Zwei

Ein Blick auf mein Handy, dessen Akku nicht mehr lange halten würde, sagte mir, dass es bereits 21 Uhr war, die Sonne also bald verschwunden sein sollte. Seufzenden nahm ich meine Handtasche und den alten Schlafsack vom Beifahrersitz. Den Schlafsack hatte ich in der hintersten Ecke eines Schrankes gefunden. Er musste dorthin verbannt worden sein, nachdem ich ihn in der Grundschule für einen Klassenausflug zum letzten mal gebraucht hatte. Nun war ich froh, dass ich ihn nicht aus Frust sofort weggeworfen hatte.

Ich knallte die Autotür wieder zu und verriegelte den Wagen mit einem Druck auf dem Autoschlüssel in meiner rechten Manteltasche, während ich mich auf der Straße umblickte. Zwar war es schon spät, aber das schien niemanden daran zu stören sich draußen auf den Straßen aufzuhalten. Auf dem Gegenüberliegendem Bürgersteig spazierte ein altes Ehepärchen vorbei, das mich kritisch musterte und miteinander tuschelte. Bei den gegenüberliegenden Häusern brannte noch Licht und einer der Vorhänge bei dem Haus schräg gegenüber bewegte sich leicht und ich hätte schwören können, dort einen dunklen Haarschopf gesehen zu haben.

Etwas unwohl fühlte ich mich schon, denn ich kannte diese Stadt nicht und wusste nicht, wie schnell sich Tratsch hier weiter verbreitete. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis alle Bewohner dieser winzigen Stadt wussten, dass die Enkelin von Faye Moondew in der Stadt war. Wusste man hier, dass ich existierte?

In Gedanken versunken trat ich in das Haus und schloss die Tür hinter mir. Dann ging ich weiter, bis ich im hinteren Raum stand. Das Haus war nicht gut gedämmt und durch einige Ritzen an den Fenstern und der Tür zog die Luft herein. Zwar war es bereits Juni und es war wärmer, aber die Abendwinde trugen die Kälte der Berge mit sich und ließen mich in meinem T-Shirt frieren. Ächzend ließ ich mich auf den Fußboden fallen. Ich fühlte mich alt, dabei war ich erst 19 Jahre alt und sollte in der Blüte meines Lebens sein. Doch New York hatte mir zu schaffen gemacht. Das wilde Treiben jeden Tag, keine Ruhe, keinen Wald, die Jobs, neben meinem Schulabschluss hatten mich ausgelaugt und ich hatte es nicht einmal bemerkt. Ich hob die Arme über den Kopf und dehnte mich, wie die Frau aus dem YouTube Video es vorgemacht hatte. Bei ihr hatte es entspannt und ruhig ausgesehen, wie es bei mir aussah wollte ich besser gar nicht wissen. Mit einem Mal überkam mich die Müdigkeit und ich gähnte ungeniert. Eigentlich war es kein Wunder, ich hatte die letzten Tage kein Auge zugetan und dank des Elans und der Energie die mich gepackt hatte, habe ich bis jetzt auch keinen Schlaf benötigt. Ich blinzelte kurz und packte dann den Schlafsack aus. Heute würde ich erstmal so schlafen, dann konnte ich weiter sehen. In meiner Handtasche befand sich noch mein bordeauxroter Wollpullover, den ich mir für die Nacht über das T-Shirt zog damit ich nicht fror. An mehr erinnerte ich mich nicht mehr, ich war wohl eingeschlafen.

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Am nächsten Morgen wachte ich mit Rückenschmerzen auf. Im ersten Moment wusste ich nich wo ich mich befand. Erschrocken schreckte ich hoch und blickte mich um, wobei mir die Ereignisse der letzten Tage wieder in den Sinn kamen. Stöhnend drückte ich mich hoch und suchte in meiner Tasche nach einer Trinkflasche. Meine Kehle war staubtrocken und wenn ich nichts zu trinken bekam würde ich sterben. Naja, das war etwas dramatisch, aber so fühlte ich mich. Schnell nahm ich einpaar Schlucke und rieb mir anschließend die Stirn mit der freien Hand.

Die erste Nacht hier war nicht sonderlich gut gewesen und meine Aussichten auf den folgenden Tag waren ebenfalls nicht rosig. Das Haus war quasi leer, das hieß, es gab keinen Kaffeekocher, keinen Toaster und auch sonst keine Einrichtung die brauchbar war. Nichtmal die Toiletten konnte man ohne Probleme nutzen. Ich war mir nichtmal sicher, ob ich überhaupt Strom und fließendes Wasser hatte. Erneutes seufzen meinerseits. Eigentlich hatte ich nicht einmal die Motivation aufzustehen, doch nach Minutenlangem herum sitzen und die Wände anstarren gab ich mir einen Ruck und erhob mich vom Boden. Ich kramte den Autoschlüssel aus der Jackentasche meines dunkelgrünen Sommermantels und schlüpfte in meine schmutzfreien, weißen Sneakers.

Bei meinem Auto musste ich feststellen, dass es bereits hell draußen war und die Stadt einigermaßen belebt wirkte. Ich öffnete den Kofferraum mit einem Klick und betrachtete die Kisten und Taschen vor mir. Ich hatte nicht einmal all mein Zeug eingepackt. Meine Kleidung und Schuhe; Bücher; Bettzeug, wie Kissen, Decken und Bezüge; meine Badezimmer Utensilien und einpaar Küchengegenstände, wie Besteck und Geschirr. Die Kaffeemaschine und alles Andere hatte nie uns, sondern dem Vermieter gehört, daher hatte ich es da gelassen. Trotzdem war das kleine Auto beträchtlich voll und bei dem Gedanken, dass ich all das noch ins Haus schaffen musste, schüttelte es mich.

Ich hob die vorderste Kiste hoch und die darauf liegende Tasche balancierte ich mit ins Haus. ich trug sie bis in den hinteren Raum und stellte sie ab. Anschließend lief ich zurück und wiederholte dies mehrere Male, bis das Auto vollständig leergeräumt war und der Raum gar nicht mehr so leer wirkte. Ich machte den Kofferraum zu und verzog mich zurück in das Haus. Das Licht tanzte durch die Räume und durch das bunte Glasmosaik brach es in den verrücktesten Farbmischungen auf dem Boden und an der Wand. Meine Oberarme brannten vom Kisten schleppen und ich schüttelte sie, um den Schmerz loszuwerden. Währenddessen huschte mein Blick zwischen den Kisten und Taschen hin und her und ich versuchte mich daran zu erinnern, in welche davon ich was für Klamotten gestopft hatte. In einer Kiste fand ich meine Kosmetiktasche und den Rest meiner Badezimmer Bestückung.

Die Tür zu dem kleinen Bad stand noch offen und ich hüpfte über das Chaos auf dem Boden in den winzigen Raum hinein. Über dem Waschbecken hing ein vergilbter und verdreckter Spiegel, in dem ich mich einen Moment lang betrachtete. Meine Haare waren immer noch zu einem unordentlichem Dutt hochgebunden, doch einige Strähnen hatten sich gelöst. Ich wirkte müde, aber nicht, wie ich befürchtet hatte, übermüdet. Erleichtert wand ich den Blick ab und dreht den Wasserhahn auf. Entgegen meine Erwartungen funktionierte der Hahn einwandfrei. Ich ließ ihn kurz laufen um dreckiges Wasser erst durchlaufen zu lassen, dann wusch ich mein Gesicht und meine Hände, bevor ich ihn wieder ausstellte. Das sollte reichen. In Windeseile zog ich mir eine neue Hose und ein anderes Oberteil an, dann holte ich mein Handy hervor und suchte im Netz nach Cafés in der Nähe, bei denen ich meinen Hunger und meine Kaffeesucht stillen könnte. Ich fand nur einen Eintrag auf Facebook, der schon acht Jahre alt war, in dem eine Frau von ihrem Ausflug in das hübsche Dorf berichtete. Sie erwähnte ein magisches Café, in dem es das leckerste Gebäck Kanadas geben soll. Leider hatte sie den Straßenladen nicht genannt, aber das Geschäft würde ich bestimmt auch so finden.

Eilig schnappte ich mir meine Tasche und verließ das Haus. Mein Auto ließ ich stehen, die „Stadt" war so klein, hier konnte ich alles zu Fuß erreichen. Im Gehen zog ich mir den Mantel über, da die frische Morgenluft doch etwas kühl war. Ein Mann der mit seinem Hund unterwegs war kam mir entgegen und ich spielte mit dem Gedanken ihn nach dem Weg zu dem Café zu fragen, aber sein grimmiger Blick hielt mich davon ab. Als ich an ihm vorbei lief, spürte ich seinen Blick auf mir, doch ich hatte das dringende Bedürfnis ihn ja nicht anzusehen. Etwas in mir sagte mir, dass es das beste wäre. Stattdessen betrachtete ich die Fassaden der teilweise krummen, eng aneinander gereiten Reihenhäuser. Sie waren zu vielen Teilen bewachsen und einige Fensterläden waren bunt bemalt. Ich musste es mir einbilden, doch man konnte förmlich spüren, wie die Energie der Häuser nur so übersprudelte. Alles passte stimmig zusammen und ergab ein schönes und doch wundersames Bild, dass man nicht erwarten würde, wenn man das erste Mal von der kleinen Stadt Verdant Hollow hörte.

Ich erreichte eine Straßenecke und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass das Café, welches ich suchte, direkt vor mir in der winzigen Nebenstraße lag. Über der halbgeöffneten Ladentüre hing ein pastellgrünes, rosafarbenes Schild mit der Aufschrift Verdant Café. Das Haus hatte hellrosafarbene Fensterläden und eine pastellgrüne Holztüre. Vor dem Eingang standen Blumenkübel und Zeitungsständer, die prall gefüllt waren und man hörte fröhliche Musik aus dem inneren des Hauses. Rasch überquerte ich die Straße und trat durch die Tür hinein. Ein wunderbarer Duft von leckeren Brötchen, Kuchen und Kaffee empfing mich und umhüllte mich sobald ich das Ladeninnere betreten hatte. Überrumpelt blieb ich stehen und blickte mich um. An den Wänden waren Regale angebracht, in denen zwischen Unmengen an Büchern auch Blumentöpfe, Gießkannen und Fotos ihren Platz fanden. An den übrigen Stellen hingen bunt gemalte Bilder, die dem Raum ein außergewöhnliches Flair gaben. Mehrere Tische samt Stühlen standen herum, die die Kunden zum hinsetzten und bleiben aufforderten. Kein Möbelstück glich dem anderen.

Fasziniert sah ich zu dem Tresen, hinter dem eine hochgewachsene Frau erschienen war. Sie wirkte schon recht alt, doch keines Falls wirkte sie eingefallen wie meine Nachbarin in New York, nein sie sprudelte über vor Energie und Lebenskraft. Sie hatte einen blonden Lockenkopf und ein bezauberndes Lächeln. Als sie mir entgegen strahlte konnte ich nicht anders als zurück zulächeln. „Guten Morgen! Was für ein schöner Tag, nicht war?", begrüßte sie mich, während sie sich über die rosafarbene Schürze strich. „Guten Morgen!", erwiderte ich, „Das Wetter ist gut, ja." Sie beließ es dabei. „Was kann ich für Dich tun?", fragte sie mit diesem bezauberndem Lächeln auf den Lippen.

Ihre Stimme war angenehm und sanft. Im Hintergrund dudelte weiterhin fröhlich Musik und als wäre die Stimmung gar zu schön um wahr zu sein grummelte mein Magen laut und deutlich. Die Frau schmunzelte leicht und ich konnte ihren Namen auf der Schürze erkennen. Evelyn. „Ich habe mich gefragt, ob es hier Frühstück gibt. Vielleicht einen Kaffee...", ich zuckte ratlos mit den Schultern.

Normalerweise trat ich souverän vor Menschen auf. Ich bestellte in einem Starbucks, wenn es stressig und voll war, wenn ich saubere Kleidung trug, gestylt war und ich mich sicher fühlte. Gerade aber stand ich in einem Café in dem außer mir niemand war, trug einen ausgewaschenen Pullover und hatte seit vier Tagen nicht mehr geduscht. Und trotz allem fühlte ich mich nicht unwohl, obwohl dies noch der Fall gewesen war bevor ich das Haus betreten hatte.

„Natürlich haben wir Frühstück! Brötchen, belegt oder unbelegt, Gebäck und Pancakes!", sie überlegte kurz, dann nickte sie, als wolle sie sich selbst zustimmen. Sie wank mich etwas näher heran und deute auf die Waren, die hinter einer Glasscheibe im Tresen lagen. Während ich sie betrachtete sprach sie weiter: „Wir hätten statt einem Kaffee auch hervorragende Tees. Soll ich Dir einen machen?" Fragend sah sie mich an. Überrascht blickte ich auf. „Ähm, ja gerne...", brachte ich hervor, obwohl mir ein Kaffee gerade lieber wäre und betrachte wieder das vor mir liegende Gebäck. „Ich würde davon eins nehmen", ergänzte ich und deutete auf ein großes, mit Salat und Tomaten belegtes Bagel. Sie nickte und stellte einen Teekessel auf den Herd. Das hatte ich Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wer nutzte denn heute noch einen Teekessel? „Zum mitnehmen oder zum hier essen?", wollte sie wissen und sah mich mit ihren hellblauen Augen an. „Zum mitnehmen", antwortete ich automatisch und bereute es sofort wieder. Das Café war wirklich niedlich und vor allem, hier gab es Tische. Bei dem Haus, was zukünftig wohl mein „Zuhause" sein würde, existierte kein einziges Möbelstück. Aber ich war es so gewohnt das Essen mit zunehmen, dass ich garnicht mehr nach dachte. Evelyn nickte und packte mein Bagel ein, während der Teekessel zu fiepen begann. ich stellte meine Trinkflasche auf den Tresen, die zufälligerweise auch für Heißgetränke gemacht war. Normalerweise trank ich meinen Kaffee daraus, heute würde es wohl ein Tee werden.

Während die Dame herumhantierte öffnete sich eine Tür hinten im Laden und eine Mädchen, ich schätzte sie auf mein Alter, mit den selben Locken wie Evelyn kam in den Laden. Sie trug ein weißes Sommerkleid, welches beim gehen munter hin und her wippte. Ihre goldblonden Locken hingen ihr bis zur Brust und umspielten ihr Gesicht. „Guten Morgen!", flötete sie motiviert und musterte mich von oben bis unten, während sie hinter den Tresen huschte. „Morgen", brachte ich heraus und beobachtete, wie sie sich ebenfalls eine dieser rosafarbenen Schürzen umband. Sie drehte sich wieder zu mir und stellte fest: „Du bist neu hier." Ich nickte leicht und wiegte meinen Kopf hin und her und erklärte: „Ich habe hier ein Haus geerbt. Mal sehen ob ich hier bleibe...", naja, nach New York konnte ich nicht mehr. Sicherlich war die Wohnung bereits neu vermietet. Sie lächelte und nickte wissend.

„Du bist die Moondew oder?", fragte sie. Evelyn machte ein für mich nicht deutbares Geräusch. Woher wusste das Mädchen das? Ihr Wissen ließ mich erschaudern, obwohl ich nun eigentlich wusste, dass man in dieser Stadt nicht für sich bleiben konnte. „Ja", antwortete ich nur und trat von einem Fuß auf den anderen. Die junge Frau setzte an etwas zu sagen, doch Evelyn drehte sich im selben Moment zu mir und fragte: „Möchtest du noch etwas dazu?" Ich verneinte und zog mein Portemonnaie aus meiner Tasche. „Mit Karte oder Bar?", fragte das Mädchen mit den blonden Locken und machte einen Schritt zur Kasse. „Gerne Karte", antwortete ich und hob diese hoch.

Während ich zahlte sagte sie: „Ich bin übrigens Siri!" Sie strich die Schürze glatt und trommelte mit ihren Fingern auf die Holzplatte des Tresens, während wie mich anstrahlte. „Hi", grinste ich leicht. Sie strahlte zurück. Ihre Fingerspitzen waren schwarz, fast so, als wären sie verbrannt. Aber das war unmöglich. „Wenn du Hilfe mit irgendwas brauchst, dann sag bescheid, du weißt ja wo du mich findest.", lächelte sie, „Ich kenne mich mit Einrichtung und Dekoration aus." Einerseits war ich froh über dieses Angebot, andererseits war ich auch skeptisch, denn wir kannten uns nichtmal und sie könnte auch eine Verrückte sein. „Danke, ich komme drauf zurück!", bedankte ich mich trotzdem und nahm meine Flasche entgegen, die Evelyn mir über den Tresen reichte. Dann trat ich einen Schritt nach hinten und verabschiedete mich: „Danke sehr! Noch einen schönen Tag, man sieht sich!" „Auf jeden Fall!", sagte Siri und lächelte mir zu als ich mich umdrehte und hinaus ging.

Die Tür schlug hinter mir zu und als ich nach draußen trat atmete ich tief durch. Was war das? Das Mädchen, Siri, wäre nicht einfach so nett zu mir gewesen, oder doch? Und woher wusste sie, wer ich war, beziehungsweise, wie ich mit Nachnamen hieß? Ich schüttelte mich kurz und dann machte ich mich auf den Rückweg.

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