42 Kalter Krieg.

┊  ┊  ┊          ★ LOUIS

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Das mit meiner Schwester etwas nicht stimmte, war mir bewusst. Ich hatte zuerst geglaubt, dass Fizzy einen verspäteten pubertären Schub hatte. Zumindest passten die Aussagen meinen Stiefvaters dazu. Und auch ich redete mir fleißig ein, dass diese Art Rebellion schon nachlassen würde.

So etwas kannte ich schließlich von mir selbst.

Doch ich irrte mich gewaltig.

Kaum hatte ich mich daran gewöhnt, dass Fizzy unregelmäßig nach Hause kam, als ich nach einer langen Nacht bei Robbie und Ayda leise die Haustür aufschloss und die Hunde begrüßte, da hörte ich, dass ich nicht als Einziger noch wach war.

Als ich im oberen Stockwerk möglichst leise über den Flur ging, um niemanden zu wecken machte ich mir die Mühe umsonst. Sofort hielt ich inne und wandte mich um.

Ich hörte Fizzy kotzen und alleine bei diesem Geräusch lief es mir eiskalt den Rücken runter. Hatte sie eine Essstörung? Zumindest wäre es eine logische Erklärung dafür, dass Fizzy körperlich mehr und mehr abbaute. Sie war blass, aß selten mit uns und-

Okay... vielleicht bekam sie auch einfach die Grippe. Ich wollte nicht direkt den Teufel an die Wand malen. Viren gingen herum, das war nichts Ungewöhnliches. Gleichzeitig raufte ich mir die Haare, dass ich mir hier fleißig versuchte etwas vorzumachen.

Aber eine Essstörung war behandelbar, man konnte etwas dagegen unternehmen. Es gab Möglichkeiten Fizzy zu helfen. Ich hatte keine Ahnung von den Therapien, doch das konnte ich ändern.

Sie hörte auf zu kotzen und dann war es eine ganze Weile lang erschreckend still. Ich trat an die Tür zum Badezimmer und klopfte. „Fiz? Bist du okay?"

Ihre Antwort ließ auf sich warten, schließlich presste ich das Ohr gegen das Holz und vernahm: „Ja... alles in Ordnung... ich... habe mir nur etwas eingefangen."

„Soll ich dir etwas dagegen bringen? Ich bin sicher wir haben im Medizinschrank-"

„Nein", unterbrach sie mich hastig. „Ist schon gut, ich komme klar."

Das war ihr Mantra, sie kam klar.

Es war egal, was ich sie fragte, wann ich sie ansprach. Sie kam zurecht und damit hatte sich das erledigt. Ich wartete vor der Tür und dann rauschte die Dusche. Fizzy duschte jeden Tag und das nicht gerade kurz. Allerdings tat Lottie das ähnlich, also dachte ich mir nichts dabei.

Tief runzelte ich die Stirn und nur zögernd ging ich vom Bad weg. Bevor ich auf Tour verschwand musste ich wissen, was wirklich los war. Ich würde sonst kaum eine ruhige Minute haben. Mir war es ein Rätsel wieso ich so nervös war, während Eleanor die Geduld in Person war.

Lautlos betrat ich das Schlafzimmer und begann mich auszuziehen. Meine Klamotten hinterließen eine Spur und ich wollte das Licht nicht anmachen, um Eleanor nicht zu wecken. Trotzdem bemerkte sie, dass ich wieder da war, weil sie sich im Schlaf in meine Richtung drehte. Sie tat es schon ganz automatisch und ich legte den Arm um sie.

„Nächstes Mal iss kein Knoblauch", murmelte Eleanor und ich seufzte schwerfällig: „Warte, ich putze mir eben fix die-"

„Jetzt ist es auch egal", fand sie und ich ließ die Finger über ihre Schulter wandern. Nachdenklich sah ich an die dunkle Decke und lauschte der Stille. Doch alles, was ich hörte, waren die Hunde, die im Flur ihr Unwesen trieben und ab und an meine Freundin, wie sie seufzte. Irgendwann ging eine Tür auf und zu. Fizzy hatte das Bad also verlassen. Ob ich eben schnell aufstand und-

Eine Hand kniff mir in die Nase. „Louis, hör auf so laut zu denken!", beschwerte sich Eleanor und ich nieste. „Du machst mich wahnsinnig damit."

„Sorry, ich dachte nur gerade, dass ich Fizzy vielleicht abpassen sollte um...", ja um was?

„Um sie zu verhören oder nieder zu starren?", rief Eleanor. „Sie möchte nicht reden. Vielleicht solltest du anfangen das zu akzeptieren."

„Ich will das nicht akzeptieren, ich will wissen, was los ist!"

Neben mir stütze Eleanor sich auf: „Dumm nur, das wir nicht immer kriegen, was wir wollen. Immerhin ruft Fizzy an, wenn sie nach 22 Uhr nach Hause kommt."

„So später sollte sie nicht mehr draußen sein", fand ich und klang mittlerweile wie meine eigenen Mutter. Früher hätte ich es gehasst, aber heute war ich froh im Alltag etwas zu finden, was an Mum erinnerte.

Zum Beispiel sangen Zwillinge bei ihren Lieblingssongs von One Direction an derselben Stelle schief, wie Mum. Lottie legte die Wäsche auf genau so chaotischer Weise zusammen, wie sie und auch nach ihrem Tod kochte Dan noch dieselben Gerichte aus ihrer Kochmappe.

„Vielleicht sollten wir mit Fizzy neue Regeln aufstellen", warf Eleanor ein. Doch ich wollte keine neuen Regeln, sondern das eigentliche Problem an den Wurzeln packen.

Meine Chance kam bereits zwei Tage später und ich nutze die Zeit. Vorher hatte ich mich vorbereitet und unter vier Augen mit Preston gesprochen. Der Personenschützer und Tourmanager konnte Menschen besser lesen, als ich. Also horchte ich ihn aus, beschrieb ihn Verhaltensmuster, ohne einen Namen zu nennen und von Minute zu Minute sackte mir das Herz tiefer in die Hose.

Ich hatte also die Wahl, entweder stalkte ich hinter Fizzy her und fand Klarheit, oder ich überschritt eine Grenze, die ich immer für unantastbar gehalten hatte. Es war klar, dass ich Erstes nicht umsetzten konnte. Ich wurde in der Regel gestalkt und würde als Verfolger niemals besonders weit kommen.

Da Eleanor sich weigerte diesen Job für mich zu übernehmen, setzte ich meinen Kumpel Oli drauf an. Doch er verlor meine Schwester auf dem Campus, weil er sich von kurzen Röcken ablenken ließ. Deshalb lag es nun an mir, ich wartete, bis Fizzy ganz sicher das Haus verließ und dann machte ich mich auf zur Mission Wahrheit.

Ich schiss auf die Privatsphäre meiner Schwester und schämte mich in Grund und Boden. Aber ich wusste mir keinen anderen Rat. Denn wenn es nach Preston ging, dann blieb nur eine begrenzte Auswahl an Dingen, die sie belasteten. Entweder hatte sie eine Essstörung, Depressionen oder nahm Drogen und ich konnte nicht sagen, auf was ich hoffte.

Das war, als müsste man zwischen Cholera, Pest und Trump wählen.

Preston hatte mir verraten, worauf es bei einer gründlichen Durchsuchung ankam. Die Verstecke würden Fizzy verraten, also robbte ich unter das Bett, leuchtete mit dem Handy, checkte das Lattenrost und verschob sogar das Bett. Dann tastete ich die Schubladen im Inneren der Kommode ab, löste schließlich den runden Spiegel darüber und sah auf die Rückseite - doch nichts.

Ich blieb hartnäckig, überprüfte sämtliche Kosmetika, wo eventuell Drogen versteckt sein könnten oder hob Unterlagen an, weil dort ein Ernährungstagebuch zwischen liegen könnte. Alles was ich fand, waren dicke schwere Bücher über Gebärdensprache mit Abbildungen. Einige Stellen waren markiert.

Andere Bücher handelten über Inklusion und ihren Fortschritt. Gedruckte Blätter mit Hinweise zu verschiedenen Ausbildungen fielen mir entgegen.

Mir wurde klar, dass meine Schwester nicht nur planlos durch den Tag gekrochen war, im Gegenteil. Sie arbeitete an einer Version ihrer Zukunft. Zumindest eine gute Nachricht, die ich Dan überbringen konnte. 

Das Stärkste an Drogen, was ich bei Fizzy fand, abgesehen von Zahncreme, waren Schlaftabletten, die ihr ein Arzt verschrieben hatte. Die Dose war zwar angebrochen, aber noch gut gefüllt. Um ganz sicher zu gehen, kroch ich in den Kleiderschrank und überprüfte alles, was ich konnte.

„An deiner Stelle würde ich den Saum ihrer Winterjacke abtasten."

Vor Schreck stieß ich mir den Kopf und fluchte: „Verdammt, El!"

Meine Freundin sah mich sichtlich enttäuscht an und schlenderte in den Raum. Sie setzte sich auf das Bett und verschränkte die Arme vor der Brust: „Wirklich? Du verhältst dich gerade nicht sehr viel besser, als die Fans, die deine Privatsphäre nicht respektieren."

„Das hier ist etwas anderes!", behauptete ich und kroch tiefer in den Schrank. Ganz, wie sie es vorschlug, tastete ich tatsächlich das Futter der Jacken ab und kippte zwei kleinere Taschen aus.

Nichts.

„Ich glaube nicht, dass Fizzy ein Drogenproblem hat", sprach Eleanor und erriet so meine Gedanken. Schwanger war sie jedenfalls nicht, denn statt runder, wurde sie dünner und ich war mir sicher, dass sie zumindest Eleanor gesagt hätte, wenn sie etwas ausbrütete. Daran klammerte ich mich einfach fest.

Blieb das Bad nebenan und auch dort war ich gründlich. Doch je länger ich suchte, umso unruhiger wurde ich. Entweder waren Fizzys Verstecke richtig gut oder ich übersah etwas.

Frustriert raufte ich mir die Haare und kam zurück ins Zimmer. Dort blätterte Eleanor durch eine Klatschzeitschrift und neigte den Kopf: „Vielleicht solltest du den Teppich abklopfen."

„Mach du dich nur lustig drüber, aber wenn wir am Ende den Entzug buchen müssen, dann denke an meine Worte." Schließlich verschob ich jedes Möbelstück, aber ich stieß nur auf ein bisschen Staub. „Glaubst du, Fizzy hat eine Essstörung?"

„Wieso fragst du Fizzy das nicht selbst?", ertönte die Stimme meiner Schwester und ertappt drehte ich mich zu ihr um. 

Scheiße.

Die Hunde hatten nicht gebellt oder sie laut begrüßt. In ihrem dunklen Mantel sah sie blasser aus, als sie eigentlich war und der Wind hatte kräftig ihr Haar zerzaust.

„Wieso bist du schon wieder zurück?", wich ich aus und sie antwortete: „Ich habe ein Buch vergessen, das ich heute zurückgeben wollte." Sie schritt an mir vorbei und zog einen Wälzer vom Schreibtisch. Dann musterte sie uns: „Was genau tut ihr hier!"

Eleanor sah mich abwartend an und ich beschloss, dass Angriff die beste Verteidigung war: „Hast du ein Drogenproblem?"

Zuerst reagierte meine kleine Schwester nicht, ihre Miene verschloss sich. „Ach... das ist die Aktion hier? Wieso schnüffelt sich kein Drogenfahnder hier durch, denn ich bezweifle, dass du allzu geschickt bei der Suche bist, Louis. Du hast früher nicht Mal die Weihnachtsgeschenke bei Mum im Schrank gefunden."

Damit traf sie meinen wunden Punkt und die Tatsache, dass ich eben rein gar nichts vorweisen konnte. Wut breitete sich in mir aus, aber auch Hilflosigkeit und Frust. Ich ballte die Hände zu Fäusten, doch bevor ich platzen konnte, da mischte sich Eleanor ein.

„Leute, das bringt doch nichts", sprach sie. „Sieh mal, Fiz, dein Bruder macht sich nur Sorgen. Du verhältst dich merkwürdig und das ist eine Tatsache. Ab übermorgen ist Louis auf Tour, also versteh, dass er nur noch wenig Geduld hat und einfach nur wissen möchte, was mit dir los ist."

Gewollt, oder nicht gewollt, im selben Augenblick kopierte Fizzy meine abwehrende Haltung.

Ich hatte einen Grund pissig zu sein, nicht sie. Ging das nicht in ihren Schädel? Meine Nächte wurden vor Sorge immer kürzer und das würde auf Tour nicht besser werden.

„Nimm es deinen Bruder nicht übel, aber du sprichst mit keinem von uns und dass du Probleme hast, das können wir nicht mehr ignorieren", Eleanors Stimme war sanft und einfühlsam. „Wir wollen dir doch nichts Böses oder uns in deine Entscheidungen einmischen."

„Was dann?", Fizzys Ton war nicht mehr ganz so rau und es überraschte mich nicht, dass meine Freundin besser zum Thema kam. Eleanor lächelte: „Wir möchten nur teilhaben und wissen, was bei dir passiert und ob wir dir helfen können. Brauchst du Unterstützung bei irgendetwas?"

Fizzy antwortete nicht sofort. Schließlich entspannten sich ihre Schultern: „Nein, ich... wuppe das alleine."

„Also gibt es etwas, was dir Kummer bereitet", stellte ich laut fest. Sie wich meinem Blick aus und holte tief Luft: „Ich kriege das alleine hin, also hört auf euch einen Kopf zu machen."

Ich wünschte, das ginge so leicht. Aber stattdessen runzelte ich nur angestrengt die Stirn. Sie versicherte mir, dass sie keine Drogen nehmen würde und ich könnte das gerne anhand ein paar Haare im Labor überprüfen lassen.

Die Essstörung stritt sie nicht ab, stattdessen gab sie zu: „Manchmal... wird mir einfach übel und nein, ich bin nicht schwanger, ich schwöre es."

Mich beruhigten ihre Worte nicht. „Was ist mit einer Depression?"

Fizzy rieb ihre Handflächen aneinander, sie war nervös und sprach: „Nein, ich glaube nicht, ich meine... ich weiß nicht, was Anzeichen einer Depression sind, aber ich kriege meinen Alltag auf die Reihe. Endlich wieder. Und ich... denke, dass ich langsam einen Plan davon bekomme, was ich beruflich machen möchte. Klingt das nach einer Depression?"

Nein, eher nach einen Fortschritt.

„Im Moment... läuft es gut", fasste Fizzy zusammen. „Ihr könnt aufhören zu schnüffeln. Der Rest wird sich auch noch geben." Sie meinte damit ihr Essen, das nicht immer bei ihr blieb. 

Eleanor schien dasselbe zu denken wie ich: „Flippe nicht aus, Fizzy, aber... ich möchte dich gerne zweimal in der Woche wiegen lassen. Nur um sicher zu gehen, dass du wirklich keine Essstörung hast." Und hoffentlich würde sie meiner Schwester im Windschatten kleben.

„Okay", stimmte Fizzy zu. „Wenn dich das glücklich macht, warum nicht. Kann ich mich jetzt auf dem Weg zum Praktikum machen?"

„Sicher", nickte Eleanor überrascht von dem Entgegenkommen. Ich räusperte mich und lockerte die verschränkten Arme: „Bist du sicher, dass wir dir nicht helfen können, also bei irgendwas?"

Sie wandte sich schon fast zum Gehen, da hielt sie noch einmal inne. Mein Herz raste, ich wusste nicht, was ich erwarten sollte und wappnete mich innerlich für jede Bombe. Aber Fizzy entzündete keine Bombe.

„Hört auf zu rauchen."

Sichtlich verblüfft sahen Eleanor und ich uns an. Wir waren beide starke Raucher und es überraschte uns, dass genau dies Fizzy zu stören schien. Klar, es war ungesund und für einen Nichtraucher vielleicht nicht unbedingt toll. Aber wir rauchten schließlich schon ein paar Jahre.

„Schön", fasste sich meine Freundin als Erste. „Probieren wir es."

Und damit wurde meiner Mission mit einer eiskalten Aufforderung ein Ende gesetzt. Unnötig zu erwähnen, dass ich mir trotzdem fleißig weiter Sorgen machte.

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