Prolog - von einem nicht so heiteren Abend
Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss und sie atmete erleichtert auf.
Sie hatte es wieder einmal geschafft, sich unbemerkt davonzustehlen. Rasch trugen sie ihre Schritte über die Pflasterstrasse durch die engen Gassen.
Von weit her schwebte Gelächter durch die Häuserschluchten und vermischte sich mit dem Tropfen einer undichten Wasserleitung.
Phoebe atmete tief ein. Es roch nach Freiheit wie jedes Mal, wenn sie sich spät abends davonschlich. Sie zupfte ihre Mütze zurecht, sodass keine Strähne hervorlugte und knöpfte ihre abgenutzte Jacke zu. Es war einfacher und sicherer, als sich als Junge auszugeben, zumal man sich dann frei bewegen konnte und keine Röcke hatte, über die man bei jedem Schritt stolpern konnte.
Je weiter sie lief, desto lauter wurde die Musik und ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. 'Der schwarze Rabe' war immer schon, von Anfang an, ihre Lieblingstaverne gewesen. Sobald man eintrat, wurde man von einer Welle Heiterkeit überrollt und konnte sich an irgendeinen Tisch dazusetzen, man war überall willkommen.
Schliesslich war Phoebe nur noch einige Dutzend Schritte von der Eingangstür entfernt, als sie kurz in eine Seitengasse trat und ihre Verkleidung noch einmal überprüfte, damit sie auch dieses Mal unbehelligt blieb.
Ihre Hose war ihr viel zu gross und schon wieder ein wenig heruntergerutscht, sodass Phoebe den Gürtel ein Loch enger zog und zufrieden wieder aufschaute.
Plötzlich hörte sie einen Laut aus der Dunkelheit der Gasse und blieb unschlüssig stehen. Es klang wie ein verzweifelter Hilferuf.
Aber nach kurzzeitigem Hadern mit sich selbst beschloss sie mit allem Mut, den sie aufbrachte, weiter in die dunkle Gasse zu treten. Keine Strassenlaterne erleuchtete den Weg und sie tastete sich vorsichtig vorwärts.
Auf einmal ertönte wieder ein erstickter Schrei, dann war alles unheimlich ruhig.
Phoebe bog um eine Hausecke und blieb erstarrt stehen. Ein Paar Augen richtete sich sofort auf sie und der Mann bedeutete ihr, ruhig zu sein.
Ungerührt liess er seinen Konkurrenten fallen, mit dem er gerade noch gerungen hatte und ein metallischer Geruch stieg Phoebe in der Nase. Sie wagte einen Blick zu dem einen Mann am Boden und erschrak. Aus seiner Brust ragte ein Dolch, der dem Opfer wohl mit aller Wucht durch die Rippen gerammt worden war.
Phoebe richtete ihre weit aufgerissenen Augen wieder auf den Mann der ihr immer näher kam und erschauderte. Er trug ein unheimliches Lächeln auf dem Gesicht und sie wusste instinktiv, dass das nichts Gutes bedeutete.
Hastig ging sie ein paar Schritte zurück, stolperte jedoch und flog auf ihr Hinterteil auf dem sie sofort weiter weg rutschte.
Der Mörder, sie war zur Erkenntnis gekommen, dass dieser Mann einer sein musste, hatte sie bereits erreicht, sein Schatten ragte bedrohlich über ihr.
Ihr Herz klopfte hart gegen ihren Brustkorb und sie fürchtete, es möge nicht mehr nachkommen, das Blut wie wild durch ihre Adern zu pumpen.
"Kleiner, das bringt doch nichts", meinte der Mann und lächelte immer noch, "komm, wir bringen es hinter uns."
"Was?", fragte Phoebe und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte.
"Ach, komm schon, ich kann dich doch nicht leben lassen. Es wird auch nicht wehtun, Junge, kann einfach keine Zeugen gebrauchen.", meinte der Mörder und zog ein Messer aus seinem Mantel.
Sie zitterte immer stärker und fühlte ihren Puls rasen. Warum genau bin ich heute in diese Gasse getreten? Warum musste ich nur so neugierig sein?, fragte sie sich selbst anklagend und schaute an der bedrohlichen Statur des Mannes vorbei in die Gasse. Immerhin konnte sie ihre letzten Sekunden anders verbringen als gegen eine Hauswand gepresst und auf ihren Mörder starrend.
Aus dem Augenwinkel nahm sie plötzlich eine Bewegung wahr und sie blinzelte, während sie versuchte, unauffällig weiter in diese Richtung zu schauen. Und tatsächlich. Ein Schatten löste sich aus der Hausmauer gegenüber und schwebte mit leichten, lautlosen Schritten über die Pflastersteine.
Als er direkt hinter dem Rücken des Mörders stand, hob er eine Faust und liess sie gezielt auf den Schädel des Mörders knallen. Dieser wurde in seinem Monolog, warum er Phoebe umbringen musste, warum er ja überhaupt keine Wahl hatte, unsanft gestoppt und sackte lautlos in sich zusammen.
Phoebe rührte sich einige Sekunden lang nicht, dann wischte sie sich die Schweissperlen zitternd von der Stirn und schaute zu ihrem Retter auf.
Dieser verstand ihre stumme Frage und streckte seine Hand aus.
"Charles Wright, bow street runner", stellte er sich vor, während er Phoebe aufhalf und dann in einer eleganten Geste einen Kuss auf ihren Handrücken hauchte.
"Sie haben gerade dabei geholfen, einen Mörder zur Strecke zu bringen und ihn in die Hände der Gerechtigkeit zu übergeben, miss. Sie können stolz auf sich sein.", meinte er, während er seelenruhig ein Seil aus seiner Tasche zog und den Beinahe-Doppelmörder fachgerecht fesselte.
"Dürfte ich Sie bitten, mit ins Hauptquartier zu kommen? Man wird dort Ihre Aussage aufnehmen.", fuhr ihr Retter fort und drehte sich zum Gehen um.
Da wurde Phoebe plötzlich bewusst, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Er hatte erkannt, dass sie eine Frau war und bat sie nun auf den Posten, um ihre Aussage aufzunehmen.
War ihre Verkleidung wirklich so schlecht gewesen? Sie war bis jetzt schliesslich noch nie aufgeflogen. Und sie stellte sich einw noch viel wichtigere Frage:
Wie sollte sie erklären, was sie, eine Dame, mitten in der Nacht in einem Viertel wie diesem getrieben hatte?
Phoebe seufzte. Ein schönes Schlamassel.
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