Prolog | Samuel
Samuel konnte das Meer nicht ausstehen. Der Geruch von Algen brannte in seiner Nase, der Geschmack von Salz klebte auf seinen Lippen und die Feuchtigkeit in der Luft, die sich um seine Haarspitzen schlang, ließ einzelne Strähnen in sein Gesicht hinabfallen. Er hatte längst aufgegeben sich die Mühe zu machen, sie wieder zu richten. Sie würden ohnehin nicht nachgeben.
Es war eine Ehre, die Wintersonnenwende im Korallenpalast miterleben zu dürfen, umgeben von den Melodien der prächtigsten Muscheln und dem Schimmern der seltensten Perlen. Samuels Herz sollte vor Stolz ertrinken. Aus all' den Soldaten der Zweiten Armee hatte man ausgerechnet ihn dazu erwählt Wache zu stehen, während die Großen Götter sich in ihrer schillernden Euphorie verloren. Einen Abend lang war er Teil einer anderen Welt. Einer Welt voller Reichtum, voller Prunk und Überfluss. Und doch konnte er sich tausend schönere Dinge vorstellen, als auf einem einsamen Balkon zu stehen und seinen trägen Blick über das schier endlose Meer gleiten zu lassen. Zwischen dem Rauschen der Wellen kam er sich so winzig, so unbedeutend vor. Anstelle des Stolzes spürte er nur die Melancholie längst vergangener Erinnerungen.
Während seiner Einsätze kam er selten dazu, an seine Familie zu denken. An die innigen Umarmungen seiner Mutter, das ehrliche Lachen seines Vaters und die liebevollen Sticheleien zwischen seinen Geschwistern. Doch das stürmische Meer erinnerte ihn unausweichlich daran, was er verlieren musste, um seinen Liebsten das Leben zu schenken. Sie waren zwar noch immer ein Teil seines Lebens, aber er war nicht mehr länger Teil ihres. Er hatte es gespürt. Vor wenigen Tagen, als seine Mutter ihm die Tür geöffnet hatte. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und ihre Finger hatten gezittert, als sie ihm über die Wange gestreichelt hatte. Monatelang hatte er sich vorgestellt, wie ihre Stimmen klangen, wenn er ihre Briefe las, hatte von diesem Moment geträumt. Aber es war, als hätte sein zu Hause die Wärme verloren, die ihm sonst immer Geborgenheit gespendet hatte. An ihrer Stelle hatte sich eine frostige Heuchelei eingenistet.
Sie liebten ihn noch immer, das zweifelte er nicht an, aber er war ein Fremder für sie. Sie kannten die Narben nicht, die seinen gesamten Körper überzogen, kannten die erbarmungslose Gewalt nicht, die ihm so vertraut geworden war. Während sie von Tag zu Tag lebten, versuchte er nur zu überleben.
Es war gut so. Es war besser so.
Ein lautes Schnipsen zwang den jungen Wachmann dazu seine Gedanken für einen Augenblick beiseite zu schieben. Nur widerwillig riss er seinen Blick von der Leere vor ihm und wandte sich wieder Keelan zu.
»Hm?«, murmelte er müde.
»Weißt du, du solltest von Glück sprechen, dass ich dein Freund bin«, Keelan legte seinen Arm um Samuels Schulter, woraufhin dieser unwillkürlich ein wenig unter dem Gewicht seines Kameraden zusammensackte. Es war kein Geheimnis, dass er seinen guten Ruf allein seinem wachen Verstand verdankte. »Wenn Kommandant Lander dich so vor dich hinträumen sehen würde, wärest du deinen Posten sofort los.«
Samuel schenkte ihm ein einziges Augenrollen. Keelan hatte gemeinsam mit ihm die Ausbildung zum Soldaten begonnen. Sie hatten einander in den schlimmsten Momenten gesehen. Als Tränen und Blut nasse Spuren auf ihren Wangen hinterlassen hatten, als die Angst abscheuliche Grimassen in ihre Gesichter geschnitzt hatte. Egal wie gerne Samuel es leugnete, der Bürgerkrieg hatte aus ihnen nicht nur Freunde, sondern auch Brüder gemacht. Sie kannten einander besser als sich selbst. Und sie wussten beide nur zu gut, dass es für Kommandant Lander deutlich mehr Gründe gab, Keelan zu entlassen. Er war derjenige, der immer einen dummen Spruch auf Lager hatte. Derjenige, der seine Meinung nicht für sich behalten konnte. Derjenige, der ein Talent dafür besaß, alle um sich herum in Schwierigkeiten zu bringen.
»Ich habe dich gefragt, was deine Schwester über mich gesagt hat«, fuhr Keelan unbeirrt fort »Du weißt schon, nachdem...«
»Gar nichts«, unterbrach Samuel. Mit einer gekonnten Bewegung seiner Schulter löste er sich aus der erzwungenen Umarmung und brachte wieder etwas Abstand zwischen sich und Keelan. Es gab Dinge, die er schlicht und ergreifend nicht hören wollte. Keelans Schnarchen, wenn er wieder auf dem Rücken einschlief, zum Beispiel. Oder das Knarzen der morschen Holzdielen in der Kaserne. Aber am allerwenigstens wollte er hören, was seine jüngste Schwester tat, wenn er nicht mit seinen aufmerksamen Augen über sie wachte. Dass es ausgerechnet einer seiner Freunde geschafft hatte, sie um den kleinen Finger zu wickeln, machte die Sache nicht im Geringsten besser. »Sie hat mir gar nichts erzählt.«
Falls Keelan den gereizten Unterton gehört hatte, der Samuels Stimme zierte, ließ er sich nichts davon anmerken. Das schelmische Glitzern seiner Augen flackerte munter weiter: »Dann war sie wohl so sehr von mir beeindruckt, dass sie es nicht in Worte fassen konnte.«
»Mit Sicherheit. Das muss es gewesen sein«, sagte Samuel kopfschüttelnd.
»Verdammt«, Keelan trat einen Schritt auf die Brüstung zu und stütze sich auf dieser ab. Samuel bildete sich ein, ein wehmütiges Zucken seiner Mundwinkel zu erkennen. »Ich kriege sie einfach nicht aus dem Kopf.«
»Denk' einfach an den Wein, den du nach unserer Schicht trinkst.«
»Was soll denn das heißen?« fragte Keelan und verschränkte die Arme gespielt beleidigt vor der Brust.
»Hast du etwa was anderes vor?« Samuel zuckte mit den Schultern.
»Nein, aber vermutlich hat der gute Dionysos ohnehin schon jede Flasche, die sich hier versteckt, geleert.«
»Vielleicht hast du ja Glück und er hat heute vor dem ersten Drink vergessen, etwas in den Magen zu bekommen. Dann sind sicherlich noch ein paar Flaschen übrig.«
Keelan lachte auf und auch Samuel musste sich ein Grinsen verkneifen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der Große Gott des Weines eine Flasche nach der anderen leerte. Solange bis die Bewusstlosigkeit ihn wieder einmal besiegte.
»Hör zu«, Samuel trat neben seinen Freund und fasste sich unbeholfen an den Nacken. Keelan mochte ein Quälgeist sein, aber er verdiente ein ehrliches Gespräch über seine Schwester. Wenn er selbst doch wenigstens eine Ahnung davon hätte, wie er Keelan mitteilen konnte, dass er gefälligst die Finger von ihr lassen sollte, ohne seinen Zorn auf sich selbst zu hetzen. Samuel schluckte schwer. »Ich weiß, du magst Ciana. Und ich weiß, es ist vermutlich das Letzte, was du hören willst, aber ich...« Ein ohrenbetäubendes Donnern zuckte durch Samuels gesamte Körper hindurch und ließ ihn innehalten. Zwischen den wenigen Wolken, die den Himmel bedeckten, begannen sich Blitze zu formen. Die Narben eines Gottes. Samuels aufmerksamer Blick folgte jedem von ihnen. Er hatte in seinem Leben schon zahlreiche Gewitter gesehen, manche von ihnen am glimmenden Horizont, andere auf dem tosendenSchlachtfeld. Das Kunstwerk, das sich ihm mit jedem weiteren Zucken der Lichter bot, glich keinem einzigen davon. Farben, die Samuel zuvor noch nicht gesehen hatte, rissen den Himmel entzwei, brachen ihn wieder und wieder auf.
»Was ist das?«, flüsterte Keelan benommen. Noch während Samuel nach einer Antwort suchte, schnitt ein spitzer Schrei durch die Luft. Dann noch einer. Und noch einer. Sofort fand Samuels Hand den Weg zu dem eisernen Schwert an seiner Seite und umschloss den Griff fest. Erst die Blitze, dann die Schreie. Irgendetwas stimmte nicht. Erst vor wenigen Stunden hatte Kommandant Lander mit ihnen allen den gesamten Ablauf der Feierlichkeiten durchgesprochen. Er hatte jede Kleinigkeit erwähnt, nicht einmal die Anzahl der Tische im Ballsaal ausgelassen. Keelan hatte seine Langeweile bereits durch ein lautes Gähnen kundgetan, während Samuel damit gekämpft hatte seine Augen offenzuhalten. Wenn ein Spektakel dieser Art geplant war, hätte er sie darüber informiert.
»Du bleibst hier und passt auf. Ich gehe rein und frage nach, ob die anderen mehr wissen«, befahl er. Keelans Mund öffnete sich, bereit zum Widerspruch, doch Samuel hatte nicht vor ihn ausreden zu lassen. »Tu einmal, was man dir sagt, kapiert?« Er wandte sich ab und eilte davon. Sein erstes Ziel würde der Ballsaal sein. Dort, wo sich die meisten Gäste tummelten, würde er mit Sicherheit an einige Informationen kommen.
Seine raschen Schritte hallten auf dem Marmorboden wider wie eine Symphonie, geschmiedet einzig und allein für die Großen Götter. Hätte er die Zeit gehabt, hätte ihm die Schönheit des Palastes sicherlich den Atem verschlagen. Dutzende Kronleuchter tanzten wie Quallen über seinem Kopf, kristallklare Schuppen und farbenfrohe Korallen bildeten Ornamente an den Wänden. Es war als hätte man die gesamte Pracht der Meere an einem einzigen Ort gebündelt. Selbst der Boden schimmerte wie die Wasseroberfläche im zagen Mondlicht.
Auf den Fluren begegnete er keinem anderen Wachmann. Stattdessen hatten sich die Gäste in kleinen Gruppen versammelt. Sie sprachen in gedämpftem Ton miteinander und obwohl Samuel kein einziges Wort verstand, hörte er die Angst in jedem einzelnen von ihnen vibrieren. Jeder Winkel des Palastes stand unter Strom. Je mehr der Gäste er höflich beiseiteschob, um sich einen Weg zu bahnen, desto klarer wurde die Gewissheit, dass das, was geschehen war, keineswegs geplant war.
Er bog um eine Ecke, dann um noch eine und noch eine. Jeder Gang glich dem anderen wie in einem endlosen Labyrinth. Auswege wurden zu Sackgassen. Sackgassen wurden zu Auswegen. Es war ebendiese Endlosigkeit, die Samuel seine Schritte beschleunigen ließ. Adrenalin jagte das Blut mit einer unbekannten Geschwindigkeit durch seinen Körper. Es ließ ihn seine eigene Furcht vergessen.
Ein Nebel aus stillem Grau hing über dem Ballsaal, der sonst in den Tönen des Ozeans erstrahlte. Niemand tanzte. Niemand lachte. Jedes der Gesichter war gezeichnet von Entsetzen. Und jeder ihrer Blicke gerichtet auf einen Fleck am Boden.
Als Samuel ihre anmutige Silhouette sah, glaubte er, sie würde bloß schlafen. Ihr helles Haar war auf dem glänzenden Boden ausgebreitet, ihre zarten Augenlieder geschlossen und ihre Lippen zu einem stummen Lächeln geformt. Sie sah wunderschön aus. Einzig und allein das goldene Blut, das sich über den weißen Stoff ihres Kleides zog, verriet, dass es nicht der Schlaf war, der sie geholt hatte. Es war der Tod.
Goldenes Blut, schoss es Samuel durch den Kopf.
Er stieß einen Schwall Luft aus. Er hatte all' die Geschichten gehört, die von den brutalen Morden an den Großen Göttern handelten. In jeder einzelnen von ihnen waren sie bitter verblutet.
Goldenes Götterblut.
Samuel hatte sie für Märchen gehalten, die man kleinen Kindern zum Einschlafen erzählte, um sie den Unterschied zwischen Gut und Böse zu lehren. Die Großen Götter konnten, durften nicht sterben. Sie sollten unerreichbar, unsterblich sein, denn sie waren die Säulen, auf denen Theosia gebaut wurde. Sie waren die Stärke, die in den Adern eines jeden Menschen pulsierte.
Noch bevor er realisieren konnte, was geschehen war, spürte er wie die Dunkelheit über seine Schulter krabbelte und ihm ins Ohr zu flüstern begann. Eine eisige Kälte zog über seine Haut hinweg, ließ sein Blut gefrieren und sein Herz stillstehen. Er kannte das Gefühl. Das Gefühl, wenn der Tod einem ins Gesicht blickte, wenn der eigene Atem einen zu ersticken drohte. Wohin er auch ging, es war sein ständiger Begleiter.
Samuel begann zu taumeln. Es schien als würde der Boden unter seinen Füßen schmelzen. Verzweifelt suchte er nach etwas Halt. Mehrmals griff seine Hand ins Leere bis er es schließlich schaffte, sich an dem Ärmel eines Fremden festzuklammern und wieder sicher zu stehen. Womöglich war das alles ein Traum. Ein schrecklicher Albtraum, der seiner eigenen Angst entsprungen war. Das musste es sein.
»Entschuldigen Sie bitte, ich...«, setzte er an, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Ein Paar pechschwarzer, erbarmungsloser Augen bohrten sich tief in seine Seele hinein, rankten sich um das bisschen Verstand, das noch in ihm ruhte.
Bei ihrem bloßen Anblick zuckte Samuel zusammen, stolperte einige Schritte zurück. Man nannte ihn den seelenlosen Gott, den Totenflüsterer, den Verlorenen. Der Hochgott des Todes trug tausende Namen, denn kaum jemand wagte es, seinen wahren Namen auszusprechen. Es galt als schlechtes Omen.
Samuel hatte sich selbst schon immer für tapfer und edel gehalten. Doch in diesem Moment zerschmetterte etwas in ihm. Er sah seine Welt in Trümmern liegen, spürte bereits wie die Asche der Ruinen seine Nasenspitze kitzelt und er gab auf. Seine Knie trafen mit einer schmerzvollen Wucht auf den Boden.
Dann stand die Zeit still.
Das Letzte, was er sah, war das goldene Blut an Hades' Händen.
Das Blut einer Großen Göttin.
Heras Blut.
☽༓☾
1992 Wörter.
☽༓☾
Ich widme dieses Kapitel
stuermische und rosensonne,
meine beiden Flügel.
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