37 Grenzgänger.
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Der Treffpunkt der Behindertenzentrale in der Uni war leer. Ich hatte seit einer halben Stunde Schluss und mir dröhnte der Kopf von der vielen Konzentration. Leicht brannten meine Augen, da ich meine Gebärdendolmetscher automatisch so sehr anstarrte, dass ich vergaß zu blinzeln.
Es war eine dumme Angewohnheit, doch ich konnte mich einfach nicht entspannen, wenn Claudia und Peter für mich die Übersetzung der Lautsprache übernahmen. Heimlich taufte ich sie Fred und Wilma Feuerstein, weil sie den beiden äußerlich sehr ähnelten.
Mitschreiben und zusehen schaffte mich regelmäßig. Deshalb war es auch nur normal, dass man meine Notizen am Ende der Vorlesung kaum entziffern konnte. Zu oft rutschte ich in in der Kästchenlinie ab.
Mir war das egal, das Meiste konnte ich mir ohnehin gut merken.
Auf der Fensterbank hockend schob ich mir Isabells Sandwich in die Backen. Während der Prüfungszeit machte sie sich weiter artig Lunch und aß es vor lauter Stress dann sowieso nicht. Ich war so gesehen nur ihr menschlicher Abfalleimer.
Regen klopfte gegen die große Fensterscheibe und automatisch legte ich die flache Hand auf die glatte Oberfläche. Mich entspannte es, wenn ich das ungleichmäßige Trommeln spüren konnte. Ich erinnerte mich daran, dass ich Isabell während unserer Internatszeit einst fragte, wie sich Regen anhören würde.
Darüber dachte sie lange und gründlich nach. Schließlich erklärte sie: »Man sagt, er klingt wie Applaus.«
Das war merkwürdig und ging über meine Vorstellung hinaus. Trotzdem versuchte ich mir oft vorzustellen, ob es nicht vielleicht daran lag, dass sowohl beim Regen als auch beim Applaus zwei Dinge aufeinander trafen. Regen auf den Boden und Handflächen aufeinander.
Es gab nur eines, das ich irgendwie hörte und das war der Bass in den Diskotheken. Zumindest redete ich mir dies ein. Benny war der Meinung, dass es vielleicht nur die Vibration war, die ich so heftig spürte und mein Herz zu rasen begann.
Trotzdem war es eine schöne Vorstellung tatsächlich irgendetwas zu hören.
Jemand macht das große Licht auf der anderen Seite des Raumes an und aus, ich wandte mich vom Fenster ab und sah Miss Morgan in der Tür stehen. Sie lächelte freundlich und ich tat es auch, denn sie war mal wieder so bunt angezogen wie ein Papagei.
»Schön, dass du schon da bist. Wie geht es dir?«, fragte sie mich und ich schloss die Bentobox von Isabell: »Ganz gut, ich darf wieder Foxys Essen vernichten.«
»Ah, ja ich erinnere mich, ich hoffe, sie hat sich emotional ein Bisschen besser im Griff«, Miss Morgan kannte unsere Angewohnheiten zur Prüfungszeit und ich schnaubte: »Nein, sie heult, lernt, heult, lernt und jammert. Wie immer vergisst sie alles, was nicht mit den Prüfungen zu tun hat. Heute Morgen wollte sie in Schlafanzughose zur Uni.«
Miss Morgan lachte und ich grinste ebenfalls. Mir war erst im Treppenhaus aufgefallen, dass Isabell noch immer die rosa Hose mit den Blümchen drauf anhatte, genauso wie ihre dicken, selbstgestrickten Socken. Als ich sie drauf hinwies, da sah ich ihr an, dass sie die Ist-mir-egal-Geste anpeilte, bis sie an sich herunter blickte.
Während der Prüfungszeit war Isabell einfach die Pest. Ständig gereizt, nahe am Wasser gebaut und äußerlich ließ sie sich ganz hässlich gehen. Ständig trug sie Mützen, weil sie sich die Mühe sparte, sich regelmäßig die Haare zu waschen. Benny hatte schon verlauten lassen, dass er dem ein Ende setzte, wenn sie anfing zu müffeln. Aber so weit war es Gott sei Dank noch nicht.
»Danke, dass du der Praktikantin die Universität zeigst«, merkte Miss Morgan an und setzte hinzu: »Wäre gut, wenn wir uns bald einen Gebärdennamen für sie ausdenken würden, denn immerhin bleibt sie ein paar Monate bei uns. Ich möchte nicht immer ihren Namen buchstabieren müssen.«
Da hatte sie recht, auf Dauer war es nervig. Ich wechselte das Thema: »Wann können wir uns wieder ein Konzert angucken?«
Tief seufzte Miss Morgan und kurz machte mein Herz einen Hüpfer: »Ich habe mit der Diversity – yes we can – Organisation gesprochen und die haben sich mit dem Management von Sam Smith in Verbindung gesetzt.«
Ich hatte keine Ahnung, wer Sam Smith war.
»Jedenfalls gab es Rückmeldung und im Sommer wäre es möglich sich hier in London ein Konzert von Sam Smith anzusehen. Allerdings-«, sie zögerte kurz, »- glaube ich, dass es schwierig werden wird das Vibrationsfeld sinnvoll zu nutzen, weil die Songs wenig Bass haben.«
Oh.
Enttäuscht verzog ich das Gesicht. Doch Miss Morgan lächelte tapfer: »Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass man das Konzert mit einem Gebärdendolmetscher ausprobieren sollte. Der Sound bleibt dann zwar trotzdem an manchen Stellen schwach, aber man könnte es versuchen.«
Ich nickte und wäre jeder Zeit bereit dafür. Hauptsache, es gab etwas Neues. Gerade wollte Miss Morgan noch etwas hinzusetzten, als sie sich umwandte und ich eine atmenlose Gestalt hinter ihr entdeckte. Diese Fizzy war da, reichte Papiere weiter und erklärte etwas. Ich klinkte mich sofort aus und packte meine Sachen zusammen.
Als ich damit fertig war, wandte ich mich ihnen wieder zu und Miss Morgan bewegte sowohl Lippen, als auch ihre Hände: »Dann wünsche ich euch viel Spaß. Wenn es Probleme oder Schwierigkeiten gibt, dann schreibt mich auf WhatsApp an.«
Schwierigkeiten gab es immer. Man gewöhnte sich dran.
Fizzy nickte heftig und sobald wir alleine waren, strahlte sie mich an, wie ein Honigkuchenpferd. Mit roten Wangen gebärdete sie etwas ungeschickt: »Hallo! Danke... für die Zeit.«
Überrascht antwortete ich: »Kein Ding. Gibt es irgendwas, was du wissen willst oder schon-«
»Stopp, bitte«, unterbrach sie mich fahrig, dann verzog sie angestrengt die Miene und ganz langsam ließ sie mich wissen: »Ich... lerne Gebärdensprache, aber jetzt... nicht gut.« Schließlich kramte sie nach ihrem Handy und ich stöhnte. Gott, wie ich das hasste, genauso wie dieses Zettelchen schreiben.
Sie hielt mir ihr Handy unter die Nase und ich las: "Tut mir leid, ich hatte erst zweimal den Kurs."
Okay, das sagte alles. Sie konnte sich also gerade vorstellen und einen Teil des Finger-ABCs. Ich zog mein eigenes Handy hervor und tippte: "Wer bist du?", wollte ich sie zur Vorstellung auffordern. Meine Schriftsprache war nicht besonders gut und im Vergleich zu Isabells richtig schlecht.
Fizzy blinzelte und sah mich erst fragend an, also machte ich es ihr vor: »Ich bin N-O-A-H.« Das schien sie zu verstehen und nickte heftig, dann begann sie: »Ich bin F-I-Z-Z-I.«
Kurz stutzte ich. Miss Morgan buchstabierte sie mit Y am Ende. Ich fragte nach: »F-I-Z-Z-I oder F-I-Z-Z-Y?«
Konzentriert sah sie auf meine rechte Hand als ich buchstabierte, dann erschrak sie sich und korrigierte sich: »F-I-Z-Z-Y«
Kurz nickte ich, damit sie begriff, dass ich sie verstanden hatte. Darüber schien sie sehr erleichtert. Die meisten Leute gebärdeten mit Hemmungen, Fizzy dagegen schien vor Motivation ihr neues Wissen anzuwenden, zu platzen. Wäre toll, wenn sie die Motivation behalten würde.
Ich schulterte meine Tasche und wollte loslegen. Je schneller ich ihr die Uni zeigte, umso eher war ich zu Hause, denn ich wollte noch einiges schaffen. Leider dauerte es, denn wir kommunizierten via Handy.
Angestrengt bemühte ich mich nicht allzu schnell zu gehen, damit Fizzy sich auch merken konnte, wo die Mensa und die ganzen Cafeterien waren. Ich fragte sie, ob sie die verschiedenen Bibliotheken kennenlernen wollte, aber eigentlich würde sie die für ihr Praktikum bestimmt nicht brauchen.
Die Uni hatte eine Schwimmhalle, um die man herumgehen und reinsehen konnte. Natürlich von außen. Einer von vielen Gründen den Wassersport nicht mitzumachen.
"Du machen Uni-Sport?", tippte ich meine Frage ein und energisch schüttelte Fizzy den Kopf und antwortete hastig mit ihrem Handy: "Nein, die Kurse dürfen nur Studenten mitmachen."
Fand ich sehr albern. Doch irgendwo hatte ich mal mitbekommen, dass die Kurse auch immer ratzefaxe ausgebucht waren. Isabell hatte es am Anfang mit Volleyball und Yoga probiert, allerdings fand sie keinen Anschluss und die Lust am Yoga verging ihr, weil sie sich nicht entspannte.
Ich hatte mir das Fußballtraining angesehen und sofort gewusst, dass ich besser weiterhin zum Verein, extra für Gehörlose ging. Es war schon schwierig, dass Schwerhörige und Gehörlose zusammenspielten. Mit Hörenden wurde der Umgang nur noch rauer und frostiger.
Während der Internatszeit probierte ich den Fußballverein im Ort aus und hätte mir die Erfahrung einfach schenken können. Man spielte mich nicht an, niemand machte Partnertraining mit mir und die Mehrheit fand es peinlich, dass ich den Pfiff des Schiedsrichters nicht hörte.
Das Abenteuer Fußball im Ort fand also ein jähes Ende als ich die Ignoranz und Ausgrenzung nicht mehr ignorieren wollte und der Spaß am Spiel verschwand. Ich blieb im Verein, extra für Hörgeschädigte, auch, wenn ich dafür fast 90 Minuten mit der Bahn fahren musste.
Nun zeigte ich Fizzy die verschiedenen Kopierräume, erklärte ihr, wie das Kartensystem an ihnen funktionierte, verriet ihr Abkürzungen über den Campus und bemerkte, dass sie alles gierig in sich auf sog. Da begann ich mich zu fragen, wieso sie sich nicht für ein Studium bewarb und stattdessen dieses Praktikum machte.
Vielleicht wusste sie noch nicht, was sie einmal werden wollte?
Wir huschten von einem Gebäude zum Nächsten. Mittlerweile war es dunkel und nachdem Fizzy nun wusste, wo das Forschungszentrum für Biologie und Chemie lag, waren wir mit der Führung auch fertig.
Dunkel und finster lag der Campus vor uns und als Fizzy mit ihrem Handy erneut etwas schreiben wollte, da leuchtete sie ungewollt ihr Gesicht an. Prompt sah sie aus, wie ein Mädchen aus einem Horrorfilm und ich brach in schnaufendes Gelächter aus.
Sichtlich irritiert sah sie mich an und ich lehnte gackernd gegen die Wand des C-Gebäudes. Erst als ich mich halbwegs beruhigt hatte, da nahm ich mein eigenes Handy, schaltete die Taschenlampe ein und verzog das Gesicht gruselig.
Fizzy schaltete schnell, zuerst blinzelte sie, aber dann verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem breiten Lachen. Es war das erste Mal, dass ich dieses blasse Mädchen hübsch fand. Ihr Haar wurde von den kalten Wind zerzaust und obwohl die Schatten unter ihren Augen weiterhin tief waren, so mochte ich es, wie sie lachte.
Albern und kein bisschen Verschämt.
Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, fragte ich: "Du fahren Tube?"
Knapp schüttelte Fizzy den Kopf und tat mit den Händen, als würde sie einen runden Lenker umfassen. Ich verstand, dass sie mit dem Auto hier war, also brachte ich sie bis zu den Parkplätzen, doch als ich den dicken Wagen sah, den Fizzy fuhr, runzelte ich die Stirn.
"Nicht mein Auto", stellte sie direkt hastig klar. "Es ist viel zu groß und ich kann schlecht parken."
Grinsend sah ich erneut auf die Karre. Ich konnte zwar ebenfalls Autofahren, aber in London machte ich es ungern freiwillig. Die ganze Hektik machte mich nur nervös. Ich wollte mich nun verabschieden, aber bevor ich die Hand hob, begann Fizzy noch einmal hastig auf ihrem Handy herumzutippen.
"Hast du einen Gebärdennamen?", wollte sie von mir wissen und ich vermutete, dass sie dieses Thema bereits im Gebärdenkurs durchgenommen hatte. An sich eine coole Sache, wenn man den Namen allerdings in der Pubertät bekam, hatte man ein scheiß Lose gezogen. Denn wer wollte schon 'Pickel' heißen?
»Meiner ist Superman«, gebärdete ich dreist. Fizzy bat mich die Gebärde zu wiederholen und machte sie schließlich nach. Ich würde irgendwann in Teufels Küche kommen, aber es tat gut, nicht immer für lebendigen Eiter gehalten zu werden.
"Würdest du mir mehr Gebärden zeigen?", sie blickte mich bittend an und ich zuckte mit den Schultern. Von mir aus. Wenn sie eh schon in der Zentrale abhing, dann konnte es nicht schaden ihr die eine oder andere Gestik beizubringen.
Ich hob nun endgültig die Hand, um zur Tube zu gehen. »Wir sehen uns, bis dann.« Ob sie mich verstand, wusste ich nicht, aber sie schien sich zumindest nicht krampfhaft am Handy als Hilfsmittel festzuhalten
»Danke dir!«
Vorsichtshalber wartete ich, bis sie sich umwandte und die Monsterkarre aufschloss. Als sie drin war und den Wagen startete, da schlug ich endlich die Richtung nach Hause ein. Mir war kalt und ich sehnte mich nach der warmen WG.
Und schon wieder nach Essen.
Hoffentlich hatte Benny unsere stinkende Wäsche eingesteckt. Immerhin war er dran. Ich brauchte spätestens übermorgen frische Socken und Boxershorts. Doch so, wie ich meinen besten Freund kannte, steckte er entweder bis zum Hals in Arbeit oder kümmerte sich um Fluffy, den Isabell uns andrehte.
In der Tube ließ ich mich schwerfällig auf einen der Sitze fallen und atmete tief durch. Den Rucksack auf den Schoß ließ ich den Blick durch die Tube schweifen. Sie war nicht sehr voll und ich war froh drüber.
Um der Langeweile zu entfliehen schrieb ich Mozzie und Benny auf WhatsApp. Ich erkundigte mich bei Sunny, wie ihr Zeugnis so war und tastete mich bei Isabell vor, ob man sich wieder mit ihr Unterhalten konnte oder sie einen immer noch bei einem falschen Wort auffraß.
Mich wunderte es sowieso schon, dass Benny noch lebte. Mein bester Freund schlug sich jedoch tapfer, scheinbar nahm er sich den Rat, den ich ihm vor Weihnachten gab, zu Herzen. Ein bitterer Beigeschmack breitete sich in meinem Mund aus.
Ich konnte nicht behaupten, dass ich es toll fand zu wissen, dass mein bester Freund in meine beste Freundin verknallt war, aber ändern tat ich es auch nicht. Eigentlich sollte ich Benny stärker unterstützen. Doch Isabell war verliebt in diesen Boyband-Typen und den konnte ich ihr wohl kaum ausreden.
Herzschmerzdrama war einfach nicht meine Baustelle.
Müde ließ ich das Handy sinken und dabei bemerkte ich einen musternden Blick. Der Typ, zwei Reihen vor mir sah mich neugierig an, schließlich grinste und zwinkerte er. Er trug eine dieser großen Nerdbrillen und sein dunkler Wuschelkopf wirkte unordentlich und verwegen.
Ich hatte eine Schwäche für Streber oder Clark Kent – Versionen.
Scheinbar würde ich vielleicht noch ein Bisschen später nach Hause kommen. Je nachdem, was die nächsten fünfzehn Minuten passierte. Und fünfzehn Minuten konnten eine Ewigkeit sein.
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