Kapitel 1 | Astrid
Erbarmungslos prasselte der Regen auf Astrid hinab. Die Tropfen, die wie winzige Kometen auf ihrer zarten Haut aufschlugen, hinterließen nichts weiter als das taube Gefühl von Einsamkeit. Astrid biss die Zähne fest zusammen, strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht und verbannte jeglichen trübsinnigen Gedanken aus ihrem Kopf. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und war den ganzen Weg bis nach Kalira gekommen. Sie würde bestimmt keinen Rückzieher mehr machen. Dafür war es ohnehin zu spät. Selbst wenn ihre Eltern ihr ihre unerwartete Flucht vergeben könnten, würde der Zorn eines Hochgottes sie endgültig zwischen die prachtvollen Gitterstäbe seines Palastes verbannen.
Astrid zog sich ihre Kapuze tiefer ins Gesicht. Sie bildete sich ein, einige der Menschen, die ihr entgegenkamen, würden ihr ahnungsvolle Blicke zuwerfen. Als wüssten sie wer sie war. Als wüssten sie, was sich hinter dem abgenutzten Mantel um ihren Körper befand. Als wüssten sie, welche Kostbarkeiten sich in der Tasche auf ihrem Rücken befanden. Sie senkte ihren eigenen Blick auf die Steine der Straße, die im Schein des Mondes silbern zu schimmern begonnen hatten. Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen und die Zeit rannte ihr langsam davon. Oft genug hatte Astrid die Geschichten gehört, die man sich über Kalira erzählte. Man nannte sie die Lilienstadt, denn ebenso wie die seltenen Nymphenlilien nahm sie im Mantel der Dunkelheit eine vollkommen andere Gestalt an. Die prachtvollen Gebäude, die im Tageslicht wie pures Gold schimmerten, verwandelten sich in grässliche Ungeheuer, sobald die Nacht über sie hineinbrach. Und während sich die Menschen in die Sicherheit ihrer Häuser zurückzogen, machten sie den Blutjägerinnen Platz. Niemand der ihr Gesicht sah, überlebte.
Astrid redete sich zwar ein, es wären nur Gerüchte, dennoch schlug ihr Herz mit jeder Minute, die verstrich, schneller und schneller. Unregelmäßiger. Links und rechts von ihr flackerten die Lichter riesiger Tavernen und einen kurzen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken einfach in einer von ihnen zu übernachten. Aber Sirahs mahnenden Worte echoten durch ihren Kopf, hielten sie davon ab ihrer aufkommenden Angst nachzugeben.
Einsamkeit ist das beste Versteck.
Dort, wo sich große Gruppen an Menschen versammelten, war die Wahrscheinlichkeit höher, dass man sie erkannte. Selbst hier, Hunderte von Stunden entfernt von ihrer Heimat, gab es mit Sicherheit jemanden, der wusste, wer sie war und der nicht zögern würde, sie zu verraten. Zweifellos hatte man schon vor Tagen eine absurde Summe an Geld als Finderlohn für sie ausgeschrieben.
Entschlossen bog Astrid in die nächstbeste Gasse ein. Hier, abseits der Hauptstraße, schien eine eisige Finsternis zu herrschen. Trotz ihres dicken Mantels begann sie zu frösteln. Die Wege waren nicht länger durch Straßenlaternen beleuchtet, nur das bisschen Kerzenlicht, das aus den Fenstern der Häuser drang, leistete dem Mondschein Gesellschaft. Und obwohl Stille die Gegend erfüllt, glaubte Astrid immer wieder ein Getuschel zu hören und schattenhafte Silhouetten zu sehen. Hinter ihr, neben ihr, vor ihr.
Überall und nirgendwo zugleich.
Sie schlang ihre Finger um die Träger ihrer Tasche, als würde diese sie vor allen Gefahren der Stadt bewahren können. Erst als sie, eine Weile später, die Aufschrift Zum Goldenen Dreizack über einem regen belebten Haus hängen sah, ließ sie ihre Hände erleichtert wieder sinken und bemerkte, dass ihre Nägel kleine Abdrücke in den Innenflächen hinterlassen hatten. Ein großer Teil der Farbe blätterte bereits von der Hausfassade ab und einige der Fensterläden fielen aus ihren Verankerungen heraus. Niemand verirrte sich grundlos hierher.
Ohne ihren Blick noch einmal auf die Ungewissheit hinter ihr zu werfen, steuerte Astrid auf das Gasthaus zu. Kaum öffnete sie die Tür, schlug ihr schon der brennende Geruch von Trunkenheit in die Nase und der Lärm schlang sich wie eiserne Fesseln um ihre Ohren. Lachen und Brüllen vermischte sich zu einem einzigen, schiefen Ton. Alles in ihr sträubte sich dagegen auch nur einen weiteren Schritt hinein zu treten. Für einen Augenblick wünschte Astrid sich zurück in die wohlige Wärme ihrer Heimat, dann schluckte sie das Gefühl jedoch hinunter und zwängte sich an der Menschenmenge vorbei hin zum Tresen.
»Ein Zimmer, bitte«, Astrid biss sich leicht auf die Zunge. Höflichkeit mochte dort, wo sie herkam unverzichtbar sein, aber an einem Ort wie diesem wurde sie zu einem bitteren Verräter. Hier, wo man sich beschimpfte und betrank, deutete gutes Benehmen darauf hin, dass man fremd war. Ein weiteres Opfer, das man mit Leichtigkeit hinters Licht führen konnte. »Für eine Nacht«, fügte Astrid rasch hinzu.
»Bist du alleine hier?« Fragte der Wirt stirnrunzelnd.
»Ja«, erwiderte Astrid mit fester Stimme, in der Hoffnung die pulsierende Nervosität ihres Herzens verbergen zu können.
»Du kannst ruhig in meinem Zimmer schlafen, Püppchen«, erklang eine fremde Stimme und keine Sekunde später sank das schwere Gewicht eines Armes auf Astrids Schulter hinab. Sie verzog das Gesicht und wandte sich schnell aus dem Griff, ehe sie ihren Blick etwas zur Seite gleiten ließ. Der Rausch stand dem Mann neben ihr ins Gesicht geschrieben. Die Müdigkeit zerrte an seinen trüben Augen und eine blutrote Farbe schmückte seine geschwollenen Wangen. Es war ein kleines Wunder, dass er sich noch auf den Beinen halten konnte. »Musst auch nichts zahlen. Finden sicher 'nen anderen Weg, wie du dafür aufkommen kannst.«
Astrid öffnete bereits ihren Mund, um zu antworten, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie kannte Männer wie ihn. Männer, die das Spiel mit dem Feuer liebten und nur darauf warteten, dass man ihnen mehr Brennholz zuwarf. Männer, die sich die Unsicherheit junger Mädchen zu Nutzen machten.
Ohne ein weiteres Mal zu ihm hinüberzuschauen, rückte sie ein Stück weit von dem Mann weg und wandte sich erneut an den Wirt: »Ein Zimmer.«
»Dreißig Lios«, antwortete er dann kopfschüttelnd.
Astrid schluckte schwer. Der kleine Geldbeutel, den sie sicher in der versteckten Innentasche ihres Mantels aufbewahrte, war bereits um einiges leerer als zu Beginn ihrer Reise. Und sie hatte noch nicht die geringste Ahnung davon, wie sie ihn wieder füllen konnte, wenn erst einmal nicht mehr übrig war. Sie hätte sich besser vorbereiten sollen. Sie hätte wissen sollen, dass sie das wahre Leben nicht kannte.
Zögerlich holte sie drei Münzen aus dem Beutel hervor und schob diese über das raue Holz des Tresens. Der Wirt nahm diese in seine knochigen Finger, drehte sie einige Male im fahlen Tavernenlicht hin und her und begutachtete sie gierig. Astrid fürchtete bereits, er würde sie als Fälschung abstempeln und mehr von ihr verlangen, als er schließlich bestätigend nickte.
»Zimmer vier. Die zweite Tür rechts«, mit einer achtlosen Bewegung seiner Hand deutete er auf einen kleinen Durchgang abseits des Getümmels. Bevor die Gewohnheit Astrid ein »Danke« über die Lippen locken konnte, nahm sie den Schlüssel entgegen, wandte sie sich stumm von dem Wirt ab und folgte der vagen Richtung.
Das spärliche Licht hüllte das Innere der Taverne in einen abendlichen Schein. Hier drinnen war der Tag endlos und das war alles, was zählte. Die Menschen kamen hierher, um die Probleme zu vergessen, die sie in der Stille der Nacht jagten. Sie bemerkten nicht, dass die morschen Tische kurz davor waren zusammenzubrechen oder, dass sich zahlreiche Spinnennetze entlang der Decke zogen. Sie wollten es nicht bemerken, aber Astrid konnte es ihnen nicht gleichtun. Sie sah wie kaputt alles und jeder an diesem Ort war.
Der Flur, in den sie die vom Wirt beschriebene Tür führte, war eng und modrig. Die lauten Stimmen aus Taverne drangen durch die Wände hindurch. Astrid konnte hören, wie die schrille Stimme einer Frau nach mehr Bier rief und ihren Traum von einem ruhigen Schlaf schien regelrecht zu zerplatzen.
»Du stellst dich gerne ein bisschen an, was? Magst wohl das Spiel«, höhnte jemand hinter ihr. Sie musste ihren Verfolger nicht sehen, um zu wissen, wer er war. Sein lächerliches Lallen und sein fordernder Tonfall verrieten den benebelten Fremden, der sie schon am Tresen angesprochen hatte. Ein Schauer kroch über Astrids Rücken hinweg, doch sie blieb nicht stehen, drehte sich nicht um. Nur ihren Schritt beschleunigte sie. Ihr Zimmer musste ganz in der Nähe sein.
»Jetzt hab' dich nicht so«, der Mann packte Astrid so plötzlich an der Schulter und riss sie herum, dass ihr ein leises Wimmern entwich. Ein stumpfer Schmerz jagte durch ihren Oberkörper hindurch, Sterne flackerten vor ihren Augen auf. Dieses Mal war sein Griff deutlich fester und entschlossener.
»Lass' mich los«, fuhr sie den Fremden an. »Sofort!«
»Oder was?« Lachte er. »Was willst du tun, hm?« Seine Augen bohrten sich in sie hinein, glitten wie gierige Messer über ihren Körper. Wie gelähmt stand sie da. Jegliche Bewegung schien unmöglich. Bei dem Versuch zu verstehen, was gerade geschah, rasten all ihre Gedanken rasten ins Nichts hinein.
»Hast wohl die Zunge verschluckt, was? Dacht' ich's mir schon«, sagte er und zerrte sie in eine unbekannte Richtung.
Vermutlich sein Zimmer, schoss es Astrid durch den Kopf.
Seitdem sie denken konnte, hatte man ihr beigebracht Auseinandersetzungen nur mit Worten zu lösen. Oder mit ihrem Schweigen. Man hatte ihr weisgemacht, dass Gewalt ihr niemals Hilfe leisten würde. Aber während sich die Finger des Trunkenboldes immer tiefer in ihre Haut gruben und sein widerlicher Atem ihre Ohren streifte, verstand sie, dass selbst das eine Lüge war. Eine der vielen Lügen, die man Astrid erzählt hatte, um sie unter Kontrolle zu behalten. Um sie zu einer hübschen, herzlosen Marionette zu machen.
Wut und Enttäuschung setzten ihre Seele in Brand. In der Welt, in der sie aufgewachsen war, mochten diese Lügen stimmen. Dort, wo jeder die Augen vor der Wahrheit verschloss, mochten Worte genügen. Hier, wo das Leben aus mehr als Schall und Rauch bestand, waren sie nutzlos. Sie würden Astrid nicht vor dem retten, was der Unbekannte mit ihr vorhatte.
Astrid schnappte nach Luft. Jahrelang hatte sie aufgegeben, hatte den Regeln anderer blind Folge geleistet. Diese Zeit war vorbei. Ihre Flucht sollte ein Neuanfang und sie war bereit dafür zu kämpfen. Jeden Tag aufs Neue. Um jeden Preis.
Mit all ihrer Kraft trat sie dem Mann gegen das Schienbein, woraufhin ein lautes Jaulen ertönte. Noch bevor er verstand wie ihm geschah, ballte sie ihre Hand zur Faust und katapultierte diese in seine Magengegend. Seine Augen weiteten sich, sein Griff lockerte sich.
Endlich.
Astrid nutzte die Chance, riss sich von ihm los und schubste ihn ein Stück weit zur Seite. Mit taumelnden Schritten stieß er gegen die kahle Wand.
»Miststück«, fluchte er, seine Arme nun um sich selbst geschlungen und sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzerrt. »Mögen die Götter dich verfluchen.«
Ein trockenes Lachen drang aus Astrids Kehle, als sie wieder einen Schritt weit auf den Mann zutrat: »Die Götter haben mich schon längst verflucht.« Er würde ihr nicht noch einmal folgen, davon war sie überzeugt. Doch das Feuer, das sie im Inneren zerriss, sehnte sich nach mehr. Er sollte sich für den Rest seines Lebens an diesen Moment erinnern. Daran wie sie das bisschen Stolz, das in ihm schlummerte, zertrümmert hatte. »Aber ich kann dir versprechen, dass sie noch viel Schlimmeres mit dir vorhaben«, ein wildes Lächeln zog an ihren Mundwinkeln, ehe sie ihre flache Hand gegen seine Wange schellen ließ. Der erschrockene Schrei, der ihm daraufhin entfloh, ließ Astrid innehalten. Tiefrote Abdrücke ihrer Finger krallten sich um sein Gesicht und im Glanz seiner Augen erkannte sie etwas vollkommen Neues.
Angst.
Er hatte Angst vor ihr.
Er hatte Angst vor ihr.
Sie stolperte einige Schritte weit zurück. Wo noch vor wenigen Sekunden reiner Zorn in ihr getobt hatte, breitete sich nun Entsetzen aus. Das war nicht sie. Man fürchtete sie nicht. Man bewunderte und begehrte sie.
Aber man fürchtete sie nicht.
»Ich...es...es tut...«, stotterte sie leise, hielt dann jedoch inne und schüttelte den Kopf.
Es stimmte nicht. Obwohl ihr eigenes Verhalten sie erschütterte, bereute sie es nicht. Nicht im Geringsten. Er hatte sie herausgefordert und Astrid wollte sich nicht einmal vorstellen, was er mit ihr getan hätte, wenn sie sich nicht gewehrt hätte.
Er hatte es verdient.
Immer mehr Flüche entflohen ihm. Sie nahm keinen einzigen von ihnen mehr wahr, denn ihre Füße trugen sie bereits weiter den Flur entlang. Ihr tauber Blick huschte über die Wände bis er endlich an einer hölzernen Tür stoppte. Eine rostige '4' prangerte daneben.
Ihr Zimmer.
Eilig kramte sie den Schlüssel aus der Tasche ihres Mantels hervor und steckte ihn in das passende Loch. Die Tür schwang mit einem lauten Knarzen auf. Astrid sah ein letztes Mal zu dem Mann hinüber, doch er war bereits verschwunden. Vermutlich gab er sich erneut seiner Trinksucht hin.
Die Tür fiel hinter Astrid Schloss. Augenblicklich gaben ihre Beine nach und sie ließ sich zu Boden fallen. Noch immer spürte sie das quälende Ziehen in ihren Fingern, das der Hieb hinterlassen hatte, und das sie daran erinnerte, was geschehen war. Elendige Tränen brannten in ihren Augenwinkeln und eine nagende Kälte zwang ihren Körper zum Zittern. Sie zog ihre Beine näher an sich heran, umschlang diese mit ihren Armen und ließ ihren Kopf auf ihre Knie sinken.
Sie war erschöpft. Sie war zerbrochen. Sie war allein.
Vollkommen allein.
Die Welt um sie herum begann immer mehr zu verschwimmen, ertrank in einem Meer aus Tränen, während ein dumpfer Schluchzer nach dem anderen über ihre Lippen huschte. Seitdem sie die schillernden Türme des Himmelspalastes verlassen hatte, hatte sie jeglichen Gedanken an das, was sie aufgegeben hatte erfolgreich vertreiben können. Doch jetzt, wo sie in Kalira angekommen war, konnte sie die Leere nicht mit Fluchtplänen füllen. Sie brach über sie hinein wie ein tosender Sturm. Unausweichlich. Zerstörerisch.
Vollkommen allein.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dasaß. Wie lange sie sich der Trauer hingab, die sie die letzten Tage über heimlich verfolgt hatte. Die Zeit war nichts weiter als ein Rauschen ihrer Sinne. Erst als Astrid ihren Kopf wieder etwas hob und die Sterne durch das Fenster flackern sah, wusste sie, dass es nur wenige Minuten sein konnten, die vergangen waren.
»Verdammt«, murmelte sie, wischte sich die Tränen von den Wangen und rappelte sich wieder auf. Zum ersten Mal schenkte sie dem kleinen Zimmer, das ihr in dieser Nacht Zuflucht bieten sollte, ihre Aufmerksamkeit. Es war nichts im Vergleich zu dem, was sie gewohnt war. Der bloße Anblick des Waschbeckens, das nun vermutlich ihr Bad ersetzen sollte, ließ sie daran zweifeln, ob ihre Entscheidung wirklich die Richtige war.
Astrid ließ sich auf dem winzigen Bett nieder und schloss ihre Augen. Erinnerungen zogen an ihr vorbei. Das Lachen ihres kleinen Bruders, der Geruch von Sonnentee, Sirahs Umarmungen. Erinnerungen, die nie wieder mehr sein würden.
Als sie ihre Augen wieder öffneten, blickte sie sich selbst entgegen. Selbst ihr Abbild im staubigen Spiegel sah aus wie eine Prinzessin. Wunderschön und verletzlich. Ihre filigranen Wimpern, ihre sanften Lippen und ihr helles Haar, in dem sich einzelne Sonnenstrahlen verfingen. Alles an ihr war perfekt.
Zu perfekt.
Ihr Blick blieb an dem Zopf hängen, der sich schon vor einer Weile aus dem Knoten gelöst hatte und nun über ihrer Schulter hing. An dem Abend ihrer Flucht hatte Sirah sich besonders viel Mühe dabei gegeben, ihn so fest wie möglich zu flechten. Astrid erinnerte sich daran, wie sie auf die Innenseite ihrer Wange gebissen hatte, um kein Anzeichen der Schwäche zu zeigen. Natürlich hatte Sirah es dennoch bemerkt. Als ihr Kindermädchen hatte sie Astrid ihr gesamtes Leben über begleitet. Sie hatte ihre Tränen getrocknet und ihr Lachen geteilt. Sie war ihre engste Freundin, ihre einzige Vertraute.
Astrid streifte sich die wenigen Strähnen, die sich gelöst hatten, aus ihrem Gesicht und wandte sich dann vom Spiegel ab.
Vor ihr lag der Neuanfang, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte und von dem sie in so vielen Nächten geträumt hatte. Alles, was hinter ihr lag, waren Ketten, die sie festhielten, die sie zurückzerrten. Astrid war nicht länger die Prinzessin, die ihre Eltern in ihr sahen. Sie war nicht länger das Püppchen, mit dem die Männer spielten.
Sie war eine Kämpferin. Sie hatte es sich selbst bewiesen und sie würde es dem Rest der Welt ebenso beweisen.
Astrid hob die Tasche, die zuvor auf dem Boden gelandet war, auf und holte einen unauffälligen Dolch heraus. Waffen waren etwas, das man ihr von klein auf verboten hatte. Es gehörte sich nicht für ein Mädchen, erst recht nicht für eine Göttin. Und obwohl sie am liebsten das Fechten gelernt hätte wie ihr Bruder, hatte sie immer auf die Regeln ihrer Eltern gehört.
Fast immer. Aber vor einigen Jahren hatte sie diesen kleinen Dolch auf dem Markt gesehen und nicht widerstehen können. Damals hätte sie sich nicht einmal vorstellen können, dass sie ihn irgendwann einmal tatsächlich benutzen würde. Er war lediglich ein stilles Symbol für ihre Unzufriedenheit, für ihren innerlichen Widerstand.
Ein weiteres Mal ließ sie ihre Finger über das Flechtmuster streifen, erlaubte sich eine letzte Träne. Dann setzte sie den Dolch etwas unterhalb ihres Kinns an und zog ihn mit etwas Druck durch ihr Haar hindurch.
Der Zopf fiel zu Boden.
Ein Haufen Erinnerungen, herausgerissen aus ihrem Herzen.
Ihre Vergangenheit.
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