28 Zu Hause.

┊  ┊  ┊          ★ ISABELL

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»Harry wirkt nett.«

Amanda lag nach dem Deaf Slam neben mir im Bett. Wir hatten als Gruppe noch was im Pub getrunken, dann waren wir nach Hause aufgebrochen. Die Familie meiner besten Freundin lebte in London, doch bevor Weihnachten begann, verbrachte sie die Nacht in meiner WG.

»Nur nett?«, horchte ich belustigt und setzte mich in den Schneidersitz. Es bedeutete mir viel, dass Harry heute mitgekommen war. Neben ihm zu sitzen und den Slam mit ihm zu genießen war wunderbar gewesen.

Ich hoffte sehr, dass er sich nicht allzu fremd gefühlt hatte. Am Ende des Slams dröhnte mir der Kopf vor lauter Konzentration. Zu übersetzten war nicht so leicht, wie manch einer glaubte. 

Amanda schien nachzudenken: »Er ist ein hübscher Kerl.«

»Oh ja«, stimmte ich automatisch zu und musste grinsen. Meine beste Freundin kicherte: »Dumm nur, dass das Millionen andere Mädchen auch so sehen. Kommst du damit eigentlich klar?«

Ehrlich gesagt hatte ich mir darüber noch nie einen Kopf gemacht und Amanda gebärdete weiter: »Mich würde das voll stören, wenn hinter meinem Kerl so viele Weiber her wären.«

»Irgendwie verdränge ich das immer sehr erfolgreich«, gab ich zu. Amanda verzog belustigt das Gesicht: »Würde ich wahrscheinlich auch tun. Trotzdem bin ich gespannt. Du bist noch nie mit einem Hörenden ausgegangen und Harry Potter ist ab Februar auf Montage.«

So konnte man das auch nennen, wenn Harry auf Tour ging. 

Ich runzelte jedoch die Stirn: »Harry Potter?«

Amanda nickte: »Wir dachten, es wäre der perfekte Gebärdenname für deinen Freund.« Um Harry Potter zu gebärden, zog man mit dem Zeigefinger auf der Stirn die Blitznarbe nach. »Er hat grüne Augen und genauso einen Fusselkopf wie Harry Potter, den du nebenbei auch noch vergötterst. Also passt das doch.«

Ich brach in lautes und schallendes Gelächter aus, alleine die Vorstellung, dass sie Harry jetzt alle angelehnt an Harry Potter nannten, amüsierte mich. Schwerfällig warf ich mich neben Amanda in das Kissen und sah an das Poster meiner Decke. Meine beste Freundin wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum: »Ich hoffe, dass du dich mit Harry Potter in nichts verrennst.«

»Wieso glaubst du so etwas?«, fragte ich sie und drehte mich in ihre Richtung. Amanda zuckte mit den Schultern: »Du bist nicht so der Fan von zusätzlichen Drama und Harry Potter riecht, als hätte er drin gebadet.«

»Harry Potter ist eben ein Abenteurer und Held«, konterte ich und sie zwickte mir in die Seite: »Wir labern über deinen Harry Potter, nicht über den da!« Sie deutete an die Decke, wo sich das Harry Potter – Poster befand.

Eine Weile schwiegen wir und lagen lediglich nebeneinander. Neben uns lag eine offene Tüte mit trockenen Plätzchen, die Amanda mitgebracht hatte. Sie verschenkte gerne Selbstgebackenes und ich liebte das.

»Denkst du, ich sollte das mit Harry Potter lassen?«, fragte ich sie direkt und meine beste Freundin rollte sich auf den Bauch, sie musterte mich: »Nein. Du bist total verknallt in ihn und bei ihm sieht es genauso hoffnungslos aus.«

Prompt musste ich sie mit einem Kissen schlagen, doch sie gab schnell auf und erklärte: »Stürze dich voll rein, ich meine, mehr als schief gehen kann es nicht, außerdem ist es mit Harry Potter doch sicher total aufregend. So viel Neues, so viele Dinge, die du sehen kannst und Leute, die du triffst.«

Sie spielte auf Harrys Status an und was er so an Zusatzgepäck mit sich brachte. In ihren Augen konnte das auch spannend sein und irgendwo hatte Amanda da auch recht. Ich sollte nur, um die Leute in Harrys Umfeld zu kennen, langsam anfangen Käseblätter zu lesen.

»Und nebenbei bringst du mir Souvenirs mit«, setzte sie hinzu und ich prustete in mein Kissen: »Soll ich Fotos von den Wohnzimmern machen, in denen Harry Potters Freunde leben?«

»Das Gästeklo tut es auch«, lenkte Amanda ein und wieder lachten wir. Ich vermisste solche Nächte, in denen wir einfach nur Blödsinn redeten. Oft genug wünschte ich mir, Amanda würde nach London zurückkehren, aber sie liebte Manchester. Die Stadt, ihre Arbeit, die Wohnung und die Freunde dort, und ich konnte das ein Bisschen verstehen.

Wir schliefen in der Nacht nicht allzu viel, stattdessen tuschelten, lästerten und alberten wir herum. Noch einmal bequatschten wir den Deaf Slam und wie ich, hatte Amanda bei Noah Pipi in den Augen gehabt.

»Ich habe nie gemerkt, dass er irgendwie geübt hat«, gab ich zu, während sie meinte: »Gaaaanz kurz fand ich ihn 5 % weniger blöd.«

Sie fand Noah nicht blöd, sie hatte nur eine kleine Schwäche für ihn, die sie sich weigerte einzugestehen. Von mir aus konnte sie noch zehn Jahre weiter so machen.

Viel zu früh blitze am Morgen mein Wecke. Ich musste jedoch meinen Zug nach Hause bekommen und Amanda bei ihrer Familie antanzen. Draußen schneite es so stark, dass ich kurz glaubte, wir wären über Nacht in ein Paralleluniversum gereist. Hoffentlich schaffte ich es bis nach Cotswolds. Der Zug fuhr auf jeden Fall bis nach Gloucester, aber ob Flint mich bei diesem Wetter vom Bahnhof abholte, blieb fragwürdig.

Fest umarmte mich Amanda zum Abschied, in ihrem roten Mäntelchen sah sie aus wie Rotkäppchen und rang mir das Versprechen ab, dass wir uns vor Silvester auf jeden Fall noch einmal sahen und zusammen Frühstücken gingen. Damit schulterte sie ihre große Reisetasche und verschwand, wie ein einsamer Jäger hinaus auf die verschneiten Straßen.

Gestreut war vor unserer Haustür schon, wahrscheinlich hatte Noah das bereits getan. Sein Zug war um kurz nach sechs gegangen, bis nach Scarborough war es eine halbe Weltreise. Ich wusste, dass Noah am liebsten Weihnachten hier verbracht hätte. 

Er fuhr äußerst ungern nach Hause, allen voran, weil er sich dort komplett ausgeschlossen fühlte. Seine Eltern vermieden die Gebärdensprache und auch der Rest seiner Verwandtschaft war ähnlich rücksichtslos.

Ganz früher war es für ihn noch halbwegs erträglich gewesen, weil sein jüngerer Bruder sich zumindest bemühte, die Gebärdensprache zu lernen. Doch nachdem die Pubertät vor einigen Jahren bei Alec einsetzte, war auch er nur noch ein Depp. Aber was erwartete man auch von einem 16-Jährigen, der sich nun für alles zu cool fühlte?

Ich wuchtete eine Stunde, nachdem Amanda gegangen war, meinen Rollikoffer die Treppen runter und war froh, dass ich Noah sein Weihnachtsgeschenk gestern schon gegeben hatte. Er selbst ließ mich wissen, dass ich meines erst bekam, wenn Neujahr begann.

In der Küche stellte ich die Tüte für Benny hin. Zuerst hatte ich ihm gar nichts schenken wollen, doch richtig kam mir das auch nicht vor. Besonders, weil ich wusste, dass er die Feiertage hierblieb. Mit seiner Familie hatte er keinen Kontakt mehr, seit er auf eigenen Beinen stand. Was vorgefallen war, darüber hüllte sich Noah in Schweigen.

Schlussendlich hatte ich Benny für das Auto einen Thermobecher gekauft, bunt, lustig und mit der Schrift 'Morgenmuffel'. Dazu ganz viele Teesorten und rote, kuschelige Weihnachtssocken. Irgendwie kam es mir traurig vor, Benny hier so alleine zu lassen, auch, wenn es ihm wahrscheinlich nicht einmal etwas ausmachte und Noah sofort mit ihm tauschen würde.

Ich verschwand schließlich vollgepackt Richtung Tube. Dumm hoffte ich, dass ich mit weniger Gepäck zurückreisen würde. Warum ich Harrys Geschenk mitgenommen hatte, statt es direkt auszupacken, grenzte ebenfalls an sentimentaler Blödheit, denn ich würde es nur wieder zurückschleppen müssen.

Die Züge waren brechend voll, sämtliche Menschen schienen in die Weihnachtsferien zu verschwinden. Ich fand nicht einmal einen Sitzplatz und meine Laune wurde von Minute zu Minute schlechter. Zweimal musste ich umsteigen und zweimal hatten die Züge natürlich Verspätung.

Ich fror mir den Hintern ab, während ich auf einem Bahnsteig in der Provinz auf den Anschluss wartete. Einzig die Kurznachrichten, die ich mit Harry schrieb, vertrieben mir die Zeit. Ab und an trudelte eine Nachricht von Noah ein, aber er schlief wahrscheinlich die meiste Zeit im Zug nach Hause. Im Gegensatz zu mir war er nicht zu geizig gewesen sich einen Sitzplatz reservieren zu lassen.

Harry stöhnte jetzt schon darüber, was für ein Aufwand es war, die ganze Sippe bei sich zu Hause zu haben. Zu viele Lebensmittel, zu viel Bettzeug und zu viel darauf achten, wie jedes Staubkorn lag. Ich bemitleidete ihn sarkastisch und er schickte mir ein Video, auf dem sah ich, dass er den Geist von Weihnachten mit Füßen getreten hatte.

Mein Geschenk war bereits ausgepackt worden und hing im Flur. Doch irgendwie konnte ich ihm nicht böse sein, denn das Bild passte zu den anderen und Harrys Gesicht nach war es eine gute Idee gewesen. 

Wir probierten es aus per Facetime miteinander zu telefonieren, aber das klappte nicht besonders. Ich sah Harry zwar, aber ich verstand nicht ein Wort davon, was er sagte. Schließlich sollte ich reden, doch ich kam mir dämlich dabei vor. Als würde ich mit mir selbst sprechen.

Wir kehrten also zum Schreiben zurück.

In Cotswolds war der kleine Bahnhof so eingeschneit, dass ich fast die Treppen des Gleises runtergerutscht war. Meine Nase war gefroren, ich glaubte meine Finger nicht mehr zu spüren und war unglaublich froh, dass mein Bruder schon mit dem Auto da war.

Hochgewachsen, groß, wie ein Berg und mit einer albernen Mütze, die Hörnchen hatte, sprang er aus seiner kleinen Karre und breitete die Arme aus. „Isa!", grölte er, sodass die Oma neben ihm erschrocken zusammenzuckte.

„Flint!", rief ich genauso euphorisch zurück und ließ mich in seine starke Umarmung ziehen. Einmal verlor ich den Boden unter den Füßen und anklagend brüllte ich: „Du elender Raucher! Du wolltest aufhören!"

Er setzte mich wieder ab und gestand: „Ich habe auch aufgehört. Drei Wochen, dann habe ich wieder angefangen."

„Mum wird wahnsinnig enttäuscht sein", klagte ich ihn an, doch mein Bruder seufzte nur schwerfällig: „Nun ja, sie weiß es schon und hat es überlebt."

„Wie sieht es mit dir aus?", horchte ich und er verzog übertrieben das Gesicht: „Ich glaub', ich höre links nichts mehr durch ihre Predigt, wie kurz mein Leben doch sein wird blablabla."

Das klang nach meiner Mutter, dazu viermal die Woche Sport, eine Ernährung ohne Zucker und Gluten und man eroberte ihr stolzes Herz. Zumindest machte sich Weihnachten puncto Ernährung eine Ausnahme.

In der kleinen Karre meines Bruders war es warm und ich erkannte den Beat von 'Last Christmas' und während Flint das Lied mitträllerte, sah ich, wie es weiter schneite. Die Straßen wurden freigeräumt und Flint fuhr wie ein Rentner mit grauem Star.

Es war schön langsam nach Hause zu kommen, die vertrauten Straßen, Häuser und Geschäfte von Cotswolds zu sehen und die kitschige Weihnachtsdeko zu genießen. Viele Bewohner schmückten die Tannen in ihrer Einfahrt, überall waren also Christbäume und zahlreiche Kinder zog mit ihren Schlitten über die Bürgersteige. Hier und da grüßte ein Schneemann.

Man könnte meinen, wir waren in ein Bilderbuch gepurzelt.

„Ich bin immer noch enttäuscht, dass ich dieses Jahr keine Plätzchen geschickt bekommen habe", beschwerte sich Flint, als wir in die Einfahrt rollten. Schwungvoll stieg ich aus und erklärte zum dritten Mal: „Noah und ich hatten keine Zeit zum backen. Seit wir für Hearzone die Videos machen, bin ich froh, wenn ich Mal ausschlafen kann." Außerdem verbrachte ich meine Zeit lieber mit Harry als in der Küche zu stehen.

Mein erstes Zuhause sah aus, wie ein zu großes britisches Cottage. Mir war nie aufgefallen, wie gemütlich es von Außen aussah, bis ich ins Internat kam. Im Inneren hielt Mum es modern und sobald ich die Haustür aufstieß, roch es vertraut und heimisch.

Flint wuchtete den Koffer so herzlos in die Ecke, dass ich ihn anfuhr: „Du kriegst dein Geschenk in Scherben!"

„Hoppla", war seine einzige Entschuldigung, er zog sich die alberne Mütze vom Kopf und entblößte dunkelblondes Haar. „Willkommen in der Hölle", kommentierte er mit einem Grinsen und prompt wurde ich von unserem alten Dackel Mr. Big angekläfft. Er stieß zu uns, als meine Eltern eine vorübergehende Pause ihrer Ehe ausprobierten.

Es endete damit, dass mein Vater sieben Wochen in einen muffeligen Hotel wohnte und meine Mum sämtliche Staffeln von Sex and the City durchheulte. Der Dackel sollte sie dazu bringen nicht völlig mit der Couch und Wodka zu verschmelzen. 

Statt mit dem Hund die frische Herbstluft zu genießen, wurde er ein Prinz. Er durfte alles, machte alles (vorzugsweise strullerte er in mein Bett) und wurde der neue Mr. Big im Haushalt von Familie Weston.

In jeden Ferien, die ich zu Hause bleiben musste, führten Mr. Big und ich eine Art Krieg, bis ich zum studieren nach London ging. Prompt änderte sich sein Verhalten und Flint orakelte immer noch: „Das Sofakissen vermisst dich."

Just in diesem Moment flitze Mr. Big überschwänglich zwischen meinen Beinen herum. Dafür, dass er schon recht alt war, blieb er erstaunlich gut in Form. Treuherzig warf er sich auf den Rücken und ließ zu, dass ich ihn am Bauch kraulte.

Sofort bückte ich mich und sorgte für ein bisschen Hundeglück. So lange, bis meine Mum mit einem Glas Wein aus der Küche kam.

„Honeybee", begrüßte sie mich, stellte das Weinglas ab und zog mich in ihre Arme. Sie roch dezent nach Chanel und Butterkeksen. Mein Haar hatte dieselbe Farbe, wie ihres, nur, dass es bei meiner Mum mittlerweile wirkte, als wäre sie Wochen in der Sonne gewesen. Als Kind hatte ich ihre wilde Locken unbedingt haben wollen, jetzt war ich froh, dass sie sich glatt besser bändigen ließen.

„Deine letzte Haarkur ist ein wenig her, hm?", begann sie direkt zu kritisieren und innerlich seufzte ich tief. Als Frisöre und Kosmetikerin mit einem eigenen Laden konnte meine Mum nie ganz aus ihrer Haut. Sie mochte gepflegte Menschen und sah es als Mission auf ein paar kleine Makel hinzuweisen. Dabei meinte sie es nicht einmal böse.

„Und eine frische Maniküre wäre auch einmal wieder nötig", setzte Mum hinzu und ich fragte: „Bin ich nur nach Hause gekommen, damit du mosern kannst?"

Zuerst sah sie mich verständnislos an, dann lachte sie hell auf: „Ach nein, Honeybee. Komm, lass dich noch einmal drücken!"

Mein Dad kam aus den Wohnzimmer, er trug einen kitschigen Weihnachtspullover und grinste breit zur Begrüßung, erst dann erkannte ich hinter ihm meinen Opa. Wackelig auf den Beinen, ging er nur noch äußerst langsam.

Das graue Haar war dünn, er selbst ebenfalls und als ich ihn begrüßte, da wirkte er, als wäre er aus Glas. Doch er roch nach Pfeife und nach Zuhause. „Jedes Jahr kommst du später", tadelte er mich und sein Gesicht, mit der viel zu großen Nase und den hellen Augen verzog sich zu einem Lächeln.

„Das stimmt doch gar nicht!", wehrte ich mich, doch er hob nur gespielt drohend den Finger.

Während mein Dad und Opa wieder ins Wohnzimmer verschwanden und Flint es ihnen gleich tat, hing ich meinen Mantel auf und ging in die Küche. Dort wurde gebacken, als müssten wir im Haus überwintern. 

Sofort reichte mir meine mollige kleine Oma ein Glas Rotwein und drückte mir einen Kuss auf die Wange: „Jetzt können wir ja richtig loslegen!" Sie kicherte und ich begriff, dass sie mir schon einiges an Wein voraus hatte.

Es war irgendwie Tradition in meiner Familie das backen zu einer Orgie wurde. Wir krempelten die Ärmel hoch und jeder bekam eine Schürze. Mit guten Wein, unendlich viel Teig, Schokolade und Nüssen wurden ganze Kisten gebacken. 

(„Honeybee, gib dir ein bisschen mehr Mühe, die Plätzchen sehen alle aus, als hätten wie 10.000 Sorten." - „Es kann nicht jeder per Augenmaß dafür sorgen, dass die Plätzchen wirken, als hätten wir sie gekauft, Mum.")

Dabei erfuhr ich den neusten Klatsch und Tratsch. Wer gerade ein Baby bekam, wer wen mit wem betrog, wer pleite war, wer dicker sei und natürlich wer gerade mit wem stritt. Cotswolds liebte seine Gerüchte.

Mich lenkte das Backen ab. Ich schickte Harry einige Fotos und er bestand darauf, dass ich Plätzchen bis nach London schmuggelte. So gemütlich der erste Tag zu Hause auch war, so stressig wurde der Zweite.

Flint und ich mussten zahlreiche Stühle aus dem Keller schleppen, Tische ausziehen, Geschirr kramen und wir hüteten uns vor der Küche. Die Stimmung war gereizt. Meine Eltern stritten sich wieder wegen Kleinigkeiten, ich wurde angefahren, weil ich die Servietten nicht richtig gefalten hatte, Mr. Big pinkelte in den Flur, weil wir nicht Punkt zwei Uhr mit ihm Gassi gingen und zweimal mussten Flint und Dad die Wege von Schnee befreien.

Um achtzehn Uhr waren wir alle fix und fertig. In unserer besten Kleidung saßen wir im Wohnzimmer, weil wir im Esszimmer den Tisch, samt Deko nicht durcheinanderbringen sollten. Mein Dad machte gerade die Weihnachtsbeleuchtung an, als mein Bruder schwer seufzte: „Auf diesen ganzen Stress davor könnte ich eigentlich gut verzichten."

„Dann feiern wir nächstes Jahr alle bei dir", drohte meine Mum kompromisslos und unglaublich laut aus der Küche. „Essen Pizza aus Kartons und benehmen uns wie unzivilisierte Egomanen."

„Ich hätte nichts gegen Pizza", machte ich den Fehler während ich Mr. Big kraulte. Er hatte ein hübsches rotes Halstuch mit Tannenbäumen an. Sichtlich empört erschien meine Mutter in der Tür, stemmte die Hände in die Hüfte und sah mich vorwurfsvoll an: „Wenn es dir Weihnachten nicht gefällt, wie wir es hier halten, dann-"

„Das habe ich nicht gesagt", beeilte ich mich und ruderte sofort zurück, ich warf meinen Bruder einen Hilfesuchenden Blick zu, doch es war Dad, der die richtige Entscheidung traf und meiner Mum ein schönes Glas Rotwein eingoss. Nicht, dass meine Familie ein Alkoholproblem hatte, aber an Feiertagen und Geburtstag kam man um ein gutes Schlückchen Alkohol nicht drum herum.

Manchmal verstand ich die Perfektion nicht, die meiner Mutter so wichtig war. Das Besteck wurde nur Weihnachten extra poliert und es kam mir so vor, als müsste sie unserer Verwandtschaft immer wieder beweisen, dass sie eine Eins Plus als Gastgeberin verdient hätte. Wen scherte es schon, ob wir den Rotwein aus einem Weißweinglas tranken?

Ich packte die Geschenke unter den Baum. Wie immer war ausgemacht, dass wir uns absolute Kleinigkeiten schenkten, woran sich natürlich niemand hielt.

Meine Großeltern waren angenehme Gäste, sie setzten sich auf ihre typischen Plätze, man wusste genau, was sie trinken wollten und wollten keine Extrawurst. Ganz anders war da meine Tante Pam, die mit ihrem ganzen Hochstaat anrauschte. Knochig dünn und mit viel zu dunkler Wallah-Mähne übernahm sie sofort das Komando, nachdem sie die Türschwelle übertrat.

Onkel Teddy dröhnte bereits im Flur herum, sodass ihn auch der letzte Nachbar hörte. Er war so rund, wie er hoch war, aber eine direkt und ehrliche Haut. Flint und ich fragten uns heute noch, was er an Tante Pam fand.

Cousine Esther, eine aggressive Kopie von Angelina Jolie, brauchte nur fünf Minuten und ich fühlte mich neben ihr wie ein Loser der Extraklasse. Denn Esther war all das, was ich nicht war: Mit dem Studium fertig, übertrieben ehrgeizig und als Planerin für große familiärer Feste selbstständig.

Neben ihr wirkte ihre Schwester Kira kurviger, als sie war. Genauso schwarzhaarige, nur einer Kardashian ähnlich, brachte sie ihren Mann mit. Einen völlig überbezahlten, aalglatten Banker ohne Humor, namens Thomas.

Mein Bruder fasste es oft so zusammen, dass Esther die Schlaue und Kira die Dumme war. Ich mochte beide gleich wenig, aber seine Familie konnte man sich eben nicht aussuchen. Gespielt fröhlich begrüßte ich sie und es kam was kommen musste.

Im Endeffekt setzte sich die bequeme Sippe so hin, dass ständig einer aufstehen musste, Vorzugsweise Flint oder ich. Zu Beginn war das Okay, aber nachdem ich wegen einem Schlückchen, einer neuen Gabel und einer weiteren Serviette zur Küche pilgerte und wieder zurück, wurde ich langsam genervt.

Besonders, weil ich noch nicht einmal dazu gekommen war ein Stück Truthahn zu essen. Schlussendlich war das Essen auf meinem Teller kalt. Ich saß zwischen Onkel Teddy und Opa. Beide machten sich am Tisch gerne breit und ich versuchte zu ignorieren, dass am Tisch alle durcheinander redeten. Ich verstand also kein einziges Wort. Da es jedes Jahr dasselbe war, versuchte ich gar nicht erst mich an den Gesprächen zu beteiligen.

Was ich schließlich verstand war, dass man Esther in den Himmel lobte, Kira sich von Thomas aushalten ließ und Tante Pam mit meiner Mutter konkurrierte – warum auch immer. Ich hielt mich nach dem Essen lange in der Küche auf, damit ich den dröhnenden Kopf loswurde und schrieb hastig einige Kurznachrichten an meine Freunde.

„Thomas und ich werden im Sommer heiraten", verkündete Kira irgendwann, es gab viele Glückwünsche und Esther erzählte, dass sie ihre Firma erweitern würde. Dabei klang sie, als hätte sie vor unser Land vor einer internationalen Krise zu retten.

„Und Isabell, gibt es bei dir Neues?", horchte Thomas mit einem spöttischen Unterton und ich verschluckte mich fast am Wein, vor Überraschung angesprochen zu sein. Kurz überlegte ich, ich hatte einen neuen Job bei Hearzone, gebärdete Videos, hing immer noch in der Uni fest und mein Freund war ein Superstar, den ich privat anhimmelte, aber sobald er seinen Job ausübte, ätzend fand.

So, oder so ähnlich. Der Wein stieg mir langsam zu Kopf. Das letzte Bisschen Vernunft ließ mich jedoch antworten: „Nein, alles beim Alten."

Und dann lief alles wie immer. Mein Opa stürzte um zehn Uhr wegen zu viel Punsch in den Christbaum, meine Tante erörterte enthemmt durch Alkohol, zu viel Essen und angestauter Perfektion ihre Eheprobleme mit meiner Mutter und mein Bruder trat Mr. Big unachtsam auf den Schwanz.

Zusätzlich ließ Flint eine Bombe platzen: „Ich habe meinen Job geschmissen!"

Damit kippte die Stimmung endgültig.

Drama, Baby.


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