Kapitel 12 - Opfer
„Ich kann meine Fallen nicht aufstellen, weil so ein bescheuerter Nordmann mich verprügel und dann meinen Rucksack geklaut hat! Aber ich kann mit dem Bogen etwas schießen!"
„Kannst du nicht! Du hast deine Hand verstaucht! Also werde ich jagen gehen!"
„Glaubst du, ich bin nicht fähig meinen Teil hier zu erfüllen? Du bist so ein widerlicher Macho! Du denkst auch nur, weil du ein Mann bist, kannst du alles besser!"
„Genau das glaube ich!"
Einar schloss verzweifelt die Augen und atmete einmal tief durch.
Auch Greta neben ihm hielt sich die Ohren zu und Fjolnir verdrehte genervt die Augen.
Sie waren ein paar Tage in dem Lager geblieben, damit sich Taylor erholen konnte. Doch seit sie wieder halbwegs auf dem Damm war, stritt sie sich eigentlich pausenlos mit Hunter.
Sie hatten noch einen Tunnel und einen Weg gefunden und kamen eigentlich gut vorwärts, aber die Streitereien zerrten an den Nerven.
„Dann beeile dich mal und schau, dass du uns etwas zum Essen schießt! Aber ich glaube, du bist schon aus der Übung! Und das obwohl du ein Mann bist!"
Greta rieb sich die Nasenwurzel, als die beiden munter weitermachten.
„Es war irgendwie noch schöner, als wir alleine waren, oder?", fragte Einar sie leise.
Greta nickte und atmete tief durch.
„Du solltest einmal mit Hunter reden.", meinte Einar.
Greta sah ihn fragend an.
„Wieso ich?"
Einar zuckte mit den Schultern.
„Immerhin scheint sich da zwischen euch etwas an zu bahnen. Er schläft nachts neben dir. Vielleicht hört er auf seine zukünftige Gefährtin."
Greta blieb abrupt stehen und starrte ihn an. Täuschte er sich oder war da Enttäuschung in ihren Augen? Bevor Einar fragen konnte, nahm sie den Zugriemen ab.
„Kannst du für mich übernehmen, Fjolnir? Ich brauche einen Moment Ruhe!"
Fjolnir nickte und nahm ihr den Gurt ab.
„Ich glaube, ich bin nur von Idioten umgeben!", murmelte er.
Einar hob eine Augenbraue.
„Was?"
Fjolnir ging weiter, als ob er Einar nicht gehört hatte, doch dieser blieb stehen.
„Was hast du gesagt?"
Fjolnirs Blick war tadelnd.
„Ich glaube, du hast mich schon verstanden! Bist du wirklich so dumm oder willst du nicht wahrhaben, dass Greta und Hunter überhaupt nichts miteinander haben!"
Einar schnaubte.
„Sie liegt nachts neben ihm! Vorher hat sie mein Lager neben sich aufgebaut, aber das macht sie auch nicht mehr."
Fjolnir atmete tief ein.
„Das war einmal, Einar. Sie schlafen schon lange nicht mehr nebeneinander. Aber das siehst du ja nicht. Und ich weiß, dass sie dich eifersüchtig machen wollten. Doch dann kam Taylor und seitdem ignorierst du Greta so gut es geht. Es kann sein, dass ich meine Schwester nicht genug kenne, aber ich habe Augen im Kopf. Du verletzt sie mit deiner Ignoranz jeden Tag auf das Neue. Leider kann ich sie nicht trösten, weil sie mir immer noch nicht traut. Der Einzige, der etwas dagegen unternehmen könnte, läuft gerade neben mir und ist stur wie ein Ochse!"
Einar sah auf den Boden.
„Es ist besser so!"
Fjolnir schlug ihm auf die Schulter.
„Warum sagst du so etwas?"
Er wurde wütend und er unterdrückte seinen Zorn. Einar hätte es nie für möglich gehalten, das Fjolnir wirklich so etwas wie brüderliche Liebe für Greta empfinden würde, aber genau das tat er im Moment.
Allerdings wollte er ihm auch erklären, warum er nicht der Richtige für seine Schwester war.
„Sieh mal, Fjolnir, es ist mir schon klar, dass sie mich mag. Ich habe ihr geholfen. Ich bin mit ihr unterwegs gewesen. Aber ich bin zu alt für sie. Immerhin ist sie erst siebzehn und ich siebenundzwanzig. Genau das war doch immer der Altersunterschied, den die Männer zu den Frauen in unseren Dörfern hatten, oder?"
Fjolnir zog seine Augenbrauen zusammen.
„Du willst also damit sagen, dass Greta dich nur aus Dankbarkeit liebt? Dass sie dich aus Gewohnheit ausgesucht hat? Du hast ja wirklich eine sehr hohe Meinung von dir!"
Einar schnaubte.
„Vielleicht ist Hunter auch nicht der Richtige für sie. Aber ich bin mir sicher, dass wir auch andere Männer treffen, die in ihrem Alter sind. Ich will nicht, dass sie sich dann mir verpflichtet fühlt! Lieber bleibe ich alleine, als dass sie nur aus Mitleid und Dankbarkeit bei mir bleibt!"
Fjolnir blieb stehen.
„Du bist ein dummes Arschloch, Einar! Hörst du dir eigentlich auch mal selbst zu? Ich muss aufpassen, dass ich von deinem Selbstmitleid nicht kotzen muss!"
Er nahm den Zugriemen ab.
„Weißt du was? Zieh den verfluchten Wagen alleine! Vielleicht kommst du mal etwas zur Vernunft, wenn du vor lauter Anstrengung nicht mehr nachdenken kannst!"
Einar blickte Fjolnir verblüfft hinterher.
Dummes Arschloch?
Er dachte zu viel nach?
Selbstmitleid?
Waren denn alle verrückt geworden?
Einar hatte das Gefühl, dass er der einzige Vernünftige war.
Es war bestimmt kein Selbstmitleid. Aber er ertrug es ja jetzt schon kaum, wenn Greta nur mit Hunter redete. Wie sollte das erst werden, wenn sie wirklich einen Mann treffen würde, mit dem sie zusammen sein wollte? Er würde es nicht ertragen, wenn sie bei ihm blieb, nur weil er ihr geholfen hatte.
Nein, es war schon richtig so, wie er handelte.
Wer weiß?
Vielleicht fanden sie im Süden endlich eine Siedlung, die so war, wie Greta es sich immer ausgemalt hatte. Wenn er Glück hatte, dann würde es auch andere Siedlungen geben, zu den er gehen konnte. Oder er würde wieder alleine leben. Er hatte es schon einmal getan. Er könnte es wieder tun.
Entschlossen zog er den Wagen alleine weiter.
Niemand würde ihn von seinem Vorhaben abhalten können!
Fjolnir hatte ihm direkt in die Hände gespielt.
Norwin hatte keine Ahnung, warum sein Bruder so sauer auf den Einsiedler gewesen war, aber der hatte den ganzen Tag den Wagen alleine gezogen.
Nun lag er in der Nähe des Feuers und schlief tief und fest.
Dabei war die Sonne noch nicht einmal untergegangen. Aber der Einsiedler würde ihm seinen Plan nicht versauen!
Es roch sehr gut von ihrem Lager her und Norwin lief das Wasser im Mund zusammen. Der junge Kerl hatte zwei Hasen erlegt und Greta hatte sie zubereitet und nun hingen sie in der Hitze und strömten einen unwiderstehlichen Duft aus.
Norwin seufzte.
Genauso hatte es auch gerochen, wenn seine Mutter Hasen gebraten hatte.
Einen Moment kamen seine Erinnerungen hoch.
Er sah sich wieder in der Hütte. Seine Mutter stand am Kamin und schnalzte missbilligend mit der Zunge, weil er sich wieder mit Norak balgte. Dag und sein Vater saßen am Tisch und unterhielten sich über die Arbeiten, die sie am anderen Tag zu erledigen hatten. Kal saß vor dem Tisch und war aufgeregt, weil er das erste Mal mit ihnen durfte und dann zu den Männern gehörte. Fjolnir hatte sich an das Bein seiner Mutter geklammert und versuchte seine ersten Schritte.
Ja, es war so schön gewesen.
Bis zu dem Tag, als seine Mutter Greta das Leben schenkte.
Von dem Tag an hatte sich alles verändert.
Sie wussten alle, dass die Tage ihrer Mutter gezählt waren.
Nie wieder wurde es so fröhlich.
Er schüttelte den Kopf und fletschte die Zähne.
Das alles hatte ihnen Greta eingebrockt. Und er war der Einzige, der das erkannt hatte.
Er musste sie bestrafen für das, was sie ihnen alles angetan hatte.
Er nahm den Speer, den er gebastelt hatte.
Nein!
Er würde dem allen ein Ende bereiten.
Tief im Innern wusste er, dass seine Eltern davon auch nicht mehr lebendig werden würden. Aber er würde sie rächen. Und dann würde er nach Hause zurückkehren und allen wieder die Grundsätze beibringen. Er würde Anerkennung von den Dorfältesten bekommen für seine Tat. Und er würde alle seinen Zorn spüren lassen, die ihn im Stich gelassen hatten.
Jetzt war der Zeitpunkt ideal.
Greta war ungeschützt.
Er musste handeln!
Jetzt!
Greta entfernte sich aus dem Lager.
Einar hatte den ganzen Tag den Wagen gezogen und schlief nun tief und fest. Sie hätte ihm gerne geholfen, so wie sie es immer getan hatte. Doch er hatte sie verletzt. Wie konnte er nur daran denken, dass sie und Hunter... Sie schloss die Augen. Tränen schossen hoch und sie zwinkerte ein paar Mal, bevor sie sich zitternd auf einen Felsen setzte.
Leise weinte sie!
Warum musste alles so schwer sein?
Seit sie Hunter begegnet waren, hatte sich Einar verändert.
Am Mittag hatte er Recht gehabt.
Es war noch schön, als sie alleine waren. Doch nun? Er zog sich immer zurück, sobald sie in seine Nähe kam. Doch dann sah er sie wieder so seltsam an, wenn er glaubte, sie bemerkte seinen Blick nicht.
Sie seufzte leise und atmete zitternd ein.
„Es ist schwer seinen Gedanken zu folgen, habe ich Recht?"
Erschrocken blickte Greta auf. Ihr Bruder kam zu ihr. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seine Lippen.
„Fjolnir!", meinte sie nur knapp.
Auch wenn er sich verändert gab, traute sie ihm noch nicht. Sie konnte seine Gemeinheiten in der Vergangenheit einfach nicht vergessen. Sie sprach eigentlich nur das Nötigste mit ihm und versuchte Fjolnir aus dem Weg zu gehen. Aber nun konnte sie ihm nicht ausweichen, wenn er direkt vor ihr stand. Er hatte sie gesucht und offenbar wollte er sie trösten. Das war neu für sie.
Er atmete tief durch und setzte sich neben sie. Er schien es auch zu merken, dass sie sich nicht ganz wohl fühlte.
Lange Zeit schwiegen sie. Greta wusste einfach nicht, was sie mit ihm sprechen sollte. Alles in ihr weigerte sich daran zu glauben, dass er sich wirklich verändert hatte. Mehr noch, seine Nähe war ihr im Moment unangenehm. Sie rechnete damit, dass er sie jederzeit schlagen oder beleidigen würde.
Er senkte den Kopf.
„Ich weiß, was du denkst. Du denkst, ich kann mich nicht so schnell verändert haben!"
Sie sagte dazu nichts, aber es waren genau ihre Gedanken.
„Greta! Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde ich einiges anders machen. Ich war damals zu jung. Und leider leicht zu beeinflussen."
Er atmete tief ein.
„Dag hatte Vater. Und auch wenn Norwin und Norak Zwillinge waren, saß Norak mit Kal zusammen. Ich hatte niemanden, also wandte ich mich an Norwin. Es ist keine Entschuldigung, aber es klang alles so plausibel, was er und die Dorfältesten mir erzählten. Ich wollte nicht darüber nachdenken, ob sie Recht hatten oder nicht. Ich war einfach nur wütend, weil Mama gehen musste. Ich sollte mich entschuldigen, dass ich in meinem Wahn dir die Schuld darangab."
Er sah in die Ferne.
„Als ich Norwin in die Eiswüste folgte, merkte ich, dass er in seinem eigenen Wahn gefangen war. Er fluchte auf Dag und die anderen, weil sie ihre Frauen liebten, so wie es Vater getan hatte. Er bezeichnete Vater als schwach, dabei war Papa der stärkste Mann, den ich gekannt habe. Er hat sich über alles hinweg gesetzt,weil er Mama liebte und sie nciht so schlecht behandeln wollte, wie es die anderen taten und immer noch tun. Langsam wurde mir bewusst, wie falsch das alles war. Nicht nur das Gerede von Norwin, sondern alles. Die Dorfältesten übten ihre Macht aus indem sie alle unwissend ließen. Wir waren alle dumm, weil wir ihnen geglaubt haben, ohne nachzudenken. Als wir in Einars Hütte waren, habe ich die Bücher gesehen, die er noch im Regal hatte. Als Norwin nicht hingesehen hat, nahm ich eines und begann zu lesen."
Er nestelte an seinem Hemd und zog das Buch über Landwirtschaft hervor, das Einar zurückgelassen hatte. Greta sah ihren Bruder mit großen Augen an.
„Du hast darin gelesen?"
Er nickte lächelnd.
„Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehe, aber ich will lernen, verstehst du? Deswegen war ich nicht böse, als Ulara mich behalten wollte. Ich wäre Sklave gewesen, aber ich weiß auch, dass man mir viel beigebracht hätte. Aber Norwin hat mich einfach zurückgelassen, obwohl er wusste, dass sie uns töten würden. Ich dachte wirklich, er wäre mein Bruder und würde so etwas nie tun. Doch ich habe mich getäuscht. Er denkt nur an sich, seine Rache und den Ruhm. Etwas anderes interessiert ihn nicht."
Er drückte ihr das Buch in die Hand.
„Du hast das getan, was eigentlich Norwins Aufgabe gewesen wäre. Er hat sich immer als Bruder ausgegeben, aber als es darauf ankam, hat er mich alleine gelassen, um sich selbst zu retten! Du hast mich gesehen und obwohl du wirklich keinen Grund hattest, mich mit zu nehmen, hast du es getan."
Sie nickte leicht.
„Auch wenn du ein Arschloch warst...du bist mein Bruder. Ich glaube, ich hätte mir immer Vorwürfe gemacht, wenn ich es nicht getan hätte."
Greta wusste nicht, ob er deswegen beleidigt war, aber Fjolnir schien sie zu verstehen.
„Ich weiß. Aber ich habe auch in deinen Augen gesehen, dass du lange mit dir gerungen hast. Und auch das verstehe ich."
Er strich ihr sanft über die Schulter, zog seine Hand aber schnell wieder zurück, als er bemerkte, wie sie zusammenzuckte.
„Eigentlich hast du auch jemanden anderes erwartet."
Greta lachte freudlos.
„Ich hatte gehofft, ich täusche mich, aber einen Moment dachte ich wirklich an Kal oder Norak. Auch wenn ich deswegen sehr traurig gewesen wäre."
Er atmete tief ein.
„Dag hast du nicht erwartet?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein! Dag wusste alles. Im Gegensatz zu euch hat er mich gefunden. Er hat mich ziehen lassen, weil auch er verstand, dass ich bei Thorstan dem Tod geweiht gewesen wäre."
Fjolnir war überrascht.
„Er hat nichts gesagt!"
Sie wandte den Kopf zu ihm.
„Was hätte es gebracht? Ihr hättet ihn verdammt und Norwin wahrscheinlich auch an die Ältesten verraten. Er und Freya wären wahrscheinlich auch vertrieben worden. Oder man hätte ihm Freya weggenommen! Oder Schlimmeres!"
Sie schwiegen und sahen dem Sonnenuntergang zu.
Es war friedlich, denn auch von den beiden Jägern hörte man nichts mehr. Nur ab und zu hörte man das leise Schnarchen von Einar.
Greta seufzte leise.
„Obwohl ich weiß, dass wir noch lange nicht am Ziel sind, fühle ich mich jetzt schon wohl. Auch wenn ich im Moment traurig bin, bin ich frei. Ich..."
Sie hörte ein Surren und dann wurde sie von Fjolnir fortgestoßen, dass sie vom Felsen in den Dreck fiel. Einen Moment wurde ihr schwarz vor den Augen, als ihr Kopf auf den Boden knallte.
Dann sah sie ihren Bruder, der neben ihr auf dem Boden lag. Er schluckte hart, sah sie aber fest an. Ein Speer ragte aus seinem Rücken.
„Fjolnir!", schrie sie.
Sie robbte zu ihm und versuchte, seinen Kopf auf ihren Schoß zu betten,was wegen dem Speer nicht einfach war.
„Greta!", flüsterte er. Blut sprudelte aus seinem Mund.
„Nicht reden! Wir helfen dir!"
Verzweifelt hob sie den Kopf und sah zum Lager.
„Einar!", schrie sie.
Einar war schon aufgesprungen und rannte zu ihr. Auch Taylor kam, nur Hunter rannte in die andere Richtung. Greta hörte Tumult hinter sich, wollte sich aber nicht umdrehen.
Sie strich Fjolnir über das Gesicht. Tränen quollen aus ihren Augen.
Fjolnir schluckte wieder ein paar Mal hart und riss immer wieder die Augen auf. Als er hustete, kam wieder Blut aus seinem Mund.
Einar kam zu ihr und kniete sich neben Fjolnir. Er zog den Speer heraus und drückte sein Hemd auf die Wunde. Sein finsterer Gesichtsausdruck verriet aber nichts Gutes.
Sie sah ihn bittend an, doch Einar schüttelte den Kopf. Es gab keine Hoffnung mehr.
Fjolnir hustete.
„Greta! Norwin...hier!"
Sie nickte, denn sie wusste, dass nur einer sie töten wollte. In dem Moment hörte sie ihn auch schon ein Brüllen, doch sie sah Fjolnir fest in die Augen und strich ihm sanft über den Kopf.
„Du musst nicht reden. Es ist alles in Ordnung."
Fjolnir schluckte wieder, dann sah er zu Einar.
„Gutes Mädchen...sei...nicht blöd!"
Taylor riss sich ihr Hemd vom Oberkörper und drückte es ebenfalls auf die Wunde am Bauch. Der Speer hatte ihn voll getroffen. Sie verscuhte die Blutung zu stoppen, doch es war klar, dass Fjolnir nicht überleben würde.
Noch einmal sah er auf Greta.
„Tut...leid! Kein Recht!"
Sie schüttelte den Kopf.
„Hör auf zu reden! Du machst alles schlimmer!"
Er versuchte zu grinsen.
„Nicht mehr lang. Verzeih..."
Sie wusste, was er meinte. Sie nickte nur, denn sie konnte nicht antworten.
Er schloss die Augen und sein Atem wurde auf einmal sehr ruhig. Dann tat er seinen letzten Atemzug in ihren Armen.
„Fjolnir?" Ihre Stimme war nur noch ein Krächzen. Er lag ganz ruhig, sein Gesicht blass, beinahe weiß. Er sah friedlich aus, als ob er schlafen würde. Nur das Blut auf seinen Lippen und am Kinn störte dieses Bild.
„Fjolnir!"
Sie wischte das Blut mit dem Fetzen von Einars Hemd ab. Tränen liefen ihr nun über das ganze Gesicht.
Sie spürte, wie Einar sie in seine Arme nahm und sein Kinn auf ihren Kopf legte. Sie drückte ihre Nase an seine Brust und er strich ihr über den Rücken.
Erst nach einer Weile erinnerte sie sich daran, wie distanziert er zu ihr gewesen war. Sie rückte von ihm ab und wischte sich die Tränen von dem Gesicht.
Sie hörten hinter sich einige Männer brüllen.
Greta drehte sich um und sah, wie ein paar Männer der Sonnendiener auf sie zukamen. In ihrer Mitte hatten sie Norwin, der herumschrie und sich wehrte. Hinter ihnen lief Hunter und man konnte an seinem Gesicht sehen, dass er Norwin zuerst gefunden hatte. Ein Schnitt zierte nun seine Wange und sein linkes Auge war geschwollen.
„Ihr seid Männer und lasst euch von einer Frau herumkommandieren. Ihr seid keine richtigen Männer mehr! Ihr seid hörig! Ihr seid schwach. So schwach wie alle, die sich in eine Frau verlieben!"
Norwin schimpfte vor sich hin.
Dann stoppten sie und er starrte Greta hasserfüllt an.
„Du Schlampe! Alles deine Schuld!"
Sie trat vor ihm und sah ihn ernst an.
Dann holte sie aus und schlug ihm hart ins Gesicht. Als ob sie nicht genug hatte, packte sie ihn am Kragen und zog ihn nach vorne, so dass sein Blick auf Fjolnir fiel.
„Siehst du das? Das war dein Hass! Dein Hass hat Fjolnir getötet!"
Norwin schnaubte.
„Ich wollte ihn nicht töten. Fjolnir war der einzige richtige Mann, den ich kannte und der meine Ansichten teilte. Ein bedauerlicher Verlust!"
Wieder schlug sie ihm ins Gesicht.
„Er teilte deine Ansichten nicht! Er wusste, dass sie falsch waren. Du hast ihn getötet. Und nicht nur einmal. Du hast ihn im Stich gelassen. Du wolltest nur deine eigene Haut retten und hast in Kauf genommen, dass die Sonnendiener ihn umbringen!"
Er verzog seinen Mund zu einem Grinsen, was an ihm aber nun wie eine Fratze aussah.
„Wenn er meine Ansichten nicht teilte, dann war auch er ein Schwächling und hat es verdient!"
Einar trat vor und verpasste ihm einen Kinnhaken.
Norwin brach zusammen und Einar wandte sich an Barén.
„Nun habt ihr euer Opfer! Aber ihr solltet Greta fragen, was ihr mit ihm machen sollt!"
Barén nickte und neigte den Kopf vor Greta.
„Egal, was du entscheidest, wir werden deinen Willen akzeptieren. Ich werde Ulara erzählen, dass Fjolnir gestorben ist und er sich geopfert hat. Es wird genügen."
Sie schüttelte den Kopf.
Sie sah auf Norwin, der ihr Bruder war. Aber sie empfand nur noch Hass für ihn. Ihr wurde klar, dass er nie ihr Bruder gewesen war. Nicht so wie die anderen. Er hatte sie nie gewollt und ihr für sein eigenes Versagen die Schuld gegeben. Versagt hatte er, weil er einfach nicht akzeptieren konnte, dass auch Frauen eine Daseinsberechtigung hatten. Wenn Greta sich richtig erinnerte, dann fiel ihr ein, dass er nie mit anderen Frauen gesprochen hatte. Doch wenn er dachte, dass andere ihn verspotteten, ließ er auch das an Greta aus.
Sie hatte fliehen müssen, weil er sie an den Schläger des Dorfes verheiraten wollte. Sie hatte ihre Familie verlassen müssen, ihre anderen Brüder. Und er hatte nun auch noch Fjolnir auf dem Gewissen.
„Nimmt ihn mit euch! Macht, was ihr wollt! Er ist nicht mein Bruder! Er ist ein kranker Mann"
Sie drehte sich um und kniete sich wieder neben Fjolnir.
Einar hockte sich neben sie.
„Du wirst ihn nie wiedersehen."
Sie nickte.
„Du bist frei!"
Sie sah ihn ins Gesicht.
„Bin ich das? Kann ich wieder zurück? Nein! Ich bin nicht frei, Einar! Aber ich werde es sein!"
Er brachte ein kurzes Lächeln zustande, dann küsste er sich auf die Stirn.
„Wir werden alle frei sein!"
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