leuchtete immer wieder Noahs Handy auf und ich hörte Getuschel. Erneut kam es mir vor, dass die Leute um uns herum nicht besonders begeistert darüber zu sein schienen, dass Noah sein Handy hoch hielt. Immer wieder knallte Licht und es sah so aus, als würde er filmen.
Dabei tat mein bester Freund nichts davon.
Auf seinem Smartphone lief lediglich die App Starks, welche quasi den Untertitel zum Film gab. Noch war die App brandneu und Noah komplett heiß darauf sie auszuprobieren. Sie sollte sowohl im Kino, als auch zu Hause vor dem Fernseher funktionieren.
Ich stand dem eher skeptisch gegenüber und wenig später wurde mir auch bewusst wieso.
„Ey du Assi! Mach dein beschissenes Handy aus!", verlangte eine harsche Stimme fünf Sitze hinter uns.
Noah reagierte nicht. Wieso auch, er hörte schließlich nicht einen Ton. Okay, vielleicht die Maschinengewehre, wenn die in voller Lautstärke durch den Saal ratterten. Für ihn waren das dumpfe Geräusche von ganz weit weg. Andere glaubten ihr Hirn wurde durchgeschossen.
Ich wandte mich nun leicht in der Dunkelheit um. Mittlerweile war mir egal, ob ich akustisch noch viel mehr vom Film mitbekam oder nicht. Denn die Logik war bei mir schon vor zwanzig Minuten flöten gegangen als Rambo 2.0 ohne Sinn ein Haus in die Luft gejagt hatte.
Popcorn flog in unsere Richtung.
Jetzt begriff auch Noah, dass irgendetwas um uns herum passierte und drehte das Handy in meine Richtung damit er mich durch das Licht besser sah. Dann gebärdete er mit einer Hand: »Was ist los?«
Ich kniff die Augen wegen der plötzlichen Sonne zusammen und erklärte: »Die Leute beschweren sich wegen deinem Handylicht.«
Noahs Miene verzog sich verdutzt: »Aber wie soll ich denn sonst lesen?«
Gute Frage, aber eigentlich las man im Kino nicht. Ich seufzte statt zu antworten und sah weiter dieser Gigi, der Gruselhexe und Rambo 2.0 dabei zu, wie sie irgendetwas bequatschten. Obwohl ich, im Gegensatz zu Noah, wirklich noch etwas hörte, riss mein geschädigtes Gehör es in solchen Momenten nicht wirklich raus.
Zum einen lag es am Getuschel der Leute und zum anderen daran, dass Noah mich mit seinem Herumgehampel ablenkte. Ich konnte mich kaum konzentrieren. Schließlich rutschte ihm sein Popcorn vom Schoß und es verteilte sich auf dem Boden.
»Was ist den jetzt schon wieder?«, fragte ich leicht genervt und er tippte wie doof auf seinem Handy herum.
Okay, dumme Frage.
Fünfzig Pfund, dass der Server der App hing und der Untertitel stehen geblieben war.
»Der Untertitel geht nicht mehr.«
Bingo.
Ich wollte mich gerade nach der Popcorn-Tüte am Boden bücken, als jemand mit M & Ms nach uns warf. Alter, wusste er wie weh es tat so ein Ding an den Kopf geschmissen zu bekommen? Wir waren doch hier nicht im Mittelalter, wo man die Leute am Pranger mit faulen Obst und Gemüse bewarf!
„Verpisst euch endlich!", dröhnte irgendjemand und gerade, als die Tüte in meinen Händen raschelte und ich sie Noah zurückgeben wollte, da leuchtete jemand meinen Rücken an. Zuerst dachte ich, dass uns zur Abwechslung jemand helfen wollte. Doch falsch gedacht.
Ein Mitarbeiter der Kino-Crew musterte uns ernst und seine Geste ließ mich wissen, dass wir unverzüglich mitzukommen hatten. Auf der Leinwand explodierte mitten im Dschungel ein Tankbehälter. Niemand fragte sich, wie das Ding dahin gekommen war. Hauptsache es knallte.
Kurz übersetzte ich Noah, dass unser Abend wohl vorbei sein würde.
Der Mitarbeiter in der albernen roten Weste brachte uns in ein schäbiges und abgenutztes Büro, dort saß... ich wusste nicht, der Schichtleiter?
Wütend musterte er uns, seine kahle Glatze glänzte, auch er trug diese peinliche Weste, nur das sie über seinem Bauch ordentlich spannte. „Sechsen!", brummte er uns an und ich runzelte die Stirn, er hatte ganz sicher 'setzten' gesagt. Denn immerhin nickte er auf zwei wackelige Plastikstühle.
Noah war verwirrt: »Was soll das?«
„He!", pampte uns der übergewichtige Meister Propper an und schlug mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch. „Hier spielt die Musik!"
Erschrocken zuckte ich zusammen. Hatte er sie nicht mehr alle?
Hinter mir sagte der andere Mitarbeiter etwas, ich war nicht schnell genug, um mich umzudrehen und auf sein Mundbild zu achten. Deshalb bekam ich auch nur die Hälfte mit.
„... dürften gleich da sein. Ein Besucher hat uns drauf aufmerksam gemacht."
Worauf bitte?
Zehn Minuten später trafen zwei Polizeibeamte ein und ganz langsam kroch die Erkenntnis in meinen Kopf vor. Mit uns wurde jedoch zuerst überhaupt nicht gesprochen. Meister Propper schien sich vor Wut jedoch gar nicht mehr ein zu bekommen. Wild gestikulierte er herum, platzte fast vor Empörung und tat, als hätten wir es gewagt in seinem Kino jemanden umzulegen und das Blut an die Sitze zu schmieren.
Schließlich musterte uns der Bulle, der starke Ähnlichkeit mit Offizier Mahoney aus der Filmreihe Police Academie hatte, feindselig.
Sein Kollege, eine schlechte Kopie von Gibbs aus Navy CIS machte jedoch den Anfang: „Wir müssen Sie bitten Ihre Taschen zu leeren." Er sah mich unverblümt an und ich wandte mich an Noah, damit ich ihm die Worte in Gebärdensprache übersetzen konnte.
»Wir sollen unsere Taschen leeren«, meinte ich nur und er runzelte die Stirn: »Wieso?«
»Tue es einfach«, antwortete ich rüde, stellte meine schwarze Handtasche mit den Aufklebern auf den Schreibtisch und kramte nach meinem Handy und präsentierte ein Chaos aus Lippenstift, Cochlea Implantat-Batterien - oder kurz, CI's - und Haargummis.
Noahs Kram gesellte sich dazu, sein Handy, Kaugummi und Kleingeld.
Special Agent Gibbs nahm Noahs Handy zur Hand und bat um den Code für die Freisperrung. Ich spielte den Dolmetscher und bemerkte die allgemeine Verwirrung darüber. Als der Polizist auf die Handydaten zugreifen konnte schien er nach etwas zu suchen.
Sein Kollege dagegen klärte uns endlich auf: „Sie wissen, dass Raubkopien im Kino mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft wird?"
„Raubkopien?", fragte ich überrumpelt. „Wir hatten nie vor den Film aufzunehmen. Wieso sind wir eigentlich hier?"
„Was ist Starks für eine App?", wollte Gibbs wissen und ich erklärte: „Sie blendet den Untertitel des Films ein. Man lässt sie einfach während des Films laufen und dann kann man auf dem Handydisplay mitlesen."
Kurz tauschten die beiden Polizisten einen Blick miteinander, dann räusperte sich Gibbs: „Und diese App wurde von Ihnen verwendet, weil...?"
„Weil mein Freund gehörlos ist und wir uns trotzdem einen entspannten Kinoabend haben wollten", half ich aus. „Ist das verboten?"
Und dann wurde es plötzlich sehr, sehr peinlich.
Für alle Anwesenden, nicht für uns.
Nach und nach klärte man Meister Propper für Übergrößen auf und sein Gesichtsausdruck wandelte sich von wütend, zu panisch. Er entschuldigte sich beschämt bei uns, während die Polizisten taten, als hätten sie diese Scharade schneller beendet. Sie zogen schließlich ab und Meister Propper bot uns mehrere Kinogutscheine mit freien Eintritt als Entschädigung für dieses unangenehme Missverständnis.
„I-Ich... mehrere Besucher haben sich beschwert", stotterte er. „Das Handy wirft Licht und... die falsche Schlussforderung lag nahe..."
Statt Erbarmen mit dem Mann zu haben, ließ ich ihn mit hochnäsiger Miene weiter sinnieren, nahm die Gutscheine an und er ließ verlauten, dass wir sämtliche Film gerne mit der App schauen könnten, ohne, dass sich jemand gestört fühlte. Dafür sollten wir in die 23 Uhr Vorstellung gehen. Nebenbei ließ er durchsickern, dass der Film aber dann bitte bereits seit drei Wochen laufen sollte.
Ich erwähnte nicht, dass wir neue Filme genauso gerne sehen wollten, wie unsere hörenden Kollegen, aber waren wir ehrlich: In der Regel warteten Noah und ich so lange, bis es den Film auf DVD gab und wir zu Hause den Untertitel einstellen konnten.
In der Regel.
Die Gesetze wurden geändert nachdem Noah die App Starks entdeckt hatte.
Draußen atmete ich tief durch und neben mir streckte sich Noah. Ich schlang gerade meinen überlangen Schal fester um mich, als er mit der Hand vor meinem Gesicht herum wedelte und gebärdete: »Das war lustig.«
Nicht wirklich.
»Wieso hast du die App nicht zu Hause vor dem Fernseher ausprobieren können?«, fragte ich sichtlich angepisst. Schließlich war es irgendwo auch peinlich, dass man uns fast der Polizei übergeben hätte.
»Die App ist speziell für das Kino gedacht, da probiere ich sie doch nicht zu Hause aus!«, äußerte er sich empört und kalter Wind zerzauste Noahs braunes Haar. Ich stampfte voran und vergrub die Hände in den Taschen meines grauen Mantels. Das sollte ihm genug Geste sein, um zu begreifen, dass ich nicht weiter reden wollte.
Noah schaltete schnell und versuchte mit mir Schritt zu halten: »Ach komm, Foxy. Das war doch irgendwie lustig.«
Innerlich wallte leichte Wut in mir auf, denn ich hasste den Spitznamen Foxy. Hielt man sich lange genug in der gehörlosen Welt auf, dann bekam man einen Gebärdennamen. Meiner erklärte sich durch meine rotblonden Haare von selbst.
Füchse waren Jäger und in gewisser Hinsicht wurden sie als Hinterhältig verschrien. Und das waren ganz bestimmt keine Eigenschaften, die bei mir zu finden waren. Doch leider bezogen sich Gebärdennamen oft auf körperlich heraus stechende Merkmale. Ich sollte vielleicht einfach froh sein, dass ich keine Warze hatte oder humpelte.
»Bist du jetzt sauer?«, fragte mein bester Freund direkt und musterte mich mit seinen treuherzigen Welpenaugen.
Nun seufzte ich und erklärte: »Ich habe diese halb gewollte Integration von Behinderten einfach satt. Wieso laufen im Kino nicht einfach sämtliche Filme mit Untertitel? Wieso mussten wir uns das jetzt wieder geben, dass uns die Leute mit Popkorn beworfen haben? Außerdem-«, kurz hielt ich inne, dann schüttelte ich mich: »-ich glaube, ich habe irgendwo ein M & M sitzen.«
Langsam ließ ich die Hände sinken.
Es war nicht das erste Mal, dass ich die Nase voll von der hörenden Gesellschaft hatte. Diese Rücksichtslosigkeit und der Drang danach uns ausgrenzen zu wollen schaffte mich. Mittlerweile war ich wirklich der Meinung, dass sie uns überhaupt keine Chance geben wollten, dass wir genauso ein Teil der Gesellschaft wurden.
Okay... das klang etwas arg pessimistisch. Ich hatte eine harte Uni-Woche und sollte vielleicht besser einfach nach Hause und mich ins Bett verkriechen.
»Lasst uns was Trinken gehen«, schlug Noah aufmunternd vor und ich fragte mich, woher er immer wieder diesen Ehrgeiz hatte, sich von Rückschlägen dieser Art nicht einschüchtern zu lassen. Immerhin war er derjenige von uns, der absolut gar nichts mehr hörte, während ich dank der modernen Medizin und Technik auf beiden Seiten ein Cochlea Implantat trug. So fand ich mich irgendwo zwischen der hörenden und der gehörlosen Welt wieder.
Genauso wie die Leidensgenossen mit einem, oder auch zwei Hörgeräten.
Noah schlang den Arm um meinen Hals und zog mich widerstandslos mit sich. Ich fuchtelte mit den Händen: »Du zahlst!«
Er grinste als Antwort und zusammen tauchten wir in der Masse der Londoner Straßen unter. So, als wären wir genauso wie alle anderen, mischten wir uns unter die Nachtschwärmer.
Vielleicht würden wir das irgendwann sein.
Wie alle anderen.
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