4. Die kleinste Ablenkung kann fatal sein

Anouk und ich hockten uns hinter einen Busch und warteten ab. Es dauerte ein wenig, bis alle Wächter weit genug entfernt waren, um uns weder zu sehen noch zu hören. Ich spähte zu Anouk hoch, der um einiges größer war als ich in meiner Fuchsgestalt. Seine Silhouette hob sich deutlich von den anderen Umrissen des Waldes ab. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass meine Sinne sich verbessert hatten, jetzt, wo ich nicht mehr ein Mensch war.

„Die Luft ist rein", sagte er und erhob sich. „Wir sollten uns besser beeilen."

Ich erwiderte nichts, sondern folgte ihm nur durch die letzten paar Sträucher. Wir erreichten gerade den Rand der Lichtung und hielten noch einmal inne. Doch es war unbefürchtet. Niemand hatte uns gesehen oder gehört. Mein Herz pochte laut in meinen Ohren und meine Muskeln waren bis aufs Äußerte gespannt. Wenn ich jetzt versagte, hätte ich nicht die geringste Chance, Ryan irgendwie zu retten. Alles hing von mir ab.

Anouk und ich rannten so leise es ging zu einer der Hütten. Ich hielt mich dabei immer hinter dem Bären, da ich keine Ahnung hatte, wo ich hinmusste. Er jedoch schien selbstsicher, was er tat und zeigte auch keine Zweifel. Meine Anspannung ließ ein wenig nach, als wir nur noch wenige Meter vom Eingang entfernt waren. Das Licht, das von kleinen Lampen ausging, die verteilt auf der Lichtung hingen, war keineswegs blendend oder unangenehm. Es war nur gerade so viel, dass man gut sehen konnte, wo man hinlief. Noch immer herrschte ein reger Betrieb zwischen den Hütten: Eichhörnchen und andere kleine Tiere huschten über die Hängebrücken, die höher liegende Gebäude miteinander verbanden, Füchse, Rehe, Igel, Dachse und sogar Wildschweine unterhielten sich leise untereinander oder versuchten schnellstmöglich von einem Punkt zum anderen zu gelangen.

Sie alle hatten keinerlei böse Absichten einander gegenüber, es wirkte friedlich. Bestimmt war es schön, hier zu leben und dieser Stadt anzugehören. Sich keine Sorgen um Schulnoten oder Hausaufgaben zu machen sondern in Ruhe seine Aufgabe erledigen, die man hier hatte. In der Natur.

Ich hatte schon aufgehört, auf meine Umgebung zu achten, als plötzlich eine scharfe Stimme rief: „Halt! Bleibt auf der Stelle stehen und zeigt euch."

Mein Herz schlug doppelt so schnell wie sonst und mein Atem stockte. Meine Instinkte rieten mir, abzuhauen und mich zu verstecken. Und dass ich gefälligst normal atmete. Doch ich missachtete alles und blieb mit Anouk stehen. Wir wandten uns zu der Stimme um und blickten einem großen graubraunem Wolf ins Antlitz. Mein Fell sträubte sich gegen meinen Willen. Wirklich alles in mir schrie Gefahr. Ein Wolf war ein gefährliches Tier, einzeln weniger für den Menschen aber Füchse töteten sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Wahrscheinlich wegen Revierverteidigung oder so etwas. Und gerade war ich ganz klar in das Revier dieser Wölfin eingedrungen.

Es vergingen ein paar Sekunden, in denen sie uns intensiv musterte und ein wenig in der Luft schnupperte, doch im nächsten Moment ließ sie auch schon von uns ab und riet uns noch: „Ihr solltet Arius zu dieser späten Stunde nicht mehr verlassen. Da draußen können wir euch nicht vor den Seachangern und Windchangern verteidigen."

Ich wollte ihr hinterherrufen, dass die Seachanger ganz sicher nicht diejenigen waren, vor denen man sich schützen musste, ließ es aber lieber bleiben. Das würde mir nur unnötig Aufmerksamkeit schenken, die ich ganz sicher nicht brauchte.

„Und das war erst der leichte Teil", murmelte Anouk und betrat eine der Hütten. Ich folgte ihm und konnte nicht glauben, was ich sah. Ein gigantischer Raum breitete sich vor mir aus. Oder vielleicht nicht ganz so gigantisch, wie es mir in dem Moment vorkam, denn er war nicht besonders hoch sondern nur sehr breit und es zweigten mehrere Gänge von ihm ab.

„Dann suchen wir mal deinen Bruder."

Anouk ging voraus zwischen die anderen Tiere, während ich versuchte, so gut es ging, ihm zu folgen.

***

Es stellte sich heraus, dass das nicht ganz so leicht werden würde. Über Wildschweine, Bären und andere große Tiere war so ziemlich alles dabei. Einmal dachte ich sogar, ich hätte einen Puma gesehen, aber wahrscheinlich hatte ich mich geirrt. Obwohl es Nacht war, herrschte doch ein reger Betrieb und ich verlor Anouk mehrmals für mehrere Sekunden aus den Augen, bevor ich ihn im nächsten Moment wieder an einer anderen Stelle auftauchen sah. Ich hielt mich möglichst nahe an seiner Seite, aber unzählige Male musste ich Platz machen, um nicht überrannt zu werden. Noch dazu kam, dass alle durcheinander redeten. Zwar nicht übermäßig laut, aber es waren so viele Stimmen, dass ich bald schon den Überblick verlor, von wo sie kamen.

„Wusstest du schon, dass ..."

„... Essen war echt lecker ..."

„Kein Problem. Ich helfe dir gerne bei ..."

„... Warum gehst du nicht zu deinem Vater?"

Gab es denn keine Möglichkeiten, sie auszublenden? Es war unerträglich. Doch im nächsten Augenblick hörte ich etwas, dass mich innehalten ließ.

„... Und er soll der Trichanger sein. Kaum zu glauben."

Ich blieb stehen und versuchte, den Ursprung der Stimme auszumachen. Als ich mich ein wenig um sich selbst gedreht hatte, glaubte ich, ungefähr zu wissen wohin. Ein Schimpanse saß auf einem Ast, der bis nach draußen ragte, und unterhielt sich mit einem grauen Lemuren. Nur ein Dach überdeckte die Stelle, ansonsten war der Platz völlig offen. Hier war eher weniger los, also würde man mich wahrscheinlich bemerken, wenn ich zu nahe ran ging. Ich wartete, ob sie noch irgendetwas bezüglich des Trichangers - vermutlich Ryan - sagten, aber nichts. Auch nach zwei, drei Minuten kam nichts wirklich Informatives. Nur „Er ist ja noch so jung".

Enttäuscht kehrte ich um und wollte wieder Anouk hinterher, doch dann bemerkte ich es. Ich hatte ihn verloren. Natürlich hatte ich das! Er hatte nicht gemerkt, dass ich stehen geblieben war. Mit steigender Panik versuchte ich ihn ausfindig zu machen, jedoch gab es keine Spur von ihm. Erschrocken darüber, dass ich alleine war an einem Ort, wo sich jeder gegen mich wenden würde, wenn er wüsste, wer ich war, ließ mein Herz aussetzen. Wie konnte ich nur so einen blöden Fehler zulassen?

Nervös lief ich in einen der kleineren Gänge, bog daraufhin in einen größeren ab und kurz darauf fand ich mich in einem anderen Gebäude wieder, aber noch immer kein Anouk. Ich rannte in einen anderen Gang, dann einen weiteren, bis ich keine Ahnung mehr hatte, wo ich genau war. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich direkt zurück zum Eingang gegangen wäre. Dort hätte Anouk bestimmt nach mir gesucht, sobald er merkte, dass ich nicht mehr neben ihm war.

Mit einem verzweifelten Gefühl setzte ich mich an den Rand des Gebäudes und wartete ab. Minutenlang blickte ich ins Leere und malte mir aus, was passieren würde, wenn mir nicht bald was einfiel. Dabei war Ryan doch so nah! Aber ich wusste nicht, wohin ich musste. Und man würde mich sowieso schon bald entdecken, wenn der Morgen anbrach und alle ihren Pflichten nachgingen, nur ich blieb an Ort und Stelle.

„Hast du dich verlaufen?", fragte plötzlich eine spöttische Stimme.

„Können wir bitte wieder gehen?", drängte eine andere.

Ich sprang auf und fuhr zu den beiden herum, das Fell geträumt und meine Muskeln bis aufs Äußerste angespannt. Vor mir standen eine orangene Katze und ein junger Rehbock, der aussah wie der, den mich im Wald erschreckt hatte. Aber das konnte auch Zufall sein, alle Rehe sahen sehr ähnlich aus.

„Jammer nicht rum, Ceylan. Du kannst auch alleine gehen, wenn du unbedingt willst." Die Augen der Katze funkelten angriffslustig.

„Nein, nein. Ist schon gut."

Ich wusste nicht so recht, was ich von den beiden halten sollte. Was wollten sie von mir? Und warum sprachen sie ausgerechnet mich an? Unauffällig schielte ich zur Seite und legte mir eine Fluchtmöglichkeit bereit. Wenn ich ein bisschen nach links rückte, konnte ich einfach ...

„Ist auch egal. Wo war ich? Ach ja, brauchst du Hilfe? Du scheinst neu zu sein." Der Unterton war lauernd und ich spürte mein Misstrauen steigen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesen beiden. Es wäre besser, wenn ich jetzt abhaute. Vielleicht konnte ich sie abschütteln, wenn ich einfach zwischen die anderen Forestchanger rannte.

„Oder kennst du sie, Ceylan?", wandte sich die Katze an seinen Begleiter.

„Äh, nee. Noch nie gesehen", antwortete dieser.

„Also? Wer bist du?"

„Ich heiße, äh, Eva", sagte ich, weil mir gerade nichts Besseres einfiel.

„Aha."

Hatte ich was Falsches gesagt? Wusste sie, dass ich log? Verdammt, was sollte ich tun? Wegrennen war wahrscheinlich sehr verdächtig, aber immerhin konnte ich noch versuchen zu fliehen. Langsam machte ich einen Schritt zur Seite und wollte los sprinten, aber die Katze sprang mir im letzten Moment in den Weg.

„Hey, du musst ja nicht gleich abhauen", versuchte sie mich zu beruhigen. „Wir wollen dir doch nichts tun, wir wollen nur helfen."

Ich war nicht wirklich überzeugt, startete aber keinen weiteren Versuch.

„Ich mein, Ceylan hier. Glaubst du, er wäre in der Lage, einer Fliege etwas zu Leide zu tun? Eher nicht, oder?"

„Hey! So schwach bin ich gar nicht", brummte Ceylan beleidigt.

„Und was wollt ihr von mir?", wollte ich skeptisch wissen.

„Wir haben dich vorhin mit Anouk gesehen, aber ihr scheint euch wohl irgendwie verloren zu haben. Er hat dich wohl rumgeführt? Auf jeden Fall können wir dich zu ihm bringen, wir kennen uns hier super aus."

„Na gut", stimmte ich zögernd zu.

Es war besser, wenn sie mir halfen, als wenn ich nur hier herumsaß und wartete. Außerdem konnte ich jederzeit wegrennen, wenn sie logen. Meine Instinkte rieten mir, wachsam zu bleiben, und das würde ich auch. Ich hatte keine Lust auf eine Wiederholung von Verrat. Dieses Mal würde ich mehr aufpassen. Ich musste es, für Ryan.

„Komm, hier entlang", sagte die Katze und lief voraus in Richtung eines unscheinbaren Ganges auf der linken Seite.

Für ein paar Sekunden zögerte ich noch, doch dann gab ich mir einen Ruck. Es würde schon nichts passieren, was meine Situation noch verschlimmern könnte, oder? Schweigend folgte ich ihnen eine Weile, bis wir schließlich tatsächlich auf Anouk stießen. Er stand am Rande eines recht kleinen Raumes und sah mit suchendem Blick umher. Als wir bei ihm ankamen, sah er überrascht zur Katze und dann zu dem Reh.

„Meo? Ceylan? Was macht ihr denn hier? ... Serafina?"

Verwirrt sah Ceylan mich an. „Serafina?"

„Nein, sie heißt Eva", verbesserte Meo Anouk.

„Eva?"

Anouk schaute mich zweifelnd an, während ich versuchte, möglichst unschuldig zur Seite zu blicken. Er seufzte.

„Du kannst ihnen wohl trauen, sie sind meine Freunde."

„Ich heiße gar nicht Eva", gab ich schließlich zu. „Mein Name ist Serafina."

Bevor einer von beiden etwas sagen konnte, sagte Anouk schnell: „Kommt. Ich weiß, wo dein Bruder ist, und wie wir ungesehen hinkommen."

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