34 Waffenstillstand.

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Die Tage bei Harry waren mir vorgekommen, wie ein Kurzurlaub und ich wäre wirklich gerne noch länger bei ihm geblieben. Aber Alltag ließ sich nicht ignorieren und ich musste noch zwei Essays für die Uni schreiben.

Zu Hause erwartete mich jedoch eine Überraschung. Oben im Flur verlief nun ein langes Wandregal entlang. Eine rote Schleife klebte an einem Regalbrett und eine Karte dazu. Noah und Benny schenkten mir den Platz für all meine Bücher und obwohl es nur ein riesiges Regal war, freute ich mich wahnsinnig.

Ich begann sofort die Stapel an Bücher und vollen Kisten in den Flur zu schieben und einzusortieren. Nach einer halben Stunde war ich allerdings nicht mehr alleine. Benny kam nach Hause und entdeckte mich, wie ich umgeben vom gedruckten Papier auf dem Boden saß und versuchte die Bücher zu sortieren.

Verblüfft blinzelte er und stellte die Kiste ab, die er die Treppen hochgetragen hatte. „Was machst du schon hier? Ich dachte du kommst erst nächste Woche."

„Ich wohne hier", sprach ich und rollte mit den Augen. „Übrigens, danke."

Unwirsch zuckte Benny mit den Schultern: „Kein Ding. Hier war noch Platz und die Regale nicht teuer." Na das hörte man doch gerne, dass man ein Schnäppchen war. Ich schob ein paar Bücherstapel zur Seite, damit Benny durchgehen konnte und meinte: „In der Küche sind noch Plätzchen, falls du welche haben möchtest."

„Später", war die knappe Antwort und in einem Ruck hob Benny seine Kiste hoch. Just in diesem Moment gab der Boden nach und der Inhalt verteilte sich. Frustriert stöhnte er und kickte den kaputten Karton hinter sich die Treppe runter.

Ich sah auf den Inhalt und blinzelte. Vor mir lagen mehrere Handys, noch in der Originalverpackung, aber auch Fotokameras und Objektive und Festplatten. Nur langsam begann ich ihm dabei zu helfen die Sachen einzusammeln. „Was ist das alles?"

„Die Youtuber, für die ich arbeite kriegen immer eine Menge Werbung und sie haben nach den Feiertagen aussortiert. Demnach durfte ich den Krempel mitnehmen", erklärte er mir mäßig begeistert. „Allerdings brauche ich keine sechs Handys und eine vernünftige Kamera habe ich bereits."

Einen Moment lang sah Benny mich an, dann meinte er: „Nimm dir, was du brauchst."

Überrumpelt blickte ich auf die Sachen und gab zu: „Ich habe überhaupt keine Ahnung davon. Weder von diesen Handys, noch von Fotoapparaten."

„Die einfachen Sachen kann ich dir zeigen", behauptete Benny und er setzte hinzu: „Du wirst doch bestimmt mit diesem Harry mal auf Tour gehen, wäre doch cool, wenn du Fotos machen könntest."

An so etwas hatte ich bislang noch gar nicht gedacht. Denn er hatte recht, ich hoffte durchaus Harry auf Tour mal besuchen zu können und dann wollte ich natürlich so viel wie möglich festhalten. Also griff ich zu einem neuen Handy und einer Fotokamera, doch Benny reichte mir weitere Päckchen.

„Hier, das ist ein passender Objektiv dazu und Speicherkarten zum wechseln."

Kein Plan, wofür ich all das brauchen würde, doch ich stapelte es und zu meiner Verblüffung fragte Benny mich: „Bringst du Harry zum nächsten Hearzone-Dreh mit?"

„Ich weiß nicht, wie sein Terminkalender aussieht, außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass er sich... nun ja, besonders wohl fühlt, wenn er bei 'uns' ist", gab ich zu. Harry hatte sich Mühe gegeben, ich sah es ihm beim Deaf Slam an und natürlich konnte ich ihn sogar verstehen. „Ich denke, 'wir' haben ein großes Talent, wenn es darum geht nicht nur uns selbst auszugrenzen, sondern auch Leute von außerhalb, die nicht so sind wie wir und kein Handicap haben."

„Das stimmt", warf Benny ein. „Soyun und Noah verhalten sich nicht richtig, was das angeht."

Als er es laut und offen aussprach, da begriff ich, dass Benny recht hatte. Mozzie hatte sich sehr bemüht, was Harry anging, aber auch Amanda. Doch von Soyun und Noah war ich in gewisser Weise schon ein Bisschen enttäuscht, auch wenn ich das Verhalten nicht anzukreiden hatte. Ich konnte sie nicht zwingen, wenn sie nicht wollten.

Benny half mir die Sachen in mein Zimmer zu bringen und meinte schließlich: „Bring Harry einfach öfter mit, dann gewöhnen sie sich an ihn." Ob das wirklich möglich war?

Nachdem er gegangen war und in sein eigenes Zimmer verschwand, da fühlte es sich zu meiner Verblüffung ein bisschen so an, als hätten wir gerade inoffiziell einen Waffenstillstand beschlossen.

Und das Besondere war, er hielt an.

Benny provozierte mich nicht mehr, er blieb höflich, nahm sich Plätzchen, hielt sich an den Putzplan und tat nichts, weshalb ich über ihn hätte herziehen können. Das irritierte mich so sehr, dass ich meiner besten Freundin vom achten Weltwunder erzählte. Amanda fragte genauso verwirrt zurück, ob er krank sei oder sich den Kopf gestoßen hätte.

Als ich Noah das Ganze petzte, da zuckte er in der Bahn nur mit den Schultern. Wir mussten viel zu früh wieder zur Uni und ich hatte so gehofft, vorher noch einmal Harry treffen zu können - doch Pustekuchen.

»Du wolltest, dass Kaptain netter zu dir ist, also beschwere dich nicht«, behauptete mein bester Freund und schob sich die dicke Wintermütze aus der Stirn. Seine Laune war noch immer sehr schlecht. 

Die Ferien zu Hause hatten sich arg auf Noahs Gemüt ausgewirkt. Er wirkte erschöpfter und angespannter, als in der Klausurenphase und musste den inneren Akku erst einmal wieder aufladen. Was vorgefallen war, darüber wollte er nicht reden.

»Ich freue mich ja auch, aber mich würde interessieren, woher die plötzliche Erkenntnis kommt«, gebärdete ich und hielt mich gerade noch rechtzeitig an Noahs Arm fest, denn die Tube bremste unbarmherzig.

Brummig ließ Noah das zu und gebärdete: »Hat 'Mutti' dich auch angeschrieben?« Auf mich ging er nicht weiter ein und ich verstand den Wink sofort. Er wollte das Thema wechseln. Ich verzog nun das Gesicht und dachte an Miss Morgan, die Betreuerin der Behindertenzentral der Uni. »Nein, wieso sollte sie?«

»Sie hat einen neuen Praktikanten und ich soll ihm nächste Woche ein bisschen den Campus zeigen«, fasste er zusammen und langsam verstand ich. Der Praktikant würde 100 pro nicht gebärden können und Noah hasste es sich nicht richtig verständigen zu können. Die Schreiberei auf dem Handy oder auf einem Zettel nervte ihn irgendwann nur noch. Oder er las so konzentriert Lippen, dass er danach definitiv ein großes Bier brauchte.

»Nimm es sportlich«, konnte ich dazu nur sagen und knuffte ihn in die Seite. »Immer positiv denken. Wenn du den Tag geschafft hast, dann gebe ich dir definitiv ein Bier aus«

Im nächsten Moment war ich allerdings vollkommen im Bilde, was Noahs Laune eigentlich so schlecht bleiben ließ. Denn er setzte hinzu: »Mein Bruder kommt außerdem nach den Semesterferien zu uns, er möchte sich die Universitäten in London ansehen und meine Mutter will, dass ich mich drum kümmere.«

Scheiße.

Da wäre meine Laune auch im Keller. Ich hatte Alec das letzte Mal getroffen, als Noah und ich aus der Schule entlassen worden waren und schon damals merkte man, dass er sich distanzierte. Während der Zeugnisverleihung und Abschlussfeier waren auch Noahs Eltern eher Menschen, die man nur als Schatten in Erinnerung hatte und die sich an einen anderen Ort wünschten.

»Hast du ihnen erklärt, dass das Blödsinn ist?«, fragte ich unnötigerweise und Noah nickte: »Am liebsten würde ich Alec einen Stadtplan in die Hand geben und ihn zusehen lassen, wie er klar kommt. Wahrscheinlich wird er das sowieso so tun.«

Ich seufzte tief, das mochten ja großartige Feiertage gewesen sein. »Immerhin bleibt der Depp nur eine kurze Zeit.«

Mein bester Freund nickte missmutig und wir stiegen schließlich an der passenden Haltestation aus. An der Treppe fiel mir ein: »Müssen wir uns für Alec einen Gebärdennamen überlegen?«

»Das ist er nicht wert«, behauptete Noah kurz und ich grinste. Wir gingen an einem Werbeplakat vorbei und ich erkannte die Vermarktung vom Comebackalbum von One Direction und mir fiel ein, was Benny gesagt hatte.

Ich wedelte kurz mit der Hand, um Noahs Aufmerksamkeit zu bekommen und als er mich ansah, da fragte ich: »Ist es okay für dich, wenn ich Harry Potter ab und an mitbringe?«

Noah runzelte die Stirn, schließlich zuckte er mit den Schultern: »Mir egal.«

Das machte mich wütend. »Mir aber nicht!«

Zu meiner Verblüffung blieb er auf den Stufen stehen und blickte kurz das Plakat an, dann gab Noah zu: »Es ist nicht so, dass ich Harry Potter nicht in Ordnung finde. Er hat sich wacker geschlagen beim Deaf Slam. Dafür, dass er niemanden kannte und nichts verstand.«

»Aber?«, ich spürte, dass es da ein ganz großes Aber gab und Noah log mich in dieser Hinsicht auch nicht an. Er gestand: »Ich glaube, dass sich Harry Potter bei uns nicht wohlfühlen wird und ich kann das durchaus verstehen. Das ist nicht einmal negativ gemeint und liegt nicht ausschließlich an ihm.«

Nun schluckte ich hart und wurde dann von Noah überrascht: »Ich mag es, dass er dich ansieht, als würdest nur du in seiner Gegenwart zählen. Jeder von uns hat das bemerkt und ich denke, für dich würde er sich jeder Zeit bemühen, sich in deiner Welt nicht gänzlich fremd zu fühlen.«

Just in diesem Moment lief ich knallrot an, denn ich hatte nie darauf geachtet, wie Harry und ich uns in der Nähe meiner Freunde verhielten und wie wir auf sie wirkten. Ich wollte nur, dass er dazugehörte.

»Ihr habt viel zu viel verknallte Luft um euch herum«, fand Noah und er grinste breit. »Ehrlich gesagt sind wir alle froh, wenn er bald auf Tour geht, denn so wirst du hoffentlich um einiges erträglicher.«

»Ich BIN erträglich!«, behauptete ich und reckte gespielt arrogant das Kinn vor. Die Laune meines besten Freundes besserte sich etwas. In der Uni trennten sich unsere Wege, jeder musste in seine eigene Vorlesung. Zum Mittag würden wir uns in der Teeküche der Behindertenzentrale treffen.

Mit purer Absicht hatten Noah und ich einst unsere Stundenpläne so gelegt, dass wir in etwa dieselben Wartezeiten und Pausen hatten. Nicht immer konnten wir das gut umsetzen. Ziemlich fertig, obwohl ich Gebärdendolmetscher gehabt hatte, schleppte ich mich fast zwei Vorlesungen später in die Teeküche.

Es überraschte mich nicht, dass sie leer war. Noch hing in jeder Ecke irgendein Weihnachtskram und automatisch ließ ich mich auf meinem typischen Platz auf der Eckcouch fallen. So sehr ich Kunstgeschichte auch liebte, so sehr fand ich, dass man etwas auch totlabern konnte. Wenn die Prüfungen vorbei waren, dann konnten wir erst einmal alle aufatmen.

Ich zog meinen Rucksack zu mir und packte das Essen aus, das ich mitgenommen hatte. Ein großer Schluck Zitronentee und mir ging es prompt besser. Statt nach Brot und gesundem Fraß, war mir nach viel Schokolade und Pizza.

Noah erschien zehn Minuten später, genauso motiviert, wie ich. Einführung in die Numerik hatte ihn für heute Schachmatt gesetzt. »Ich will nach Hause.« 

Da konnten wir uns die Hand geben. Gerade wollte ich ihm die eine Hälfte meiner Stulle anbieten, da fiel er mit dem Oberkörper voran auf die Couch und blieb geschafft liegen.

Hinter ihm trat Miss Morgan in den Raum und lächelte, als sie uns entdeckte. Ihr Büro war direkt nebenan. Vielleicht hatte sie uns gehört.

»Schön euch wiederzusehen«, begrüßte sie uns. »Waren eure kurzen Ferien gut?«

Ich nickte, während man von Noah die Ja-Gebärde sah. Nur langsam drehte er sich auf den Rücken und setzte sich auf. Gleichzeitig blinzelten wir, denn Miss Morgan trat zur Seite und erklärte: »Darf ich meine neue Praktikantin vorstellen?«

Bevor sie weiter gebärden konnte, entwich mir ein: „Hey Fizzy." Auch mein bester Freund erkannte das brünette junge Mädchen wieder. Fizzy selbst grinste verlegen: „Hallo, ich hoffe, es stört euch nicht, dass ich... ähm... die nächsten Wochen hier bin."

Automatisch übersetzte ich für Noah mit und prompt schüttelte er den Kopf und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann streckte er sich nach der anderen Hälfte meiner Stulle aus und nahm sie sich. An seiner abgewandten Körperhaltung erkannte ich, dass er erst einmal runterkommen wollte und ihm nicht der Sinn nach Kommunikation stand.

„Schön, dass ihr euch schon kennt", sprach Miss Morgan, die ebenfalls verstand, dass sie auf die Gebärdensprache verzichten konnte. „Dann lasse ich dich für deine Pause mal hier, Felicite. Möchtest du auch einen Kaffee?"

Fizzy schüttelte dankbar den Kopf und nachdem Miss Morgan zur Cafeteria abgezischt war, setzte sie sich zu uns. Ich grinste: „Dann bist du die Praktikantin, die Noah nächste Woche über den Campus schleppen soll?"

„Ich hoffe, es macht ihm nichts aus", sprach sie mit einem Seitenblick auf meinen besten Freund. Automatisch schüttelte ich den Kopf, auch wenn die Wahrheit ganz anders aussah. Viel mehr interessierte ich mich nun, wie sie darauf kam ausgerechnet ihr Praktikum hier zu machen.

„Eigentlich wollte ich ein Praktikum bei der Stadt, im Bereich Behindertenhilfe machen, weil ich gesehen habe, dass sie Ausbildungsplätze vergeben", erzählte sie und packte ihr eigenes Mittagessen aus. „Eleanor meinte nämlich, ich sollte mir langsam überlegen, was ich mit meinem Leben anfangen will."

„Und da kommst du ausgerechnet auf den Bereich Soziales?", fragte ich verdattert. Die Meisten in ihren Alter und aus der Nische interessierten sich eher für Mode, Schminke und Influencer-Kram. Ich hatte Silvester schließlich gesehen, wie viel Zeit die Mädels aufbrachten, um auf einer Party ein gutes Bild zustande zu kriegen. Dass sie dabei irgendwie den eigentlichen Spaß verpassten, schien keine von ihnen einzusehen.

Fizzy grinste verschämt: „Mir hat der Deaf Slam richtig gut gefallen und ich habe mal geschaut, wo Gebärdenkurse angeboten werden und ob man das gut lernen kann. Um Gebärdendolmetscher zu werden müsste ich in Newcastle studieren und weil ich nicht unbedingt der Typ für ein Studium bin, habe ich mich nach Alternativen umgesehen."

„Sehr cool", fand ich. „Die Gebärdenkurse gibt es-"

„-in Islington, ich weiß", Fizzy nickte. „Der Kurs beginnt nächste Woche und ich habe mich schon angemeldet. Jedenfalls-", sie neigte leicht den Kopf. „-die Stadt vergibt Praktika solcher Art nicht, aber sie haben mich hier hin vermittelt und voilà, hier bin ich."

Ich wandte mich an Noah, der uns nur schweigend angesehen hatte, dann ließ ich ihn wissen: »Sie lernt ab nächster Woche Gebärdensprache

Im ersten Moment schien er sichtlich verblüfft, aber zu mehr als ein: »Cool«, ließ er sich nicht hinreißen. Mir gegenüber räusperte sich Fizzy: „Ähm... Isabell, ich glaube dein Handy ist gegangen."

Leicht verwirrt kramte ich danach in meiner Tasche und tatsächlich. Heute morgen hatte ich aus Versehen den Ton angemacht. Es war schon beängstigend, wie gut man mit einem normalen Gehör hören konnte. Schnell ging ich meine Nachrichten durch und erkannte, dass Harry mir geschrieben hatte.

Prompt flatterten Schmetterlinge durch meinen Magen und Harrys verheißungsvolle Worte machten es nicht gerade besser.

'Hast du morgen Abend Zeit? Ich habe eine kleine Überraschung für dich.'

Vorfreude war die schönste Freude. Wobei mir Harry selbst als Überraschung schon völlig ausreichen würde. 

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