~29~

Magnus

Zusammen mit Lilly saß ich in dem kleinen und gemütlichen Essensraum. Gerade gab es Frühstück. Die Mahlzeiten waren das schlimmste hier. Es war eine reine Stresssituation. An manchen waren es drei übliche Mahlzeiten und dann gab es auch Tage wo sie es auf vier kleinere ausbreiteten. Darauf stellten sie sich allerdings auch auf uns ein, wie wir es lieber hätten. Überall standen kleine aber auch größere Tische. Es gab Bänke und Stühle. Natürlich wieder in den Farben blau, orange und grau. Jeder bekommt sein eigenes Tablet zusammen gestellt. Es gibt zwei Schwestern und zwei Pfleger, die uns dabei beobachten. In ihren Händen halten sie Stoppuhren. Wir haben genau dreizig Minuten Zeit um den Teller vor uns zu essen. Denn ich und alle anderen die an Magersucht erkrankt sind, brauchen immer viel zu lange für das essen. Wir stochern drum herum und essen einfach viel zu langsam. Tricks wie den Käse auf eine Serviette legen, damit etwas Fett darauf kleben bleibt oder die Butter unter den Teller zu schmieren funktionierte hier nicht. Man wurde ermahnt. Manchmal aß man auch mit seinem Therapeuten. Das hätte ich heute Mittag zum Beispiel. Alles was man nicht schaffte, wie in meinem Falle den Joghurt, müsste man heute Abend Nachtrinken. Nachtrinken bedeutete das man am Abend ein hochkalorisches Getränk bekam. Also eine Art flüssige Kalorienbombe. Alles wurde dokumentiert und das war ein doofes Gefühl. Vielleicht klang das jetzt alles ziemlich schlimm und für mich war es das auch, aber ich verstand auch irgendwo das es so sein musste. "Trinkst du den heute Abend nach?" fragte mich nun eine Schwester und ich erkannte das es Lydia war. Sie war mir immer noch unsympathisch. "Ja genau." Sie nickte und schrieb es dann auf einen Zettel. "Ok eine Schnitte mit Marmelade, Butter und zwei Apfelstücke?" Dieses mal war ich es der nickte. Mir fiel es schwer das alles zu essen. Gerade jetzt spürte ich wieder wie mir schlecht wurde, als ich hörte, was ich alles gegessen habe. Aber entweder jetzt oder heute Abend. Und wenn man das essen verweigerte, dann würde es weit kommen, das man künstlich ernährt wurde und das wollte ich nicht. Ich war so hin und her gerissen. Ich verstand, das ich gesund werden musste aber trotzdem gab es da noch Ana, die mir zeigte, das es zu viel war. Ich wusste nicht, wem ich nachgeben sollte. Lilly hatte das gleiche gegessen. Ich glaube es war ganz gut, das wir uns gefunden haben und die Klinik gleichzeitig betreten haben. Man war nicht allein und man konnte sich gegenseitig helfen. Ich beobachtete wie zwei Mädchen anfingen sich zu streiten. Ein Pfleger ging dazwischen. "Was ist mit denen?" fragte mich Lilly, die meinen Blick gefolgt war. "Es ist das Konkurrenz denken." warf Lydia ein, die immer noch neben uns stand. Verwirrt sahen wir sie an. "Entweder wer am dünnsten ist oder wer schneller wieder hier heraus kommt." Lilly und ich hatten tatsächlich ebenfalls schon über unser Gewicht gesprochen. Aber wir hatten nichts weiter dazu gesagt. "Wollen wir etwas raus gehen?" fragt sie mich und ich kann nur zustimmen. Mit Jacken und Schuhen an den Füßen gehen wir heraus. Wir laufen den kleinen See entgegen. "Glaubst du an die Liebe auf den ersten Blick?" fragt sie mich nachdem wir eine Weile in Stille gelaufen sind. "Ist es nicht wichtiger überhaupt erstmal an die Liebe zu glauben?" Unbewusst denke ich an Alexander. Ich hoffe er nimmt meinen Rat zu Herzen. Ich brauche ihn, gesund. Meine Sorgen sind groß, denn so ein Mensch wie er, hat alles Glück der Welt verdient. "Und wenn es Liebe auf den ersten Blick ist, dann sollten man auch einen zweiten riskieren." Kurz sehe ich sie an bevor ich den Vögeln beim zwitschern zu höre. Irgendwo ist auch ein Specht, der gegen einen Baum trommelt. Die Sonne spiegelt sich in dem See wieder. Ich glaube, das selbst die Umgebung zu einer Genesung beisteuert. Es muss einfach gut gehen. Nicht nur für mich sondern auch für alle anderen, die in meinem Leben sind.

"Magnus, schön dich wieder zu sehen." Luke begrüßte mich. Auf dem Tisch standen bereits die Teller. Gefüllt waren sie mit gekochten Möhren und Erbsen, zwei Kartoffeln und kleine Hähnchenstücke. Dazu gab es eine Soße und einen Saft. Der Kostaufbau musste langsam gehen. Alles andere wäre nicht gut für den Körper. Er wäre überfordert. Gemeinsam setzen wir uns. Ich sehe das Essen genau an. "Was geht dir durch den Kopf?" Hilflos zucke ich mit den Schultern. Da ist so viel. Kurz massiere ich meine Schläfe. "Es ist viel und dieser Zwiespalt ist anstrengend. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen normal zu essen. Nicht mal erinnern kann ich mich, das ich es jemals konnte." Langsam nehme ich das kühle Besteck in die Hand. Luke und ich fangen an zu essen. Unauffällig schaue ich immer wieder zur Uhr. Nach einer halben Stunde lege ich das Besteck wieder weg. Ich habe nicht alles geschafft. Unsicher blicke ich zu Luke. "Das ist doch für den Anfang gar nicht mal so schlecht." lächelt er mich leicht an und ich kann nur zurück lächeln. Ich muss mir selbst Zeit geben, auch wenn jeder Tag verwirrender wird. "Würdest du mir bitte etwas von deiner Schulzeit erzählen?" Ich verspannte mich sofort und rutschte nervös in dem Stuhl hin und her. Ich habe noch nie wirklich von allen Erlebnissen erzählt. Nicht mal meine Eltern wissen alles. Ob sie enttäuscht von mir sind, das ich doch nicht so stark bin, wie sie immer dachten? Bin ich ihnen eventuell jetzt peinlich? "Sie war nie wirklich schön. Ausgenommen von der High School, denn da habe ich meine beste Freunde kennen gelernt. Aber ich konnte sie nicht so genießen. Die Zeit davor war einfach zu prägend."

Flashback

Mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Kopf lief ich die engen Gänge der Schule entlang. Es war ein Tag wie jeder andere. Morgens wurde ich von Papierkügelchen abgeworfen. Die Beleidigungen kamen ebenfalls wie Messer geflogen und sie trafen immer direkt in mein Herz. Die ersten zwei Stunden waren überstanden. Nur noch eine und dann hätten wir vorzeitig Schluss. Noch drei Jahre dann würde die High School anstehen. Ob sie genau so schlimm wird? Die Hoffnung auf Freunde hatte ich schon längst verloren. Oft fragte ich mich wie es überhaupt war, Freunde zu haben? Was sind Freunde? Schmerzhaft wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Zwei Jungs hatten mich umfasst. Der dritte tauchte vor meiner Nase auf. Er war größer und älter als ich. "Na Moppelchen? Bis jetzt gut durch den Tag gerollt? Schon deine ganzen Kalorien gegessen?" Wut stieg in mir auf. Doch ich brachte nichts heraus. "Na willst du dich nicht wehren? Oder hindert dich dein Fett daran?" Die beiden, die mich festhalten lachen gehässig. Mir treibt es die Tränen in die Augen. Die Worte tuen weh und ich habe das Gefühl, das mein Herz bereits zerstochen ist. Es ist mein zweiter Schulwechsel und immer hatte ich Hoffnung das es besser wurde, aber sie war verschwunden, am ersten Schultag. Die Jungs ziehen mich zu den nahegelegenen Toiletten und ich weiß was jetzt folgt. Sie zerren an meinen Klamotten. Ich versuche mich jetzt dagegen zu wehren. Aber ich habe gegen drei Jungs keine Chance. "Es muss sein. Du versperrst immer den Gang." Schneller als ich schauen kann befindet sich mein Kopf in einem Klo und sie betätigen mehrmals die Spülung. Ihr Lachen steigt in meinen Kopf und brennt sich dort ein. So das ich mich immer wieder an sie erinnern könnte.

Flashback

"Ich war als Kind immer etwas schlaksiger. Ich habe nicht wirklich zugenommen, obwohl ich normal gegessen habe. Erst mit dem Tanzen wurde es etwas besser. Dann kam der Anfang der Pubertät und ich wurde fülliger. Für viele zu füllig. Auch wenn ich noch im Normbereich war. Es interessierte nicht." Es trieb mir Tränen in die Augen. "Ich.. die stimmen verfolgen mich bis heute." gebe ich zu. Luke reicht mir ein Taschentuch. "Wir werden das hinbekommen, ok? Du darfst nur nicht aufhören daran zu glauben." Nachdem Luke noch sicher gegangen ist, das ich mich beruhigt habe und es mir soweit wieder gut geht, werde ich bereits von Mrs. Penhallow erwartet. Sie steht vor meinen Zimmer. "Magnus, wie waren die ersten Tage?" Ich lasse sie herein. "Überraschend gut." gebe ich ehrlich zu. Auch wenn ich beim aufstehen immer noch Angst habe was der Tag für mich bereit hält. So habe ich auch das Gefühl das, das alles hier mir hilft. Manches ist überfordernd aber Luke geht darauf gut in den Gesprächstherapien ein, die wir jeden Abend haben. Auch das hilft. Ich mag diese Konstante. Der Tag ist geordnet und diese Routine trägt zu diesem kleinen "wohlfühlen" bei. Es ist etwas woran man festhalten kann und es einem Sicherheit gibt. "Das freut mich zu hören. Magnus, nach den ersten Tagen führe ich mit den Bewohnern ein kleines Aufklärungsgespräch. Es gehört mit dazu und ich würde es jetzt gern mit dir machen. Nur wenn du dich dazu bereit fühlst." Ich nicke nur. Ich setze mich auf das Bett, während sie sich auf meinen Schreibtisch Stuhl setzt. "Magnus du weißt ja das du Magersüchtig bist. Der Fachbegriff dafür ist Anorexia nervosa. Es steht für nervlich bedingte Appetitlosigkeit. Die Symptome sind dir ja bekannt. Es kann nach der möglichen Genesung oder auch während der Akutphase zu Folgeerkrankungen kommen. Wie zum Beispiel zu Osteoporose, dabei verlieren deine Knochen an Dichte und du hast eine höhere Neigung zu Knochenbrüchen, ein leben lang. Es kann zu Herz, Nieren und Leberschädigungen kommen. Du hast bereits sicherlich schon Probleme mit der Verdauung und mit der Haut?" Typischerweise spiele ich wieder mit dem Saum, meiner Strickjacke, die eigentlich Alexander gehört. "Ja. Meine Haut ist trocken und rissig. Dazu die flaumartige Behaarung an meinen Unterarmen. Meine Verdauung dauert länger."  Sie nickt. "Die Haut kann man pflegen. Allerdings konzentriert dein Körper sich erstmal auf alle wichtigen Vorgänge und dazu fehlt ihm die Energie. Es wird besser, wenn du wieder regelmäßig isst. Die Verdauung kann besser werden, muss aber nicht. Wie sieht es mit dem Sexualleben aus?" Ich sehe auf. Ihr ernster Gesichtsausdruck zeigt mir, das es mir nicht peinlich sein muss. Trotzdem kann ich es nicht aussprechen.  Es ist mir unangenehm. "Was ist mit Alexander?" fragt die Ärztin vorsichtig. Trotz das sie so direkt ist, hatte sie Samthandschuhe an. "Da gab es nie etwas in die Richtung." Mrs. Penhallow überschlug ihre Beine. "Ich möchte das du weißt, das es zur sexuellen Unlust kommen kann. Vor allem aber hormonelle Störungen. Dein Körper kann zwar erregt sein, aber er kann es nicht mehr so äußern. Die Erektion vom Penis aber auch zum Beispiel die Versteifung von den Brustwarzen bleibt aus. Es kann zu Störungen des Orgasmus kommen." Die Ärztin nimmt sich fast drei Stunden Zeit und erklärt mir alles. Nicht nur zu diesem einen Thema sondern auch zu meinen Fragen findet sie Antworten und ich bin ihr dankbar dafür. Es macht mir Angst wie viele Folgen diese Erkrankung haben kann. Aber sie nimmt mir diese etwas. "Du bist hier und wir werden dich gesundheitlich immer kontrollieren. Wir helfen dir, versprochen." Ich bedanke mich und kurz drückt sie meine Hand bevor sie geht. Gleich darauf sitzt Lilly neben mir. "Sie war auch bei mir. Die Menstruation bleibt aus und Haarausfall. Ich wünschte sie hätte mir damit irgendetwas neues gesagt. Aber man bekommt es ja mit, wie man immer mehr abbaut." flüstert sie leise. Ich muss sie nicht ansehen um zu wissen, das sie sich genau so fühlt wie ich. Man macht sich Vorwürfe, weil man hier herein geraten ist. Da ist Angst, weil dieser Kampf selbst nicht nach einem normalen Gewicht vorbei ist. Unsicherheit schwingt wie eine Schaukel hin und her, schafft man es wirklich? Uns war nicht bewusst wie ernst das alles eigentlich war. Ich greife nach der Hand von Lilly. "Irgendwie bekommen wir das hin." Vorsichtig nickt sie.

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