2. Sogar fast unauffindbare Orte werden bewacht

Mit laut klopfendem Herzen sah ich mich ein letztes Mal um. Im dunklen Mantel der Nacht war nichts zu erkennen, weder Mensch noch Tier. Ich war allein. Erleichtert aufatmend machte ich einen Schritt hinein in den Wald und versuchte das Gefühl, beobachtet zu werden, abzuschütteln. Niemand war hier, also konnte mich auch niemand beobachten. Mit jedem Schritt weiter zwischen die Bäume wurde ich schneller, bis ich ein gutes Stück rennend zurücklegte. Der Park, durch den ich den Wald betreten hatte, war schon nicht mehr zu sehen. Ein kühler Wind ließ die Blätter rascheln. In der Ferne schrie ein Käuzchen. Mühsam arbeitete ich mich durch das dichte Gestrüpp. Ab und zu blieb ich an einem Dornenstrauch hängen und fing leise zu fluchen an. Im Dunkeln konnte man den Weg nur schwer erkennen - der Waldboden selbst war kaum zu sehen! Dornen steckten hartnäckig in meinen Beinen von den ganzen Malen, die ich schon in einen Strauch gelaufen war. Das Blätterdach war zu dicht, als dass das Licht des Mondes und der Sterne mir den Weg beleuchten konnten. Sogar ohne Bäume wäre es für meine Augen zu dunkel gewesen.

„Du hattest natürlich die großartige Idee, nachts allein in den Wald zu gehen, um Ryan zu retten, obwohl du nicht einmal genau weißt, wo Arius liegt. Wirklich sehr geistreich von dir, Serafina", murmelte ich zu mir selbst.

Zwar hatte ich noch ein wenig die Karte in Erinnerung, die ich vor Wochen in Fotein, der Stadt der Seachanger, gesehen hatte, aber nur grob. Arius sollte demnach im Norden liegen, nicht zu leicht zu verfehlen eigentlich, wenn man wusste, wo sie lag. Aber ich hatte keine Ahnung. Rune hatte ich natürlich nichts gesagt und Wesley und Lyra wussten auch nicht, dass ich ohne sie losgezogen war. Noch dazu wusste ich noch immer nicht, wie ich meine Forestchanger-Gestalt annehmen konnte. Es waren die perfekten Bedingungen für einen Ausflug in einen Wald bei Nacht, wo hinter jedem Baum eine Gefahr in Form eines gefährlichen Tieres drohte. Da hatte ich sehr gut mitgedacht.

Ein Ast knackte laut hinter mir. Erschrocken fuhr ich herum und blickte in die Augen eines Rehbocks. Ich stolperte zurück und fiel auf meinen Hintern. Eine Weile starrten der Rehbock und ich uns in die Augen. Nervös zupfte ich an dem Gurt meines Rucksackes und hoffte, das Tier würde nicht auf mich springen. Normalerweise taten Rehe das schließlich nicht, oder?

Plötzlich sah der Rehbock ruckartig auf und sprang mit einem Satz an mir vorbei tiefer in den Wald. Verwirrt sah ich ihm hinterher. Was hatte er gesehen? Als ich mich genau umsah, konnte ich nichts erkennen. Es war noch immer genauso dunkel wie vor ein paar Minuten. Um fast ein Uhr nachts im Mai ist es nicht sehr hell.

Ich stand auf und klopfte mir Erde von der Hose. Wo lang ging es jetzt nach Norden? Hätte ich mein Handy dabei, hätte ich die Kompass-Funktion darauf nutzen können. Aber ich musste es ja unbedingt zu Hause lassen, damit es mir in Arius nicht irgendwie zum Verhängnis wurde. Es gab sicher eine andere Möglichkeit. Ein paar Minuten vergingen, in denen ich mein Gehirn nach irgendetwas dazu durchsuchte. Dann fiel es mir ein, wurde aber auch Zeit!

„Moos. Ist hier an den Bäumen Moos? Auf der Seite, wo es wächst, müsste Norden sein."

Suchend kniete ich mich an eine Fichte - ich glaubte jedenfalls, dass es eine war - und tastete den Stamm ab. Eine Taschenlampe wäre ziemlich praktisch gewesen. Wieso dachte ich erst jetzt daran? Egal, es musste auch so klappen.

Meine Hand berührte etwas Weiches. Ich näherte mein Gesicht dem Stamm, um auch wirklich sicher zu sein. Es war Moos. Was sollte dieses fast schon teppichartige Zeug sonst sein? Um nicht von der Richtung abzukommen, musste ich wohl oder übel alle paar Meter die Stämme der Bäume nach Moos abtasten. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich mir vorstellte, wie ich statt Moos eine große Spinne fand und sie auf meine Hand krabbelte, über meinen Arm in meinen Ärmel -

„Ich sollte weitergehen."

Auch nach einer halben Stunde hatte ich Arius noch nicht erreicht. War ich im Kreis gelaufen? Oder war das mit dem Moos Unsinn und ich lief gerade in die falsche Richtung? Wäre ich doch bloß nicht allein gegangen! Blieb man nicht auf dem Weg, durch den Spaziergänger durch den Wald gehen konnten, war es nicht ungewöhnlich, dass man sich verlief. Besonders nachts.

Ich seufzte laut und lehnte mich gegen einen dicken Baumstamm. Wenigstens hatte ich etwas zu trinken mitgenommen. Es vergingen mehrere Sekunden, in denen ich immer panischer nach meiner Flasche tastete. Dann riss ich mir den Rucksack vom Rücken und sah, dass ich doch nichts mehr zu trinken hatte. Sie musste rausgefallen sein, als ich hingefallen war wegen dem Rehbock. Verdammt. Wieso gab es in diesem Wald auch Rehe?

Verzweifelt ließ ich mich zu Boden gleiten und starrte in die Dunkelheit. Ich war allein in einem riesigen Wald, hatte mich verlaufen, nichts zu trinken und nicht einmal eine Möglichkeit, Hilfe zu bekommen. Wie konnte ich auch so dumm sein, ohne Handy loszugehen? Wie sollte ich Ryan jemals retten, wenn ich es nicht einmal schaffte, mir selbst zu helfen? Was sollte ich tun? Ich rieb mir die Stirn und versuchte, mich zu beruhigen. Langsam ein- und auszuatmen. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, sah ich auf. Überrascht kniff ich die Augen zusammen und blickte noch einmal genauer hin. Konnte das sein? Zwischen den Bäumen schienen Lichter hindurch. War ich aus dem Wald raus? Oder war das Arius?

Mit neuer Entschlossenheit sprang ich auf die Beine und ging mit zügigen Schritten den Lichtern entgegen. Bald schon konnte ich deutlicher erkennen, woher sie kamen. Es musste Arius sein, denn die Lichter befanden sich noch im Wald. Häuser waren um dicke Stämme von Bäumen gebaut, manche sogar direkt auf den Baum. Die Holzhäuser in den Bäumen waren durch Hängebrücken miteinander verbunden. Auch jetzt noch mitten in der Nacht eilten Bären, Rehe, Eichhörnchen und andere Tiere zwischen den Gebäuden umher. Das Licht kam von Lampen, die an Ästen herunter hingen. In ihnen schwirrten Glühwürmchen. Ich hatte nicht gewusst, dass das funktionierte. Neugierig schlich ich näher und duckte mich in einen Busch. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, wo sie Ryan gefangen hielten. Es sah nicht so aus, als gäbe es dort überhaupt einen Ort, wo sie Leute einsperrten. Irgendwie wirkte alles ganz friedlich. Hatte Rune sich doch getäuscht? Wollten die Forestchanger wirklich einen Krieg mit den Seachangern?

Moment. Sie hatten Yunus entführt, Dorian und Nero, mehrere andere Seachanger und Ryan. Das war sicher nicht friedlich.

Ich schlich mich von Busch zu Busch und versuchte, Arius so zu umrunden. Leider war die Stadt größer als gedacht und ich von der mühsamen Suche nach ihr erschöpft, sodass ich schon nach kurzem anhielt. Wenn ich mich von hier in meiner Forestchanger-Gestalt hineinschmuggelte, würde es nicht auffallen. Also musste ich jetzt nur noch meine Gestalt wechseln. An etwas Waldiges denken. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Ein Gefühl, ein Leuchten, irgendetwas musste doch der Auslöser sein!

Plötzlich hörte ich ein Rascheln. Erschrocken schlug ich die Augen auf und sah eine dunkle Silhouette in meine Richtung kommen. Mit rasendem Herz duckte ich mich tief in die Büsche und Dornensträucher. Als ich flach auf dem Bauch lag, spürte ich an meinem ganzen Körper kleine Stiche. Verfluchte Dornen. Ich unterdrückte ein „Au" und hielt den Atem an. Das Rascheln, und somit die Person, kam näher. Bitte, lass sie mich nicht entdecken. Bitte, lass sie mich nicht entdecken. Bitte, lass -

„Was is'n das?", fragte eine Frauenstimme.

Mein Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, nur um es dann umso lauter zu tun. Länger konnte ich die Luft nicht anhalten. Möglichst leise atmete ich aus und wieder ein. Es klang unglaublich laut in meinen Ohren. Ich sah schon vor mir, wie sich die Frau über mich beugte und mich mit nach Arius schleifte, um mich einzusperren. Mit Ryan. So wäre wenigstens die Frage beantwortet, wie ich meinen Bruder finden und zu ihm gelangen sollte.

„He, warum bis'n du hier?"

Ich schluckte. Dann würde ich eben aufstehen und freiwillig mitgehen, bevor Gewalt angewendet wurde.

„Ich, äh", stotterte jemand.

Beinahe hätte ich vor Erleichterung laut aufgeseufzt. Ich war gar nicht gemeint gewesen!

„Geh sofort zurück, wenn du nich' die Erlaubnis hast, hier umherzuschleich'n!"

„Ja", antwortete der andere kleinlaut.

Es entfernten sich Schritte. Mehrere. Jetzt atmete ich erleichtert auf. Man hatte mich nicht erwischt. Leise und darauf bedacht, bloß kein Geräusch zu machen, stand ich auf. Als ich mich umsah, konnte ich niemanden in der Nähe erkennen. Für's erste war ich sicher. Ich machte mich vorsichtig auf den Weg zurück zu der Stelle, von der ich gekommen war. Meine Finger kribbelten vor Aufregung. Gerade war ich so kurz davor, endlich Ryan zu finden. Bis nach Arius hatte ich es schon geschafft, jetzt konnte eigentlich nichts mehr schief gehen! Erleichtert lachte ich einmal kurz auf und schlug mir daraufhin sofort die Hand vor den Mund.

„Wer ist da?"

Mist, Mist, Mist! Es gab noch andere Wächter? Ich musste weg, sofort. Auf Knien kroch ich weg von der Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Das Rascheln kam dennoch näher. Hatten diese Leute nichts Besseres zu tun, als eine Stadt zu bewachen, zu der sowieso kaum jemand fand? Wieso konnte sie nicht einfach dort sein, einfach für mich zu betreten, ohne dass ich befürchten musste, erwischt zu werden? Das Blut rauschte in meinen Ohren und mein Herz pochte so laut, dass man es in Arius hören musste. Ohne anzuhalten, kroch ich weiter, als das Rascheln verstummte. Ein paar Sekunden oder Minuten wartete ich, bevor ich wieder aufstand. Vielleicht sollte ich zurück gehen und auf Rune's Hilfe warten. Er wüsste bestimmt, was zu tun war. Eigentlich durfte ich nicht einmal hier sein, bevor ich nicht herausgefunden hatte, wie ich meine Forestchanger-Gestalt annehmen konnte. Aber ich wusste einfach nicht, wie es ging! Ja, ich sollte zurückgehen. Einfach immer gegenüber der Richtung gehen, in der das Moos wuchs. Wahrscheinlich.

Ich ging mit klopfendem Herzen rückwärts und stieß gegen etwas Pelziges. Etwas sehr großes Pelziges. Eine Silhouette in der Nähe von Arius drehte sich in meine Richtung, als ich Luft holte, um aufzuschreien. Eine Tatze, die so groß war wie mindestens mein halbes Gesicht, legte sich über meinen Mund. Die Silhouette drehte sich wieder weg. Panisch versuchte ich mich aus dem Griff zu befreien und drehte meinen Kopf, um zu erkennen, wer genau mich festhielt. Das hätte ich besser lassen sollen. Manchmal war Unwissenheit besser als alles andere. Die Tatze gehörte zu einem Bären.

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