Kapitel 2 | Eira
Eira konnte es noch immer nicht glauben. Erst als der vertraute Geruch des Goldenen Dreizacks in ihrer Nase zu kitzeln begann und der erste Schluck Bier ihre Kehle hinab sickerte, holte die Wirklichkeit sie mit einem bitteren Schlag ein.
Er hatte sie ersetzt. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, hatte Iljas sie ersetzt. Nach all' den Jahren, in denen sie sich Seite an Seite durch das Leben geschlagen hatten. Bei den Großen Göttern, sie hatte ihm sogar immer wieder aus der Patsche geholfen, wenn der Sor ihm mal wieder zu Kopfe gestiegen war und sein benebelter Verstand ihn beinahe umgebracht hatte. Sie hatte ihn, unbemerkt von seiner Mannschaft, wieder auf die Perlenrache gebracht, um seinen Ruf zu schonen. Selbst seinen lächerlichen Annäherungsversuch vor einigen Monaten, an den er sich am nächsten Morgen schon längst nicht mehr erinnern konnte, hatte sie nie wieder erwähnt, wohlwissend, dass er es bereuen würde.
Sie war sein Anker und er war ihr sicherer Hafen.
Und dennoch hatte er sie einfach ersetzt.
Wir sind Piraten, Eira. Wir halten nicht viel von Beständigkeit. Seine Worte hallten unaufhörlich in ihrem Kopf wider.Das solltest du doch am besten wissen.
Das Schlimmste war, dass er Recht hatte. Sie hatte geglaubt ihn zu kennen, hatte ihn mit seiner Sorglosigkeit sogar irgendwie in ihr Herz geschlossen. Obwohl sie wusste, wer er war. Wer sie selbst war. Es war ihre eigene, verdammte Schuld, dass sie nun alleine in der Taverne saß und verzweifelt versuchte die Erinnerungen an die vergangenen Stunden aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Die Enttäuschung, die in stürmischen Wellen über sie hineinbrach, auch nur für einen Moment zu vergessen.
Doch ihre Gedanken übertönten selbst das Geschreis der anderen Gäste, deren Worte nichts weiter als ein leeres Lallen waren, das die stickige Luft erfüllte. Die meisten von ihnen konnten nicht einmal mehr gerade auf ihren Stühlen sitzen. Wie gierige Schatten ihrer selbst zog es sie an einen Ort wie diesen, nur um einen weiteren Abend damit zu verbringen sich selbst zu belügen.
Eira verachtete sie alle. Dumm und einsam gaben sie sich dem Rausch hin, der sie wie reines Gift von innen heraus zerstörte. Aber an diesem Abend wünschte sie sich nichts lieber als ein Teil von ihnen zu sein. Binnen weniger Minuten war nichts mehr von ihrem ersten Bier übrig. Seufzend lehnte sie sich ein Stück weiter über den Tresen, um die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich zu lenken.
Sie hatte die kleine Taverne vor einigen Jahren entdeckt. Etwas abseits der Hauptstraßen Kaliras befand sie sich, unscheinbar und brüchig. Der einzige Grund, weshalb Eira hier mit der Zeit zum Stammgast geworden war, war, dass kein anderes Mitglied der Perlenrache diesen Ort kannte. Nicht einmal Iljas.
Dieser verdammte Verräter.
Eiras Griff um ihren Krug verfestigte sich. Sie brauchte ganz dringend mehr von dem Bier. Gerade als sie dem Wirt zurufen wollte, erkannte sie zwischen all den Menschen das unschuldige Gesicht eines jungen Mädchens und die Worte blieben ihr im Halse stecken. Der dunkle, einfache Mantel mochte einen großen Teil ihrer Gestalt verhüllen, doch Eira ließ sich nicht von dem Gesamtbild täuschen. Sie achtete auf die Feinheiten, die den anderen entgingen. Den viel zu ordentlichen Zopf, die viel zu rosigen Wangen, die viel zu strenge Körperhaltung. Wenn man genau hinsah, dann war es geradezu offensichtlich. Sie gehörte nicht hierher. Sie gehörte in die Paläste der Götter, umgeben von goldenem Prunk und geheuchelten Komplimenten. Der Wohlstand und die Lügen der Adeligen umgab sie wie ein zartes Leuchten.
Ein verbotenes Lächeln huschte über Eiras Lippen. Vor vielen Jahren hatte sie von einem Leben wie diesem geträumt. Einem Leben, in dem ihre größte Sorge die Farbe ihres Kleides oder die Auswahl an Vorspeisen gewesen wäre. Aber die Zeit hatte sie eines Besseren belehrt. Nun bemitleidete sie all diejenigen, die mit ihrem Geld. Sie waren ahnungslos, glaubten sich in Sicherheit, während die Gefahren um sie herum ihr eigenes, heimliches Spiel spielten.
Eira war eine dieser Gefahren. Mit geschicktem Blick verfolgte sie jede Bewegung des Mädchens, jedes unschuldige Schimmern ihrer Augen und jedes vorsichtige Umschauen. Es würde ein Leichtes sein, an die glänzenden Ohrstecker oder die elegante Kette zu kommen. Sie war jung und allein, vermutlich war sie auf der Suche nach sich selbst. Eira kannte die Geschichten über solche Mädchen. Sie flohen vor ihren Verpflichtungen, in der dummen Hoffnung auf ein besseres Leben, nur um wenige Tage später mit tränennassen Augen und herzzerreißenden Entschuldigungen wieder zurückzukehren. Wahrscheinlich würde ein kurzes Gespräch genügen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Ein paar tröstende Worte, eine einfühlsame Umarmung und Eira würde den wertvollen Schmuck in ihrer Tasche stecken können. Nikos würde ihr vermutlich eine beträchtliche Menge Lios dafür bieten.
Iljas würde ihr noch dankbar sein. Und seine lächerliche Entscheidung hoffentlich rückgängig machen.
Bestimmt schob Eira den leeren Krug über den Tresen, stieß sich von diesem ab und bahnte sich dann einen Weg durch die Menschenmenge hindurch zu dem Platz, an dem sie die adelige Mädchen zuvor gesehen hatte. Doch als sie endlich dort ankam, der Gestank nach Schweiß und Verzweiflung umhüllte sie wie ein lästiger Nebel, war das Mädchen verschwunden. Stille Flüche jagten durch Eiras Gedanken hindurch. Nur einen einzigen Moment hatte sie ihre Aufmerksamkeit schwinden, sich von der billigen Vorfreude treiben lassen. Genau dieser Moment hatte genügt, um ihr einen Strich durch die Rechnung zu ziehen.
Aber Eira schrieb ihr Leben selbst. Ihre Tinte war ihr Schweiß, ihr Blut und ihre Tränen.
»Hey«, rief sie über den Tresen hinweg, sodass der Wirt, der sich nun damit beschäftigte, einige Gläser abzuwaschen, zur ihr hinüberblickte. Sofort ließ er das Tuch über seinen Unterarm gleiten.
»Was darf's sein?«, fragte er.
»Wo ist das Mädchen, das gerade noch hier stand? Blondes Haar, dunkler Mantel.«
»Warum sollte ich's dir sagen?«
Kein Wunder, dass sich dieser Laden kaum über Wasser halten kann, dachte Eira. So armselig, wie sie mit ihren Stammgästen umgehen.
»Deswegen«, Eira fischte eine silberne Münze aus ihrer Tasche heraus. Der Gedanke daran, sie für etwas derart Banales wie eine Antwort auszugeben, brannte zwar in ihrem Herzen, doch wenn sie heute alles richtig machte, würde sie sich nicht länger um diese eine Münze kümmern müssen.
»Ich vermut' mal in ihrem Zimmer. Sie wollt 'ne Nacht lang hier schlafen.«
»Welche Zimmernummer?«
»Erst die Bezahlung«, sagte er und deutete auf die Münze.
Mit knirschenden Zähnen reichte Eira ihm das Silberstück und warf ihm dann einen abwartenden Blick zu, ihre Arme vor der Brust verschränkt. Falls er vorhatte, sie über den Tisch zu ziehen, wusste er spätestens jetzt, dass sie dies niemals zulassen würde. Dass sie ihm immer einen Schritt voraus sein würde.
»Zimmer Vier«, brummte er achtlos.
Sie antwortete ihm mit einem halbherzigen Nicken und verschwand dann in die Richtung der Zimmer.
Das, was sie sah, als sie durch die kleine Tür trat, die ihre besten Tage schon längst vergessen hatte, ließ ihr Herz jedoch für eine Sekunde stillstehen. Das Mädchen, dessen unschuldiger Blick Eira davon überzeugt hatte, dass sie ein leichtes Spiel sein würde, hielt ihre Hände fest zu Fäusten geballt. In ihren Augen loderte ein wildes Feuer.
Eira kannte das Feuer in ihnen.
Ein Lied aus Zorn, aus Entschlossenheit, aus Verzweiflung. Es umgab sie wie ein leises Brennen, ein zartes Leuchten.
Dem Mädchen gegenüber, an die kalte Steinwand gedrängt, stand ein Mann. Nein, er stand nicht mehr wirklich. Er hielt sich gerade so auf seinen Beinen. Betrunken bis in die Knochen nistete die Angst sich in seiner verdammten Seele ein.
Die Erkenntnis traf Eira wie ein eiskalter Schlag ins Gesicht: Er hatte Angst vor ihr. Vor dem Mädchen mit dem goldenen Haar und dem Lächeln der Sterne. Was auch immer sie ihm gesagt oder sogar getan hatte, sie war mit Sicherheit nicht so wehrlos, wie Eira es anfänglich vermutet hatte. Sie war keines von den Mädchen aus den Geschichten— verwöhnt, naiv und auf der Suche nach sich selbst. Die Dämonen, die sie hierhergetrieben hatten, waren viel schlimmer als das.
Eira blinzelte. Wieder und wieder, um sicherzugehen, dass sie sich nichts davon einbildete. Funken tanzten um den schlanken Körper des Mädchens, schlangen sich immer näher um sie herum bis sie sich auf ihrer Haut niederließen und diese zum Glühen brachten. Sie sah aus als stünde sie in Flammen. Goldenen Flammen, die nur ihrer Stimme gehorchten. Doch sie selbst schien es nicht einmal wahrzunehmen, denn ihr Blick galt allein dem Mann. Wild. Entschlossen. Eira wusste, dass sie ihn leiden lassen wollte, den Schmerz durch seinen gesamten Körper zucken sehen wollte. Sie spürte es in der Luft, die vor Spannung zu beben begonnen hatte. Jeder Atemzug fühlte sich an wie ein Sturm, der an ihrer Seele zerrte. Eira konnte sich nicht erinnern wann sie ihre eigene Hand auf ihre Lippen gepresst hatte, aber es war das Einzige, was sie davon abhielt einen fassungslosen Laut auszustoßen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Magie war etwas Besonderes. Nur den Auserwählten der Götter, den Asterií, wohnte sie inne. In ihrem Heimatdorf, hunderte Meilen von Kalira entfernt, waren Eiras Eltern die einzigen Asterií gewesen. Aber nachdem Iljas sie als Schiffsmechanikerin angeheuert hatte, hatte Eira ganz Theosia gesehen, hatte gesehen welche Wunder Magie anrichten konnte, aber auch welche Zerstörung sie hinterließ. Auch, wenn Eira nie viel über die Magie der Asterií gelernt hatte, wusste sie genug darüber. Genug, um zu verstehen, dass das, was gerade im Flur der Taverne geschah sah, nichts damit gemeinsam hatte. Das Mädchen besaß nicht nur einen Bruchteil der Götterkraft. Nein, sie bestand aus ihr. Sie war die Wurzel, die Quelle ihrer eigenen Macht. Einer Macht, die so viel wertvoller war als all' der Schmuck, den sie bei sich trug. Wenn man nur wusste, wie man sie richtig einsetzte.
Eira trat einen Schritt weit nach hinten, in den winzigen Schatten, der sich zwischen den Lichtkegeln der Lampen gebildet hatte. Ihre Gedanken rasten, schneller und schneller. Wurden klar, verschwammen wieder und setzten sich neu zusammen. Wenn sie es schaffte, das Mädchen dazu zu überreden mit ihr aufs Schiff zu kommen, würde Iljas ihr ewig dankbar sein. Selbst er würde nicht dumm genug sein und die Möglichkeiten ignorieren, die ihre Fähigkeiten, was auch immer sie waren, ihnen bieten würden. Eira würde ihren Posten wiederbekommen, da war sie sich mehr als sicher. Den Schmuck konnte sie auch ein paar Tage später noch klauen und für ihre eigenen Zwecke nutzen.
„Hey", als hätte er vergessen, was ihm gerade widerfahren war, stellte sich der taumelnde Mann nun auf Eira zu. Sein Grinsen war dreckig, düster. Das Souvenir eines traurigen Lebens. „Wie sieht es mit dir aus? Heute Abend..."
Sie ließ ihn seinen Satz nicht beenden. Bevor er verstand, was sie vorhatte, traf ihre Faust auf sein Kinn, nur um kurz darauf gegen seinen Schädel zu donnern. Er sackte bewusstlos zusammen. Die Kraft hinter dem Schlag strahlte bis in Eiras eigenen Arm aus. Durch den leichten Schmerz zuckten ihre Muskeln, aber auf ihren Lippen formte sich ein zufriedenes Lächeln. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie schwer der Kopf des Fremden morgen früh sein würde. Vermutlich würde er sich nicht einmal mehr daran erinnern, woher das dröhnende Pochen in seinem Schädel stammte. Obwohl Eira ihre Pistolen bevorzugte und Iljas ihre Schläge ständig belächelte, wusste sie ganz genau, dass sie gut genug mit ihren Händen kämpfen konnte, um einen Mann noch lange an sie denken zu lassen.
Sie ließ den Mann dort, wo er war. Sein Rücken gegen die Wand gelehnt, das Kinn auf der Brust und die Beine in einer sehr unangenehm aussehenden Position angewinkelt. Blut hatte sich mit seiner Spucke gemischt und tropfte nun von seinem Mund auf sein schmutziges Hemd. Wenn er Glück hatte, fand ihn in ein paar Stunden jemand und erbarmte sich dazu ihm zu helfen. Wenn er Pech hatte, sorgte der Dreck in der Taverne dafür, dass sich seine Wunden bis dahin entzündeten.
Eira hoffte, dass er Pech hatte.
Sie wandte sich der Tür zu, durch die das Mädchen vor wenigen Momenten verschwunden war und klopfte an.
Stille. Natürlich.
Sie hatte nichts anderes erwartet. Es war nie klug einem Fremden die Tür zu öffnen. Vor allem nicht, wenn man allem Anschein nach auf der Flucht vor etwas war. Aber die Lust auf derartige Spielereien war Eira spätestens dann vergangen, als sie gesehen hatte, zu was das Mädchen in der Lage war.
»Du hast jetzt zwei Möglichkeiten«, sie lehnte sich gelangweilt gegen den Türrahmen, rollte mit den Augen und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Entweder du machst die Tür auf und hörst dir mein Angebot an. Oder du lässt dich von der Stadt zerreißen wie ein Blatt im Sturm. Deine Wahl.«
Wieder herrschte Stille. Die Sekunden vergingen und Eira spielte bereits mit dem Gedanken tatsächlich wieder zu verschwinden, als die Tür endlich aufschwang.
»Geht doch«, sagte Eira. Gekonnt schob sie sich an dem Mädchen vorbei ins Zimmer und sah sich um. Dicke Staubschichten zogen sich über die wenigen Möbel hinweg, klebten an ihnen wie lästiger Teer. Es musste Monate, vielleicht sogar Jahre her sein, seitdem hier das letzte Mal jemand sauber gemacht hatte. Wenn überhaupt. Ihr Blick fiel auf den einzelnen, geflochtenen Zopf am Boden.
Clever, dachte Eira. Mit kurzen Haaren kommt sie sicherlich leichter als Junge durch. In Theosia ist alles leichter, wenn die Menschen glauben, man hätte was zwischen den Beinen hängen.
»Wer bist du?« fragte die Fremde nach einigen Sekunden der Stille. Eira konnte hören, dass sie sich darum bemühte unbeeindruckt zu klingen, aber das Zittern ihrer Stimme war nicht zu überhören. Sie gehörte nicht an einen Ort wie diesen. Wer auch immer sie war, sie hatte nicht die geringste Ahnung davon, was für Gefahren Kalira heimsuchten. Sie konnte von Glück sprechen, dass sie es überhaupt hierhergeschafft hatte.
»Du musst lernen die richtigen Fragen zu stellen«, antwortete sie kopfschüttelnd, ehe sie sich wieder zu ihr umwandte. »Viel wichtiger ist doch, was ich von dir will.«
Der aufmerksame Blick des Mädchens folgte Eira.
»Ich will wissen, wer du bist«, beharrte sie.
»Eira Sallow«, gab sie schließlich achselzuckend nach. »Taklerin der Perlenrache und vermutlich deine einzige Chance lebend aus dieser Bruchbude hier heraus zu kommen.«
»Und was willst du von mir?«, fuhr sie unbeirrt vor. In ihren Augen spiegelte sich eine überraschende Stärke wider.
Eira ließ sich auf das schäbige Bett fallen. Sofort ertönte ein leises Knarzen. Es war sicherlich kein Spaß darauf einzuschlafen, wenn bei jeder noch so kleinen Bewegung ein derartig nerviges Geräusch ertönte.
»Immer der Reihe nach, Tiger«, schmunzelte sie. »Du wolltest meinen Namen wissen. Jetzt bist du dran. Wie ist dein Name?«
Schweigen füllte den Raum bis in den kleinsten Winkel, Spannung knisterte in der Luft wie die Hitze eines erdrückenden Sommers. Eira konnte das Misstrauen des Mädchens an ihrer steifen, wachsamen Körperhaltung erkennen, aber dafür war es jetzt zu spät. Wenn Eiras Plan wirklich daraus bestanden hätte, ihr etwas anzutun, dann hätte sie es schon längst getan – und erst recht nicht nach ihrem Namen gefragt. Namen machten es schwerer, Menschen zu verletzen. Sie erschufen unnötige Erinnerungen, Verbindungen, Gefühle.
»Astrid«, sagte sie schließlich, biss sich gleich darauf auf die Unterlippe und wandte ihren Blick ab.
»Also gut, Astrid. Mir rennt die Zeit davon. Ich schlage vor, wir verschieben dieses Frage- und Antwortspiel auf später und du hörst dir jetzt mein Angebot an. Danach kannst du noch immer entscheiden, ob du es annimmst oder nicht.«
»In Ordnung.«
Überrascht zog Eira ihre Augenbrauen zusammen. Sie hatte mit etwas mehr Widerstand gerechnet, vor allem nachdem Astrid sie vor wenigen Minuten nicht einmal in das Zimmer lassen wollte.
»Gut«, sie machte es sich so gut es ging auf dem Bett bequem, streckte ihre Beine aus und ließ ihren Kopf auf das sinken, was wahrscheinlich ein Kissen darstellen sollte. Die Federn, die sich darin jedoch versteckten und es weicher machen sollten, konnte Eira vermutlich an ihren Fingern abzählen. »Du kriegst einen kleinen Job auf unserem Schiff. Ein bisschen putzen, vielleicht kochen oder waschen. Wir können immer ein wenig Hilfe gebrauchen. Und im Gegenzug dafür bekommst du unseren Schutz.«
»Wo ist der Haken?« Fragte Astrid.
»Es gibt keinen Haken.«
»Und warum dann ausgerechnet ich?«
»Keine Ahnung. Nenn's Glück, Zufall, Schicksal. Wie du willst«, log Eira. Sie hatte das Gefühl, dass Astrid niemals damit einverstanden wäre mit ihr zu kommen, wenn sie die Wahrheit kennen würde. Wenn sie wüsste, dass die Perlenrache ein Piratenschiff war und, dass ihre unglaublichen Fähigkeiten von außerordentlichem Nutzen für sie sein konnten. Vor allem nicht in dem Zustand, in dem sie sich momentan befand. »Ich kann ein wenig weibliche Unterstützung gut gebrauchen.«
Vor allem jetzt, wo Iljas Vertrauen anscheinend lieber fremden Männern gilt als Frauen, mit denen er jahrelang Seite an Seite gearbeitet und gekämpft hat.
»Ich brauche Zeit«, erwiderte Astrid kopfschüttelnd und richtete ihren Blick auf ihre Finger, die nervös miteinander zu spielen begonnen hatten. »Um darüber nachzudenken.«
»Ich muss dich enttäuschen, aber die hast du leider nicht«, seufzte Eira. »Möglicherweise habe ich deinem Freund von vorhin eine winzige Lektion erteilt. Wenn man ihn findet, wird hier die Hölle los sein. Und ich bin ehrlich, ich habe nicht die geringste Lust mich auf dem Rückweg mit einem Haufen Stadtwachen herumzuschlagen. Ich weiß nicht, wie es bei dir aussieht.«
»Eine Lektion?«
Eira schloss ihre Augen, damit Astrid nicht sah, wie sie mit den Augen rollte. War sie selbst vor vielen Jahren, als sie nach Kalira gekommen war, auch so unglaublich naiv gewesen? Hatte sie, als Iljas sie auf der Straße gefunden hatte, genau solche falschen Fragen gestellt? Sie konnte sich bei bestem Willen nicht daran erinnern. Aber, wenn sie ehrlich war, konnte sie sich noch an kaum etwas aus der Zeit vor der Perlenrache erinnern.
Eira öffnete die Augen und blickte zur Decke hinauf. Es musste schrecklich sein, jeden Tag in dem gleichen Zimmer aufzuwachen, wohlwissend, dass jeder Tag genau so verlaufen würde wie all' die hundert Tage zuvor. Ohne zu ahnen, wie frei man sich fühlen konnte, wenn man aus diesem stickigen Gefängnis der Eintönigkeit ausbrach.
»Hast du jetzt etwa Mitleid mit diesem Mistkerl?«
»Nein!« antwortete Astrid sofort, ihre Augen wurden etwas größer und die Röte auf ihren Wangen wurde etwas intensiver. Eira musste sich ein Lachen verkneifen. Es war als hätte dieses Mädchen noch nie in ihrem Leben auch nur das kleinste bisschen Leid gesehen. Aber wenn dem wirklich so war, dann hätte sie keinen Grund dafür hier zu sein. Alleine und mit diesen geschwollenen Augen, die verrieten, dass sie geweint hatte. Hinter ihrer Fassade verbarg sich mehr, als sie preisgeben wollte und Eira würde die letzte sein, die danach fragen würde. Es war egal. Die Vergangenheit war egal. Die Zukunft war egal. Der Moment war alles, was zählte, wenn man wirklich lebte.
»Du gewöhnst dich noch dran«, sagte sie. »Vorausgesetzt, du überlebst lange genug. Kalira ist nicht die glänzende Stadt, die sie vorgibt zu sein.« Dann stand von dem Bett auf, klopfte sich einige, wenige Staubkörner von ihrer dunklen Hose und ging zur Tür. Manche Entscheidungen mussten schnell getroffen werden, um gut zu sein. Astrid blieben drei Sekunden, um Eira entweder zu folgen oder sie davongehen zu lassen. Und wenn sie dumm genug war das Angebot auszuschlagen, dann hatte sie ohnehin nichts auf der Perlenrache zu suchen.
»Warte«, Eira blieb stehen, ein stummes Grinsen zog an ihren Mundwinkeln. Astrids Stimme war zwar kaum mehr als ein Murmeln, aber sie klang entschlossen. »Ich komme mit dir.«
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