5. Eine gefährliche Rettungsaktion mit zwei guten Schauspielern
Seit geraumer Zeit lief ich auf und ab. Meine Aufgeregtheit und Nervosität konnte ich nur so ein wenig abarbeiten. Ryan befand sich gerade nur wenige Meter entfernt von mir, aber es war unmöglich ihn zu erreichen. Und das nur, weil die Leute hier verrückt waren und das Haus mit den „Gefangenen" bewachen mussten. Warum konnte ich nicht einfach auf wundersame Weise ohne Probleme zu meinem Bruder und mit ihm wieder hinaus gelangen?
„Ich weiß auch nicht, was wir jetzt tun sollen", flüsterte Anuk uns ratlos zu.
„Gibt es keinen Schichtwechsel?", erkundigte sich Meo.
„Erst am Morgen. Können wir gehen?"
„Sei nicht so ein Angsthase, Ceylan", zog Meo ihn auf.
„Am Morgen ist es für mich schlecht", wandte ich mich an Anuk, „dann würden sie mich und Ryan sofort sehen."
Es vergingen wieder mehrere Minuten, in denen jeder versuchte, eine Lösung zu finden - außer vielleicht Ceylan. Der dachte wahrscheinlich darüber nach, wie er hier wegkam. Ich spürte die Zeit förmlich durch meine Finger - ich meine Pfoten - rinnen. Beinahe meinte ich, ein Ticken zu hören. Vor meinem geistigen Auge konnte einen Zeiger sehen, der sich immer weiter bewegte. Wir brauchten einen Plan so schnell es ging.
„Ich hab's!"
Aufgeregt beugte sich Anuk ein wenig zu mir und Meo herab und bedeutete Ceylan näher zu kommen. Dieser war davon nicht sehr erfreut.
„Der Plan wird euch nicht sehr begeistern, aber es ist das einzige, was irgendeinem von uns bis jetzt eingefallen ist, also habt ihr eigentlich keine andere Wahl", sagte Anuk schnell und sah abwartend von einem zum anderen.
Erst reagierten wir nicht, weil wir noch warteten, ob er uns seinen Plan erklären würde. Er fügte nichts hinzu.
„Und wie lautet jetzt der Plan?", hakte Meo ungeduldig nach.
„Ach so, ja. Also: Meo und Ceylan, ihr werdet in menschlicher Gestalt ein paar Meter entfernt stehen und irgendetwas Auffälliges machen. Das sollte die beiden weglocken. Und wenn nicht, dann werde ich auch noch mithelfen. In der Zwischenzeit schleicht sich Serafina hinein und holt ihren Bruder. Alles verstanden?"
„Alles klar, Sir", scherzte die Katze und hob ihre rechte Pfote als würde sie einen Daumen hoch zeigen.
„Ähm, okay", murmelte Ceylan.
Anuk nickte und wollte schon los, aber ich hielt ihn zurück.
„Warte. Wie finde ich Ryan? Ist er einfach da drinnen oder sind da noch mehr Räume oder so was?"
Ich hatte wirklich keine Lust, minutenlang durch Gänge zu irren und in jedem Raum nachsehen zu müssen. Bis dahin würden die Wachen längst zurück sein und Ryan und mich erwischen.
„Um ehrlich zu sein? Ich hab keine Ahnung", antwortete Anuk.
„Wie soll ich denn dann schnell genug wieder raus kommen?"
„Du schaffst das schon. Wir werden dir genug Zeit erkaufen, dass du deinen Bruder da raus bekommst. Du musst einfach so schnell rennen, wie du kannst."
Ich seufzte. Was hatte ich auch für eine andere Wahl?
„Na gut. Dann los geht's."
Ich hielt mich hinter den anderen dreien, um ihnen auch ja nicht in den Weg zu kommen. Wir spähten hinter der Hauswand herum und Meo und Ceylan nickten sich zu. Im nächsten Moment standen an ihrer Stelle ein kleines Mädchen mit orangenem gelocktem Haar und ein hochgewachsener Junge mit hellem braunem Haar. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, weil sie mir den Rücken zugewandt hatten. Aber Meos hochgereckter Kopf und Ceylans ängstlich eingezogene Schultern sagten viel darüber aus, wie sie sich fühlten.
„Bist du bereit, Ceylan? Zeig deine beste Schauspielerei, wir sind zwei Touristen und haben uns verlaufen, okay? Du schaffst das schon." Das Mädchen klopfte ihm auf die Schulter.
„Ich schaff das", murmelte er und atmete tief ein.
Zusammen gingen sie ein Stück Richtung der beiden Tiere - ein Bär und ein ziemlich bedrohlich wirkender Luchs - und blieben dann stehen. Meo tat so, als würde sie sich erstaunt und begeistert umsehen. Nach kurzem Zögern tat Ceylan es ihr gleich und wurde dabei immer selbstbewusster. Er war es, der zuerst sprach, extra laut damit die beiden es hören konnten.
„Wirklich ein außergewöhnlicher Ort! Und nur Tiere hier, wirklich unglaublich!"
Es klang unglaublich überzeugend, was ich gar nicht erwartet hatte.
„Wow, sieh dir nur die hier an. Seltsam, dass sie so friedlich miteinander kommunizieren. Und da! Ist das ein Puma?", rief Meo begeistert.
Beide wandten dem Bären und dem Luchs den Rücken zu und liefen ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Bär und Luchs sahen sich an, dann entfernte sich ersterer von seinem Posten.
„Ich kümmere mich darum", meinte er.
Noch auf halben Weg hatte er die Gestalt eines großen muskelbepackten Mannes angenommen. Ich wollte jetzt ganz sicher nicht mit Meo und Ceylan tauschen. Hoffentlich passierte ihnen nichts. Anuk lief, sobald der Mann weit genug entfernt war, direkt auf den Luchs zu. Dieser richtete sich noch ein bisschen weiter auf, kam aber kein bisschen an die Größe Anuks heran, der beinahe doppelt so groß war. Ohne zu zögern drückte er den Luchs herunter und ließ sich mit seinem Gewicht auf ihm nieder.
„Was soll das?", fragte der Luchs aufgebracht, bevor Anuk ihm mit einer seiner Tatzen die Augen verdeckte.
So schnell ich konnte sprintete ich in diesem Moment los und erreichte nach wenigen Sekunden den Eingang des Hauses. Es war nur etwa zwei Meter hoch, aber wie lang es war, wusste ich nicht. Ich schob mich an dem Vorhang aus Efeu vorbei, der Aussenstehenden wohl den Blick hinein verhindern sollte. Als ich drinnen war, machte ich mich sofort daran in das Zimmer rechts von mir zu blicken. Niemand war in der offenen Tür zu sehen. Ich lief weiter den Gang hinunter und kam an zwei weiteren offen stehenden Türen vorbei. Erst als ich nach wenigen Meter links um die Ecke bog, sah ich gleich drei verschlossene Türen. Was wenn hinter einer wirklich irgendein Verbrecher verschlossen war? Vielleicht befreite ich ihn dann ja und er würde versuchen die Forestchanger umzubringen als Rache? Unwahrscheinlich, das hier war schließlich nicht irgendein Action-Film. Es wurden bestimmt Maßnahmen getroffen, dass „Gefangene" nicht so leicht ausbrechen konnten, oder?
Vorsichtig näherte ich mich der ersten Tür. Ich musste nur rein, Ryan schnell herausholen und dann abhauen. Schien einfach. Doch was wenn Yunus auch hier ist?, fiel mir plötzlich ein. Ich konnte ihn nicht zurücklassen. Das hieß, ich musste hinter jeder Tür nachschauen, wenn er nicht mit Ryan hinter einer dieser drei war. Egal, ich musste mich beeilen. Schnell nahm ich wieder meine menschliche Gestalt an und drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Als ich sie aufstieß, kam mir ein modriger Geruch entgegen und ich musste von dem aufwehenden Staub niesen. Außer einem kleinen Bett an der rechten Wand, einem Tisch und zwei Stühlen in der Mitte und einem Schrank auf der linken Seite war das Zimmer leer. Seltsam.
Ich schloss die Tür und öffnete die auf der gegenüberliegenden Seite. Wieder nicht verschlossen. Dahinter fand ich auch niemanden nur Staub. Es stand das gleiche Mobiliar drinnen. Hektisch knallte ich die Tür zu und rannte zu der dritten. Dahinter fand ich wieder nur das vor, was ich auch zuvor gefunden hatte. Mit steigender Panik rannte ich den Gang weiter und bog nach rechts. Hier endete der Gang. Nur zwei Zimmer befanden sich in dem Gang, eines auf jeder Seite. Nervös schluckte ich und versuchte meine Hoffnung zu unterdrücken. Was wenn das hier auch nur leere Zimmer waren? Was wenn Ryan gar nicht hier war? Wenn ich umsonst hergekommen war und er ganz woanders war?
Ich schüttelte den Kopf und atmete tief ein. Bitte, bitte, lass ihn hier sein, sagte ich zu niemand Bestimmten. Mit einem Ruck öffnete ich die Tür und sah hinein. Überrascht machte ich zwei Schritte zurück. Das Zimmer war nicht leer, doch Ryan war es nicht, der dort drinnen saß, und auch nicht Yunus. Es war ein Mädchen - ungefähr so alt wie Ryan - mit blondem Haar, durch das sich braune Strähnen zogen. Ihr rechtes Handgelenk war mit Handschellen an eine Metallstange gekettet. Verdattert starrten wir uns mehrere Minuten in die Augen. Ich wollte etwas sagen, aber es kam kein Wort über die Lippen. Es war einfach seltsam, jemand anderes als Ryan oder Yunus anzutreffen.
„Und? Kommt da noch was? Oder willst du weiterhin wie festgewachsen da stehen", spottete das Mädchen mit herausforderndem Blick.
„Tut ... mir Leid. Ich, äh, geh dann mal wieder", sagte ich und wandte mich wieder um. Ich musste meinen Bruder hier raus holen.
„Warte!"
Ich blieb stehen und drehte mich wieder um. Das Mädchen hatte jetzt einen fast liebenswürdigen Blick aufgesetzt. Sie setzte sich etwas aufrechter hin.
„Könntest du mich nicht vielleicht gehen lassen? Bitte?"
„Ich hab grad keine Zeit", erwiderte ich und hörte eine Uhr ticken und ihren Zeiger vor meinem geistigen Auge vorwärts schreiten sehen. Wie lange war ich schon hier drinnen? Wie lange konnten die anderen mir noch Zweit erkaufen? Vielleicht hatte ich auch schon viel zu lange gebraucht und jetzt gab es überhaupt keine Chance mehr, Ryan hier unbemerkt herauszuschaffen.
„Was? Warum? Du bist doch extra wegen mir gekommen, um Informationen zu bekommen, oder nicht? Wie wär's hiermit: Ich verrat dir den Ort und du lässt mich gehen. Haben wir einen Deal?", fragte das Mädchen mit einem beängstigendem Funkeln in den Augen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie könnte mich bewusstlos schlagen und selbst hier einsperren, wenn ich ihr half.
„Ich hab den Schlüssel nicht", sagte ich und bewegte mich aus dem Zimmer heraus.
„Warum bist du dann überhaupt hier?", rief sie etwas aufgebrachter und der liebenswürdige Blick verschwand. Ich antwortete ihr nicht.
„Ich will doch nur meinen Bruder rausholen", murmelte ich und schloss die Tür. Ich hörte das Mädchen noch „Du bist gar kein Forestchanger!" rufen, dann war die Tür zu.
Im anderen Zimmer musste er sein. Es konnte nicht anders sein. Jetzt aber schnell. Ich rannte die paar Meter zur Tür, öffnete sie und wollte schon erleichtert auf die Knie sinken, als ich meinen Bruder auf dem Bett sitzen sah.
„Ryan!"
Fassungslos sah dieser auf und ich konnte mitansehen, wie sich die Freude auf seinem Gesicht ausbreitete. Er sprang auf und rannte in meine geöffneten Arme - er war nicht angekettet. Überglücklich schloss ich ihn in eine feste Umarmung.
„Fina, du bist gekommen", schluchzte er.
„Natürlich bin ich das", sagte ich und drückte ihn ein wenig fester.
Genau dann drückte er mich wieder fort.
„Du erwürgst mich ja", beschwerte er sich und wischte sich die Tränen weg.
„Tschuldigung."
Grinsend wuschelte ich ihm durch seine Haare, was er dieses Mal lächelnd hinnahm. Dann schloss ich ihn noch einmal in eine kurze Umarmung. Schließlich war mir wieder mein Zeitdruck bewusst und ich schob ihn ernst ein Stück von mir.
„Komm, Ryan. Wir gehen jetzt nach Hause."
Entschlossen nahm ich seine Hand und trat mit ihm in den Gang hinaus.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top